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Keime als Schutz vor Allergien
Ins Leben mit anderen

In einem engen Zeitfenster kurz nach der Geburt kommt es zu einem ausgeklügelten Wechselspiel: Bakterien prägen die Zellen des Immunsystems unwiderruflich. Wenn das Zusammenspiel von Mensch und Mikrobe in dieser sensiblen Phase gestört wird, hat das lebenslange Folgen. Zurück in den Kuhstall, raten Experten.

Von Christine Westerhaus |
    Ein kleiner Junge besucht Kühe im Stall.
    Wie kann man immer mehr Allergien und Autoimmunkrankheiten wirkungsvoll begegnen? (imago/Michael Westermann)
    Der Mensch lebt nicht allein. Sein Körper ist besiedelt von Millionen nützlicher Bakterien. Im Darm, im Mund, auf der Haut – sogar in der Lunge sitzen winzige Helfer und produzieren Stoffe, die der Mensch braucht. Schon gleich nach der Geburt überziehen sie den gesamten Körper.
    In jüngster Zeit verdichten sich die Hinweise, dass wir sehr empfindlich auf diese ersten Siedler reagieren. Sie entscheiden, ob wir gut gerüstet ins Leben gehen. Oder aber mit einem erheblichen Risiko für Allergien und Autoimmunerkrankungen.
    Miteinander von Mensch und Mikrobe
    "Dieses Konzept gewinnt, glaube ich, gerade sehr stark an Fahrt. Es gibt sehr gute experimentelle Daten, die sagen, dass die Anwesenheit von Bakterien einen ganz starken Einfluss hat auf die Prägung, auf die Reifung des Immunsystems."
    Mathias Hornef ist Professor für medizinische Mikrobiologe an der RWTH Aachen. Seit vielen Jahren erforscht er das Zusammenspiel zwischen neugeborenen Säugetieren und ihren Mikroben. Immer deutlicher zeichnet sich ab: In einem engen Zeitfenster kurz nach Geburt kommt es zu einem ausgeklügelten Wechselspiel. Bakterien prägen die Zellen des Immunsystems unwiderruflich und drängen sie in eine bestimmte Richtung. Wird das Miteinander von Mensch und Mikrobe in dieser sensiblen Phase gestört, kann das lebenslange Konsequenzen haben.
    Eine Mutter und ihr Baby betrachten eine Herde junger Schweine.
    Eine Mutter und ihr Baby betrachten eine Herde junger Schweine. (imago / K-P Wolf )
    Agnes Wold von der Universität Göteborg: "Wir leben heutzutage halb steril in Schweden. Unser Essen ist steril und auch die Babynahrung. Wir leben ohne Tiere und haben nur wenige Geschwister, keine engen Wohnungen. Und gleichzeitig sehen wir, dass Kinder aus armen Ländern, die in großen Familien aufwachsen, viel seltener Allergien bekommen."
    Mathias Hornef: "Und das ist, glaube ich, das, was wir jetzt versuchen zu verstehen. Was sind die Mechanismen?"
    Unerklärliche Zunahme von Erkrankungen
    Heuschnupfen, Asthma, aber auch Rheuma oder Multiple Sklerose - warum nehmen diese Erkrankungen in der westlichen Welt so deutlich zu? Die Zusammenhänge waren unklar, als Erika von Mutius vom Haunerschen Kinderspital der LMU München in den Neunziger Jahren mit ihren Nachforschungen begann.
    "Wir hatten schon vorhergesehen, dass in Häusern, wo mit Holz und Kohle geheizt wird, dass da ein Schutz vor Heuschnupfen und auch vor Asthma und Allergie besteht. Und wir haben uns das immer nicht erklären können."
    Ein Schularzt lieferte den entscheidenden Hinweis.
    "Das war ein Kollege aus der Schweiz. Und dem ist immer aufgefallen, dass in seiner Schule, in der er immer Allergietests bei den Kindern gemacht hat, dass Kinder, die auf dem Bauernhof leben, keinen Heuschnupfen haben."
    Von Mutius hatte damals Fragebögen verschickt an Menschen in der Stadt und auf dem Land. Den änderte sie daraufhin.
