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Kein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der eigenen Tat

Auf bis zu 200.000 Personen wird die Zahl derjenigen geschätzt, die sich im Nationalsozialismus aktiv an der Ermordung von Juden, Roma, Homosexuellen und politisch Andersdenkenden beteiligten. Sie waren die Täter, doch aus welchen Motiven heraus handelten diese Menschen? Die Bundeszentrale für politische Bildung lud nach Berlin, um neueste internationale Forschungsarbeiten über den Holocaust vorzustellen und zu diskutieren.

Von Eva-Maria Götz |
    In den letzten Jahren sei die Täterforschung so sehr in den Fokus vor allem deutscher Historiker gerückt und die Untersuchungen der Täterprofile sei derartig ausdifferenziert, meinte Dan Stone von der Royal Holloway University of London, dass es den "typischen Täter" oder auch die "typische Täterin" nicht mehr gäbe. Ein Merkmal würde die Täter aber doch verbinden: In den Gesprächen, die sie nach Ende des nationalsozialistischen Regimes zu Protokoll gebracht hätten, äußerten die zu Mördern Gewordenen weder Schuldgefühle noch berichteten sie von Traumata, die ihre Taten bei ihnen hinterlassen hätten. Auch wenn ihre Motive unterschiedlich waren, am Ende seien alle mit sich "im Reinen" gewesen. Denn ihre Taten entsprachen dem, was ein großer Teil ihrer Umwelt von ihnen erwartet hatte. Und diese Brutalisierung einer Gesellschaft passierte seit 1933 langsam, aber unaufhörlich und überall. Michael Wildt vom Hamburger Institut für Sozialforschung:

    "Wir sind in einer bürgerlichen Gesellschaft gewohnt, in einem Rechtstaat: Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Rechte und Pflichten, für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, und auch Rechtssicherheit. Und wenn eine Gruppe das Recht verletzt, erwarten wir, dass die Organe, die damit beauftragt sind, Polizei, Justiz, dass die da eingreifen."

    Zuerst wurde dem jüdischen Nachbarn der Hut vom Kopf gestoßen, er wurde angerempelt, beschimpft. Die Täter machten die Erfahrung, dass ihre Taten nicht nur straffrei blieben, sondern sogar gelobt und belohnt wurden. Und sie machten weiter: mit Prügeleien, Zerstörungen, als Massenspektakel inszenierten Demütigungen der Opfer.

    "Was dort passiert, dass Militante sich das Recht herausnehmen, andere zu diskriminieren aus rassistischen Gründen, und jetzt nicht nur die Organe, die eigentlich das Recht wahren sollen, nicht eingreifen, Polizei und Justiz nicht eingreifen, sondern dass sich auch eine große Gruppe von Menschen daran beteiligt. Und wenn das geschehen kann, ohne dass das verhindert wird, haben diejenigen, die das machen konnten, deutlich das Gefühl, sie haben hier Macht in der Öffentlichkeit und die, die es erleiden, haben ein tiefes Gefühl von Ohnmacht. Und diese Veränderung von Öffentlichkeit, unterminiert, unterspült, unterhöhlt eine bürgerliche Gesellschaft."

    Jeder Tabubruch, auf den nicht sofort reagiert und dem Einhalt geboten wird, so Michael Wildt, ist irrevisibel und öffnet ein neues Möglichkeitsfenster: Was vorher nicht denkbar war, wird auf einmal möglich, weil diese Aktion möglich gewesen ist.

    "Normative Veränderungen, wie sie sich zwischen 1933 und 1945 in Deutschland etabliert haben, haben zur Folge, dass die Personen nicht merken, dass sie ihre Einstellung verändern. Man kann sich das einfach daran illustrieren, dass es vollkommen unvorstellbar gewesen wäre, wenn 1933 Deportationen von Juden stattgefunden hätten in dem Stil wie sie 1941 dann stattfinden. Also dass Leute auf Lastwagen durch die Städte transportiert werden, zu Bahnhöfen gebracht werden, dort in die Waggons gesperrt werden, und in den Osten deportiert werden. Das ist 1933 nicht etwas, was in den Erwartungshorizont der Bürgerinnen und Bürger fällt. Acht Jahre später halten die das für vollständig normal."

