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Kein amerikanischer Action-Polizist

Der Erfinder des italienischen Kommissars Montalbano, Andrea Camilleri, feiert seinen 80. Geburtstag. Über seine Erfolgsfigur sagt der Schriftsteller, er habe keinen amerikanischen Action-Polizisten erfinden wollen, sondern jemand, der seinen Kopf benutzt, um nach der Wahrheit zu suchen. Und nicht nach Gerechtigkeit, was etwas ganz anderes sei, so Camilleri.

Von Maike Albath | 06.09.2005
    Eine ruhige Wohnstraße im Norden Roms mit ein paar Palmen vor den gelb gestrichenen Gebäuden, gleich um die Ecke des staatlichen Rundfunks RAI. Hier ist Andrea Camilleri Zuhause. Seine Enkelkinder rennen über den Korridor, mehrere Telefone klingeln gleichzeitig, das Faxgerät spuckt Anfragen aus. Aber ohne Lärm kann der ehemalige Regisseur der RAI sowieso nicht arbeiten, weshalb ihn seine Frau als einen Kriegskorrespondenten bezeichnet. Ob seine schwindelerregende Auflagenhöhe dem heimischen Dauerchaos geschuldet ist?

    "Erfolg ist selbstverständlich etwas sehr Schönes. Und ehrlich gesagt, habe ich ihn mir im Schweiße meines Angesichts erschuftet. Schließlich schreibe und veröffentliche ich seit 25 Jahren, und die Rezensenten haben meine Bücher lange übersehen. Das war wie eine Pilzkrankheit. "

    Seinem schleppenden Tonfall mit den weichen Konsonanten merkt man die sizilianische Herkunft immer noch an. Andrea Camilleri ist seit jeher ein Mann der Superlative. Bis zu seiner Pensionierung brachte er 1300 Hörfunkproduktionen, 120 Theaterinszenierungen und 80 Fernsehspiele zustande. Camilleris Heimatstadt Porto Empedocle, unter dem Namen Vigàta mittlerweile sieben Millionen italienischen Lesern vertraut, ist bis heute sein literarisches Kapital. Hier ermittelt auch der eigenbrötlerische Commissario Montalbano.

    " Ich wollte nicht einen dieser amerikanischen Polizisten erfinden, die morgens um fünf einen Baseball an den Kopf kriegen, um sieben den ersten Schusswechsel überstehen, um acht jemanden verprügeln und um zehn mit einer Blonden ins Bett steigen - eine Uhrzeit, um die jeder normale Mensch sich am liebsten gar nicht bewegen würde. Mein Kommissar sollte jemand sein, den man gerne zu sich nach Hause einlädt, jemand, der seinen Kopf benutzt und der nach der Wahrheit sucht, nicht nach Gerechtigkeit, was etwas ganz anderes ist. "
    Weil Camilleri den spanischen Schriftsteller Vásquez Montàlban als einen seiner Lehrmeister betrachtet, gab er seinem bärbeißigen Polizisten dessen Namen, in italienischer Abwandlung, versteht sich. Andrea Camilleri sieht natürlich genauso aus, wie man sich Montalbano vorgestellt hat: groß und kräftig, etwas schwerfällig, mit einer Brille und klugen Augen.

    " Einer meiner letzten Montalbano-Krimis Das kalte Lächeln des Meeres hat eine große Kontroverse ausgelöst, und zwar nicht literarischer, sondern politischer Natur. Denn Montalbano steht einem neuen Einwanderungsgesetz extrem kritisch gegenüber; er kritisiert außerdem die Vorgehensweise der Polizei auf dem G8-Gipfel in Genua. Montalbano ist mittlerweile sehr müde und hat Lust, alles stehen und liegen zu lassen. Dieser Roman war stärker in der Realität verankert als frühere. In einer Anmerkung am Schluss habe ich alle Quellen aufgeführt, und es sind Zeitungsartikel aus den vergangenen Monaten. "
    Auch Camilleri wirkt ein wenig erschöpft. Er ist der Berlusconi-Regierung überdrüssig und beklagt den Mangel an ethischen Grundsätzen in seinem Land. Sein Kommissar, der eine Schwäche für ausgedehnte Mittagessen und schöne Frauen pflegt, kann mit modernen Polizeimethoden nichts anfangen. Statt dessen versucht er, den kriminellen Akt von Innen heraus zu verstehen und sich in den Täter hinein zu versetzen.

    " Was bedeutet für Montalbano die Untersuchung eines Delikts? Es geht um die Rekonstruktion einer Person, eines Gesichts, seiner physischen Erscheinung, aber auch seines Denkens auf der Grundlage einiger Informationen, ganz ähnlich wie es auch ein Romancier macht. Man hat also einen ganz bestimmten Ausgangspunkt. Das heißt: einen Raum, einen Verhaltenscode, und wenn man das umreißen kann, nähert man sich einem Ergebnis. Aber wenn kriminelle Organisationen überhaupt kein Gesicht mehr haben, wenn sie nur noch über das Internet operieren, dann gibt es keinen Raum mehr. Es gibt nicht mehr die Möglichkeit, dem Gegner, dem Mörder in die Augen zu schauen, denn er existiert nicht. Es mangelt Montalbano an den entsprechenden Fähigkeiten, er ist ungeeignet für diese Art von Recherche. "
    Der arme Montalbano.... Zum ersten Mal zweifelt er an seiner Urteilskraft über gut und böse. Inmitten einer Krise der Institutionen sehnt sich das italienische Publikum nach moralischer Eindeutigkeit und Wertmaßstäben.