    "Und mit dieser zusätzlichen Frage war es klar, dass die, die mit Holz und Kohle heizen, die Bauern sind und dass der Effekt nichts mit der Heizart zu tun hat, sondern mit der Tatsache, dass das Bauernkinder sind. So geht die Wissenschaft manchmal."
    Der "Kuhstall-Effekt"
    1999 startete die internationale Arbeitsgruppe die sogenannte ALEX-Studie, in der mehr als 3.000 Kinder in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht wurden. Sie belegt eindrücklich, dass das Leben auf dem Bauernhof Kinder tatsächlich schützt. Später zeigt sich, dass der "Kuhstall-Effekt" auf der ganzen Welt funktioniert.
    "Es gibt mittlerweile glaube ich über 40 Studien, die das weltweit gezeigt haben, solange das traditionelle Bauernhöfe sind, sieht man den Effekt überall."
    Je traditioneller die Landwirtschaft, umso stärker der Schutz. Die Amish People in den USA beispielsweise kennen keine Allergien. Ein amerikanischer Kollege wartete umsonst, als er in ihrem Siedlungsgebiet eine Allergiesprechstunde etablieren wollte.

    "Das Problem war aber, dass da nie jemand kam, beziehungsweise die, die gekommen sind, die hatten keine Allergie."

    Die Amischen leben sehr traditionell und pflügen ihre Äcker noch mit Pferdegespann. "Die betreiben Landwirtschaft so wie wir vor dem Ersten Weltkrieg."
    Ganz anders die Hutterer. Eine Religionsgemeinschaft, die wie die Amischen vor dem Ersten Weltkrieg in die USA ausgewandert sind. "Die Hutterer haben diese Riesen-Farmen, wo sie Truthähne oder Schweine, oder Kühe haben." Eine sehr moderne Landwirtschaft also. "Und das haben wir dann benutzt und haben die Amischen mit den Hutterern verglichen, weil die genetisch eigentlich identisch sind."
    Ein Bauer der Religionsgemeinschaft Amish People bei der Heuernte
    Ein Bauer der Religionsgemeinschaft Amish People bei der Heuernte (imago/Frank Sorge)
    Es zeigte sich: Während die Hutterer ähnlich häufig von Allergien heimgesucht werden wie Stadtmenschen, bleiben die Amischen verschont.
    "Diese Kinder, die hüpfen im Stall rum, so wie das bei uns heute auch ist. Und diese Umgebung, dieses Umfeld prägt eben die Immunantwort dieser Kinder substantiell. Das heißt, das sind wirklich große Unterschiede zu Kindern, die eben in einem industrialisierten landwirtschaftlichen Betrieb aufwachsen wie die Hutterer Kinder.
    Zeitreise ins Vor-Allergische-Zeitalter
    Den Forschern fiel auf, dass die Amischen noch seltener Allergien entwickeln als Bauernkinder hierzulande. Als wäre die Zeit vor 150 Jahren stehen geblieben – im Vor-Allergischen Zeitalter.
    "Es ist eine Zeitreise, und das ist das, was ich so spannend fand. Es ist wirklich - man fühlt sich erinnert an Bilderbücher, die man ganz früher als Kind hatte. Diese unglaublich schönen Bilder, wo die vierspännig und sechsspännig eggen und pflügen. Das sieht natürlich unglaublich schön aus. Dieser ganze Lebensstil, wenn sie da in den Keller herunter gehen, die wecken Gemüse ein. Das sind so Sachen, das ist eine Zeitreise. Und das ist auch das was ich so unglaublich spannend finde. Klar, für die Allergieforschung ist es spannend, aber es ist auch auf einem ganz anderen menschlichen Niveau auch spannend, zu sehen, wie Menschen früher gelebt haben, die sich diesen Lebensstil beibehalten haben. Das ist einfach muss ich sagen absolut faszinierend."