    Für Harald Welzer vom Zentrum für interdisziplinäre Erinnerungsforschung in Essen ist es ein Phänomen, dass sich Wahrnehmungen und Taten von Menschen parallel zu der Veränderung ihrer Umwelt verändern. Für ihn macht es keinen Sinn, in den Biographien der Mörder nach dem Besonderen, dem Unerklärbaren, dem spektakulären Moment zu suchen. Es ist der Referenzrahmen einer Tat, der sich verändernde Alltag, das sich verändernde Wertesystem, was Deportationen und Massenmorde möglich gemacht hat. Dieser Blick auf das sich aus vielen kleinen Facetten zusammensetzende "normale Leben", in dem irgendwann die Nachbarn aus ihren Wohnungen vertrieben und in den Straßen erschossen wurden, nähme dem Genozid den Mythos vom "unvorstellbaren Verbrechen", denn Nichts sei unvorstellbar an den Massenmorden außer dem Ende.

    "Das Ganze, wie jemand dazu kommt sich zu entscheiden, jemand anderen zu töten, und wie er von dieser Entscheidung her in ein sich selbst dynamisierenden professionalisierten ja Tötungsarbeit reinkommt, das alles kann man erklären. Uns steht immer nur dieses grauenhafte Ergebnis dessen was die Täter getan haben analytisch im Wege um zu verstehen, dass jeder einzelne Schritt in einem erstaunlichen Maße ein hohes Maß an Alltäglichkeit und Sinnhaftigkeit gehabt hat."

    Wie schnell man Teil eines Systems war, an dessen Ende ein Massenmord stand, machte die Historikern Elisabeth Harvey von der University of Nottingham anhand der Biographie von Frauen fest, die schon vor 1933 in etablierten weiblichen Berufen tätig waren, die als Sozialarbeiterinnen oder als Hebammen gearbeitet hatten, und daran gewöhnt waren, wie Elisabeth Harvey sagte, "in Kategorien von sozialer Disziplinierung, Kontrolle, Überwachung und auch Erziehung" zu denken.

    "Und dieses Denken, dass Asoziale ein Problem waren, oder dass Frauen, die immer wieder verschiedene Kinder von verschiedenen Männern bekamen, ein Problem waren, dieses Denken war schon da. Und ich denke, auf dieser Basis konnten die Nationalsozialisten auch aufbauen, als sie versuchten, die Frauen, die schon in diesen Berufen waren, zu mobilisieren, für neue Tätigkeiten, für neue Pflichten, für Meldepflichten, dass sie Frauen melden sollten, die ein behindertes Kind geboren hatten."

    Es habe kein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der eigenen Tat geherrscht, meinte Harvey, auch nicht bei Frauen, die als Aufseherinnen oder Ehefrauen von Aufsehern in den Konzentrationslagern eine Fassade bürgerlichen Lebens aufrecht erhielten, während in der unmittelbaren Nachbarschaft gemordet und gequält wurde. Die Beteiligten hätten sich noch nicht einmal vorstellen könne, für ihre Taten jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden.

    "Keine Alterskohorte, kein ethnisch-soziales Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erweist sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent. Diese offenkundige Heterogenität der mittleren und höheren Führungsebene lässt eben eine einseitige biographische Überprüfung ihres Handelns als wenig vielversprechend erscheinen und dieser Befund lenkt den Blick zurück auf die institutionelle Einbindung des Personals. Das heißt, die unterschiedlich motivierten und unterschiedliche Vorraussetzungen mitbringenden Personen, wurden in meist jahrelangen Prozessen innerhalb der Organisationen erst zu Tätern geformt."

    Meinte Peter Longerich, Historiker an der Royal Holloway University of London, der im letzten Jahr eine Biographie Heinrich Himmlers veröffentlichte.

    "Dieses ältere Bild des Schreibtischtäters, der im Rahmen von quasi automatisch ablaufenden Prozessen teilnahmslos Befehle weiterleitete, ist ersetzt worden durch die Vorstellung einer Vernichtungspolitik, die durch einen breiten Konsens getragen und durch vielfache Initiative auf verschiedenen Ebenen schrittweise in Gang gesetzt wurde und weiter radikalisiert wurde."

    Vorraussetzung für die mörderischen Taten war lediglich die bedingungslose Aneignung der nationalsozialistischen, antisemitischen Ideologie und die Zugehörigkeit zu den Organisationen, die mit der sogenannten "Endlösung" befasst waren, also Sicherheits- und Ordnungspolizei, Waffen-SS, Lager- und Besatzungsverwaltung in Osteuropa. Die Morde geschahen dann, so ein Fazit der Tagung, freiwillig.