    " Nach meinem Eindruck hat Berlusconi in Italien endgültig die Motorino-Moral durchgesetzt. Wissen Sie, was ein Motorino ist? Ein Mofa, heute fährt man damit über den Bürgersteig, schneidet anderen den Weg ab, leistet sich einfach alles – das ist die Motorino-Moral. Ich werde immer als Verrückter bezeichnet. Aber genau darum geht es: um jeden Preis ans Ziel zu kommen, den Wert des Geldes über alles zu stellen. Und das hat seine Folgen. Vor ein paar Tagen habe ich das öffentlich geäußert, und sofort stürzten sie sich auf mich, "Du bist ein extremistischer Verrückter". "

    Auch in seinen Büchern beschäftigt sich Andrea Camilleri mit den Bedingungen der Macht, den Folgen der nationalen Einigung und den Auswüchsen der Mussolini-Diktatur. Allen Globalisierungsmoden zum Trotz beharrt er auf seiner sicilianità und porträtiert den Menschenschlag der Insel mit zärtlicher Verschmitztheit. Vor allem die Krimiserie ist ein großer Exportschlager, obwohl eine auffallende Eigenart dieser Bücher in den Übersetzungen verloren geht. Sämtliche Montalbano-Fälle sind nämlich in einem phantasievollen Kunst-Sizilianisch verfasst. Nach ein paar Seiten fühlt man sich auch als Nicht-Sizilianer in diesem Idiom Zuhause und hat zugleich den Eindruck, an etwas Ur-Sizilianischem teilzuhaben. Ein Trick, gewiss – aber ein genialer. Dieser ästhetische Kniff, der in den eher unterschätzten historischen Romanen durch Kanzleijargon, eine hispanisierte Aristokratensprache und Gossenmundart auch sprachgeschichtlich ausgereizt wird, passt zu Andrea Camilleris Spielernatur. Seine große Fähigkeit besteht in gewagten Konstruktionen.

    " Ich mache eigentlich nie einen Plan. Die Figuren werden aus der Geschichte heraus geboren, je weiter sich die Geschichte entwickelt, desto dringender wird der Bedarf an bestimmten Figuren. Wissen Sie, nach meinen schriftstellerischen Erfahrungen verhält es sich mit dem Erzählen einer Geschichte so, als stelle man sich an eine Quelle. Aus dem Wasserlauf erwächst nach und nach ein Fluss. Wenn der Wasserlauf anschwillt, können auch kleine Nebenflüsse entstehen, die kaum mehr zu kontrollieren sind. Es geht also darum, diese Wasserläufe irgendwie in Schach zu halten, und wenn einem das gelingt, ist das schon eine Leistung. "

    In dem pünktlich zum Geburtstag erschienenen Interviewband Mein Leben können sich Camilleri-Anhänger und Montalbano-Verehrer ausführlich über die Arbeitsweise, den Werdegang und den Alltag des Bestsellerautors informieren. Neben einem eher unbedeutenden Roman mit dem Titel Der zerbrochene Himmel liegt außerdem noch eine von Klaus Wagenbach liebevoll zusammengestellte Essaysammlung vor, die Camilleri als politischen Kopf würdigt. Denn Andrea Camilleri hängt einem altmodischen Verständnis seines Berufes an.

    " Die Rolle des Schriftstellers könnte sich in Zeiten wie diesen sehr wohl ändern. Die Versuchung ist eben – und ich kann das gut verstehen –, dass man sich in den Elfenbeinturm zurückzieht und sagt, gut, an diesem Punkt erzähle ich ganz einfach meine Geschichten und Gute Nacht. Meine Position ist das nicht. Ich kann nicht einfach meinen Bauchnabel betrachten und die Geschichte der Betrachtung meines Bauchnabels erzählen. Danach ist mir nicht zumute. Es entspricht mir nicht. Ich glaube, der Schriftsteller ist insofern wichtig, als dass er die Geschehnisse - nicht verändert, denn das kann er nicht -, aber beobachtet, wahrnimmt und seine Interpretation darlegt. Der Schriftsteller muss das Chaos interpretieren. "
    Vor allem mithilfe seines weltweit populären Kommissars bringt Camilleri seine Kritik an den politischen Umständen unter die Leute. Manchmal allerdings wächst ihm der Ruhm Montalbanos über den Kopf. Dann plagt ihn die Ungeduld seines Publikums, das gierig auf den nächsten Fall wartet und die aufwendig recherchierten historischen Romane als Zwischengeplänkel abtut. Da hilft dann nur noch ein großer Korb Bügelwäsche. Beim Bügeln kann sich Camilleri nämlich am besten entspannen.