    Seit etwa zehn Jahren ist klar, dass der Schutz vor Allergien auf zwei Faktoren beruht:
    "Das eine ist der Aufenthalt im Stall, also am besten im Kuhstall, und das andere ist der Konsum der eigenen, nicht weiter verarbeiteten Kuhmilch." Und auch das haben die Bauernhofstudien belegt: Das Timing ist wichtig: Der Kontakt wird kurz nach Geburt gebraucht, vermutlich sogar schon im Mutterleib.
    "Wir wissen, dass während der Schwangerschaft, wenn die Mutter auf einem Bauernhof aktiv arbeitet, dass das Kind bei Geburt eine etwas andere Immunreaktion hat als Kinder, deren Mütter nicht auf dem Bauernhof, sprich im Stall, gearbeitet haben. Also die Prägung fängt ganz früh an, sie geht weiter über die ersten Lebensjahre. Also es ist nicht alles geschehen, aber die Kinder, die von Anfang an im Stall waren, die Mutter schon dort gearbeitet hat auch diese Milch mit konsumiert haben, dass die, wenn die immer wieder dem ausgesetzt sind, dass die den allerbesten Schutz haben."
    Ein Milchbauer bereitet eine Kuh zum Melken vor.
    Ein Milchbauer bereitet eine Kuh zum Melken vor. (dpa-Bildfunk / Peter Steffen)
    In frühester Kindheit setzen sich bestimmte Zellen des Immunsystems intensiv mit Mikroben auseinander und werden dadurch unwiderruflich geprägt. In der industrialisierten Welt ist diese mikrobielle Eroberung zunehmend gestört. Viel zu häufig gerät die körpereigene Abwehr aufs falsche Gleis, meint Mathias Hornef.
    "Ich glaube schon, dass das Immunsystem so wie wir mit unserem Lebensstil heute nicht immer zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Umfang die Signale bekommt, die es eigentlich gewöhnt ist zu bekommen. Also die es eigentlich nach der Evolution bekommen sollte - die sollten da sein. Es hat niemals sich jemand vorstellen können, dass man im Krankenhaus zur Welt kommt. Vor 10.000 Jahren, da wurde man irgendwo in der Höhle geboren und das war's."
    Irgendetwas hat sich in den letzten Jahrzehnten ganz grundlegend verändert, und mit dem Verständnis der mikrobiellen Prägung öffnet sich ein Weg für Korrekturen: In Deutschland leidet inzwischen fast jeder Vierte an einer Allergie. Die meisten an Heuschnupfen oder Neurodermitis. Doch auch Asthma kommt häufiger vor. Bei Multipler Sklerose steigen die Zahlen seit den achtziger Jahren dramatisch an, chronisch entzündliche Darmerkrankungen haben sich seit 1985 mehr als verdoppelt. Die richtige Bakterienmischung zur rechten Zeit könnte den Trend stoppen.
    Langzeitstudie der Darmflora
    Schon Ende der Neunziger Jahre beginnen Forscher, die Entwicklung der Darmflora bei Kindern von Geburt an zu dokumentieren. In regelmäßigen Abständen sammeln sie Stuhl- und Speichelproben und analysieren die Bakteriengemeinschaft darin. Das Projekt läuft bis heute.
    Am Institut für Bakteriologie der Göteborg Universität holt Ingegerd Adlerberth gerade ein paar runde Plastikschälchen aus dem Kühlschrank. Der Boden dieser durchsichtigen Dosen ist mit einem gelblichen, geleeartigen Nährmedium ausgegossen.
    Ingegerd Adlerberth nimmt sich eine Pipette, saugt eine verdünnte Stuhlproben-Lösung auf, verteilt sie auf die Plastikschälchen. Fast 150 Kinder liefern hier regelmäßig ihre Proben ab. Adlerberth will wissen, was darin so alles lebt.
    "Wir schauen uns die Mikroben im Mund und im Darm an. Wir geben also die Proben in verdünnter Form auf diese Platten und dann wachsen die Bakterien darin. Und weil sich unterschiedliche Bakterien auf jeweils anderen Nährmedien wohlfühlen, bekommt man eine erste Selektivität."
    Normalerweise ist das Nährmedium auf dem Boden dieser Züchtungsschalen hellgelb gefärbt. Doch bei dieser schimmert es eher schwarz.
    "Diese Platte hier ist zum Beispiel gut für Enterokokken geeignet, ein gewöhnliches Bakterium bei Kindern. Wenn diese Bakterien hier auf der Agarplatte Kolonien bilden, wird das Nährmedium schwarz, weil die Bakterien einen Stoff im Nährmedium umwandeln."
    Forscher nennen das Nährmedium "Agarplatte”. Eine ist rötlich gefärbt. Sie sieht merkwürdig gelöchert aus.
    "Hier in dieser Platte befindet sich Blut. Es gibt Bakterien, die rote Blutkörperchen abbauen. Und dort, wo sie Kolonien bilden, verschwindet die rote Farbe aus dem Nährmedium."
    Schnuller ablecken oder nicht?
    Milliarden an Mikroben vermehren sich hier, bis die Göteborger Forscher wissen, welche Bakterienstämme genau sich in den Stuhl- und Speichelproben schwedischer Babys tummeln. Die Wärmekammer ist 37 Grad Celsius warm und recht feucht. Ideale Wachstumsbedingungen.
    "Viele Bakterien lassen sich gar nicht züchten oder sie brauchen sehr spezielle Wachstumsbedingungen. Deshalb machen wir weitere Tests, wie zum Beispiel Genanalysen, um wirklich zu wissen, welche Bakterien in einer Probe stecken."
    Agnes Wold und ihre Kollegin Ingegerd Adlerberth dokumentieren auch die Lebensbedingungen der Kinder:
    "In unseren Fragebögen an die Eltern der untersuchten Babys wollten wir zum Beispiel wissen, was sie mit dem Schnuller machen, wenn er auf den Boden fällt. Und etwa die Hälfte antwortete, dass sie ihn ablecken, bevor sie ihn dem Kind wieder in den Mund stecken. Viele fänden das ja total eklig, aber diese Kinder haben ein geringeres Risiko, bestimmte Allergien zu entwickeln. Und diesen Unterschied konnten wir immer noch sehen, als die Kinder schon acht Jahre alt waren. Das finde ich wirklich interessant."
    Ein weiterer Zusammenhang fiel den Schweden auf: "Kinder, die im Alter von einer Woche besonders viele verschiedene Bakterien im Darm haben, haben mit 1,5 Jahren seltener Allergien. Das haben auch andere Studien nachgewiesen, insgesamt fünf verschiedene Untersuchungen."
    Vielfältige Bakteriengemeinschaft
    Je früher sich der Mensch von seiner natürlichen Umgebung entfremdet, desto größer wird die Gefahr, dass sein Immunsystem aufs falsche Gleis gerät. Tatsächlich finden Forscher bei Kindern, die per Kaiserschnitt auf die Welt kommen, andere Mikroben, als bei vaginal entbundenen. Auch zwischen gestillten und Flaschenkindern gibt es Unterschiede. Zudem hat sich gezeigt, dass Kleinkinder, die häufig Antibiotika bekommen haben, länger brauchen, um eine stabile und vielfältige Bakteriengemeinschaft anzusiedeln. Und bestimmte Keime fehlen in der Bakteriengemeinschaft von Babys in industrialisierten Ländern ganz.
    "Wir haben nachgewiesen, dass schwedische Kinder ihre Normalflora heutzutage viel später etablieren als noch vor 30, 40 Jahren. Viel später auch, als Kinder aus ärmeren Ländern wie Pakistan beispielsweise, mit denen wir die Daten verglichen haben. Gleichzeitig weiß man, dass Kinder in Schweden viel häufiger Allergien entwickeln als in ärmeren Ländern."
    Ein kleines Mädchen auf einer Wiese in der Nähe von Duisburg
    Ein kleines Mädchen auf einer Wiese in der Nähe von Duisburg (AP Archiv)
    Es fällt auf, dass Kinder in der westlichen Welt nicht nur an Asthma oder Heuschnupfen leiden. Sie entwickeln auch häufiger Allergien gegen Lebensmittel. Eier, Kuhmilch, Nüsse – viele Jahre lang wurden Mütter davor gewarnt. Frühestens nach dem ersten Lebensjahr sollten Eltern ihren Babys diese Lebensmittel verabreichen, um Allergien zu verhindern. Sechs Monate ausschließliches Stillen galt als optimal, empfohlen sogar von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Doch dieses Vorsichtsprinzip habe genau das Gegenteil bewirkt, meint Agnes Wold.
    "Diese Empfehlung war komplett falsch. Absolut! Ich habe mal nachgerechnet: In Schweden sind deswegen wahrscheinlich ein paar Tausend Kinder zusätzlich pro Jahr allergisch geworden. Diejenigen, die diese Empfehlungen gegeben haben, wussten offenbar nichts über Allergien. Sie haben sich gedacht: Wenn ich nicht mit einem Lebensmittel in Kontakt komme, kann ich auch keine Allergie dagegen entwickeln. Dabei weiß man schon lange, dass Menschen allergisch gegen Katzen werden können, auch wenn sie nie ein Haustier hatten. Oder gegen Kuhmilch, obwohl sie voll gestillt wurden."
    Der Sinn der Saugphase
    Das Dogma, Babys sechs Monate lang ausschließlich zu stillen, hält Agnes Wold für überholt. Ihr Standpunkt war noch vor kurzem umstritten. Doch dann bekam sie Rückendeckung von einer viel beachteten Untersuchung. Der britische Allergologe Gideon Lack wies in der so sogenannten LEAP-Studie nach, dass Kinder Allergene besser tolerieren, wenn sie schon sehr früh im Leben hohe Dosen davon verabreicht bekommen.
    "Er hat eine Theorie, die ich sehr schlau finde. Sie besagt, dass Kinder gegen Proteine allergisch werden, weil sie ganz geringe Mengen davon über die Haut aufnehmen. Allergie-auslösende Proteine sind in sehr vielen Alltagsprodukten enthalten: Ei in Shampoos, Erdnussöl in Haarprodukten und so weiter. Über die Luft können diese Eiweiße auf die Haut der Kinder gelangen und dort eine heftige Reaktion auslösen. Und die Haut ist sehr gut darin, immunologische Reaktionen auszulösen. Das weiß man zum Beispiel von Impfungen. Im Gegensatz zum Darm, der ja mehr auf Toleranz gegenüber Lebensmitteln ausgerichtet sein muss. Es ist kein Zufall, dass Kleinkinder in einem bestimmten Alter an allem saugen und sich alles in den Mund stecken. Wenn man über den Darm zu wenig Stimuli bekommt, ist es für das Immunsystem schwer, diese später zu tolerieren."
    "Eine Studie reicht aus, um 20 Jahre Blödsinn zu widerlegen"
    Gideon Lack und seine Kollegen hatten in der LEAP-Studie 640 Babys zwischen vier und elf Monaten entweder Erdnuss-Proteine in hohen Dosen verschrieben oder die Eltern gebeten, diese potenten Allergene vollkommen zu vermeiden. Alle Babys hatten zu Studienbeginn ein erhöhtes Allergierisiko, da sie bereits überempfindlich gegenüber anderen Proteinen waren. Als die Kinder fünf Jahre alt waren zogen die Forscher Bilanz. Von den Kindern, die mehrmals pro Woche Erdnussriegel oder Erdnussbutter verabreicht bekommen hatten, hatten nicht mal zwei Prozent eine Allergie dagegen entwickelt. Unter jenen, die als Babys nie Erdnüsse bekommen hatten, waren es fast 14 Prozent.
    "Das ist wirklich so interessant: Eine Studie reicht aus, um 20 Jahre Blödsinn zu widerlegen. Dieses Hin- und Her: 'Erst Mohrrüben vorsichtig zufüttern, dann Kartoffeln' – das ist alles Quatsch. Im Anschluss an diese Untersuchung gab es eine weitere Studie an Kindern zwischen drei und sechs Monaten, die entweder voll gestillt oder ab dem dritten Monat zugefüttert wurden. Mit potenziellen Allergenen wie Milch, Ei, Fisch und Erdnüssen. Und auch hier hat man gesehen, dass das Risiko für Allergien umso geringer war, je früher man bestimmte Proteine zugefüttert hat."
    Die US-amerikanischen Behörden waren die ersten, die darauf reagiert haben. Dort heißt es jetzt: Eltern sollten ihren Kindern möglichst früh Erdnüsse verabreichen. Auch in Finnland wurden in diesem Jahr die Richtlinien geändert. Dieser Paradigmenwechsel hätte schon viel früher kommen müssen, meint Agnes Wold. Doch die Forschung in diese Richtung sei jahrelang systematisch blockiert worden.
    "Es steht ja so in den Empfehlungen und das bedeutet, dass niemand auch nur eine einzige Krone an Forschungsgeldern bewilligt bekommen hätte, um das genauer zu erforschen. Die WHO hatte ja schon lange festgelegt, dass sechs Monate ausschließliches Stillen perfekt sind. Hätte es die LEAP-Studie nicht gegeben, würden wir immer noch hier sitzen und Lebensmittel erst sehr spät einführen."
    Eine Kuh schaut in einem Stall hinter vier mit Milch gefüllten Flaschen hervor.
    Eine Kuh schaut in einem Stall hinter vier mit Milch gefüllten Flaschen hervor. (Karl-Josef Hildenbrand, dpa picture-alliance)
    Der schwedische Bauernhof Gunnagård. Etwa 40 Kilometer östlich von Göteborg. Alles hier ist Bio, auch drinnen, im Kuhstall. Ungespritztes Futter, keine Antibiotika. Die Kälber dürfen bei ihren Müttern bleiben und werden von ihnen mit lautem Muhen vor den fremden Besuchern verteidigt.
    Zwei Mal täglich trotten die 80 Kühe in eine automatische Melkanlage. Die Milch landet in einem großen Metall-Tank und wird dort gekühlt. Bauer Gunnar Niklason und seine Frau Ulla zapfen die Milch direkt aus dem Tank. Nicht pasteurisiert und nicht homogenisiert. Verkaufen dürfen sie diese Rohmilch nur an Nachbarn.
    Rohmilch schützt vor Allergien
    Gunnar Niklason: "Die Lebensmittelbehörde scheint einen Komplex zu haben, weil sich möglicherweise Bakterien in der Milch befinden. Wir finden Bakterien aber gut."
    Ulla Niklason: "Wir haben immer nur Rohmilch getrunken, und keines unserer vier Kinder ist allergisch."
    Seit 30 Jahren verkaufen wir Rohmilch an unsere Nachbarn. "Und darunter sind Kinder, die inzwischen 25 sind und ihr Leben lang Rohmilch getrunken haben. Und keiner von ihnen hat eine Allergie."
    Rohmilch schützt vor Allergien. Das haben Erika von Mutius und ihre Kollegen in den Bauernhof-Studien eindrücklich gezeigt. Doch in Deutschland darf sie so nicht im Laden verkauft werden. In der Molkerei wird sie erhitzt, um mögliche Bakterien darin abzutöten. Anschließend wird sie homogenisiert, die Fettmoleküle also unter hohem Druck gleichmäßig in der Flüssigkeit verteilt. Diese Prozedur tötet nicht nur mögliche Krankheitserreger.
    Mutius: "Wir sehen ganz klar, dass wenn diese Milch erhitzt wird, auch wenn die Bauern ihre eigene Milch abkochen, dann geht dieser Effekt verloren."
    Klar ist aber auch: Unbehandelte Milch kann gefährliche Keime enthalten. Listerien oder EHEC zum Beispiel. Ärzte raten Schwangeren von Rohmilch-Produkten ab. Und so suchen Forscher nach anderen Wegen, den Kuhstall-Effekt in die Stadt zu bringen.
    Hornef: "Ich denke da gehört noch viel Arbeit dazu, bis wir verstehen. Was machen wir denn jetzt am besten?"
    Mutius: "Wir wissen, es ist der Kuhstall. Natürlich können Sie jetzt nicht 'ne Kuh in eine städtische Wohnung einbringen. Aber da versuchen wir wirklich rauszukriegen: Was sind die einzelnen Elemente die sich dahinter verbergen?"
    Hornef: "Also wir versuchen das jetzt zu verstehen. Und wenn wir dann verstanden haben, dass entweder viel gut ist oder der und der, also das Bakterium A und das Bakterium B und C besonders wichtig ist, dann können wir versuchen, diese Bakterien zu geben. Und das wird ja auch schon gemacht. Man versucht ja zum Beispiel Probiotika zu geben, das ist ja eine Idee, die ist ganz alt, die geht zurück auf Leute im 19. Jahrhundert, die gedacht haben gerade Lactobazillen würden das Leben verlängern und so. Das Problem was man sieht ist, dass man beim gesunden erwachsenen Wirt mit Probiotika eigentlich nichts machen kann."
    Allergene aus Lebensmitteln oder Bakterien aus dem Kuhstall: Von klein auf sollte der Mensch seine Umgebung kennenlernen, am besten schon im ersten Lebensjahr.
    Mikrobenkuren für Säuglinge? Besser wäre: weniger Kaiserschnitte
    Noch zögern Forscher, in diesem frühen Alter einzugreifen und Säuglinge mit Mikrobenkuren zu behandeln. Welche soll man geben, welche nicht? Doch es geht auch einfacher:
    Ein Kaiserschnitt verhindert, dass Milchsäurebakterien aus der Vaginalschleimhaut das Baby besiedeln. Doch in Deutschland ist jeder zweite Kaiserschnitt unnötig. Die Empfehlungen sollen Ende des Jahres geändert werden: Schwangeren wird dann geraten, ihr Kind möglichst auf natürlichem Weg zur Welt zu bringen.
    Eltern könnten außerdem darauf verzichten, ständig Schnuller, Spielzeug oder den Küchenboden zu desinfizieren. Im Idealfall wachsen ihre Neugeborenen im Kuhstall auf.
    "Das gibt es jetzt hier im Bayerischen, dass Landwirte einen Kindergarten auf dem Bauernhof machen. Und das finde ich einfach eine super Idee. Weil ich glaube, dass es den Kindern Spaß macht, ich glaube, dass Kinder da auch lernen, wo Lebensmittel herkommen, was Tiere sind, wie ein solches Leben ist und wenn es vielleicht möglicherweise noch einen Schutz bietet vor Heuschnupfen-Entstehung, vor Allergieentstehung, bei Asthma ist es vielleicht mit drei Jahren schon ein bisschen spät - aber man kann ja auch Heuschnupfen und Allergien vermeiden, das wäre vielleicht durchaus eine Form, die man sich vorstellen kann."
    Ackerbau und Viehzucht – Jahrtausende lang hat der Mensch auf engstem Raum mit Tieren gelebt. Angefangen bei den Bauernhof-Studien zeichnet die Forschung inzwischen ein differenziertes Bild: Der Mensch lebt nicht allein. Jeden Schritt durch die Evolution hat er gemeinsam mit seinen Mikroben gemacht. Es deutet sich an, dass sie sogar sein Gehirn und sein Verhalten beeinflussen.
    Hornef: "Vor 10.000 Jahren, da wurde man irgendwo in der Höhle geboren und das war's. Wir können wieder zurück in die Höhle - ich glaube, das ist kein Problem. Bloß, dann ist die Lebenserwartung wieder bei 35 Jahren und wir haben eine Kindersterblichkeit von 50 Prozent und so weiter und sofort. Da will ja auch keiner zurück."
    Die moderne Lebensweise hat viele Menschen vor einem frühen Tod bewahrt. Zurück will niemand. Doch wir sollten den nützlichen Bakterien den Weg in unser Leben freihalten. Besonders am Anfang, wenn der Mensch am empfindlichsten ist.
    Hornef: "Ich glaube schon, dass wir uns vielleicht nicht zu weit entfernen sollten von den Lebensumständen, für die unser Körper gewissermaßen evolutionär gemacht wurde. Einfach aus dem Grund, dass unser Körper eine bestimmte Geschichte hat. Die Evolution ist so wie sie ist, und in 100 Jahren tut sich da nicht viel mit unserer Biologie und Physiologie, und dass wir das nicht ganz vergessen sollten."