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Kein Blatt vor dem Mund

Nach dem letzten das allerletzte Glas, gekrönt vielleicht noch vom allerallerletzten. Irgendwann jedoch setzt der Morgen den Schlussstrich. Dann muss sich auch Pierre Mérots "Onkel" den Tatsachen des neuen Tages stellen. Als letzter Puffer vielleicht noch ein Quicky mit einer Leidensgenossin - dann aber schlagen sie ihm unweigerlich entgegen: die nackten Realitäten. Als da wären: ein leeres Konto, die ersten grauen Haare, das Joch der wechselnden Jobs, die gerümpften Nasen der Eltern. Mit 40 meint das "schwarze Schaf" der Familie "eine Grenze symbolischer Natur" überschritten zu haben. Der Alkohol ist da sein letzter Halt:

Von Christoph Vormweg | 28.05.2004
    Ich glaube, die Flasche ist Ersatz für zwei Dinge. Zum einen ist da das gewaltige Band zur Mutter - das ist die Freudsche Seite: das Orale, die flüssige Nahrung, die Nabelschnur, das Sich-Abkapseln von der Außenwelt. Viele Bilder im Roman bringen das Trinken mit dem mütterlichen Universum in Verbindung: die Bars sind Gebärmütter, die Sonnensegel wogen wie ein großer Mutterbusen. Zum anderen ist die Flasche ein Ersatz für Gott. Das ist etwas Absolutes, ein Fall von Liebe. Auch das steckt im Alkohol.

    "Wenn die Bürgerlichen besoffen daherreden", sagt eine Nachtbekanntschaft des Onkels, "dann sind sie die freiesten Menschen der Welt." In diesem Punkt liegt der Reiz von Pierre Mérots Roman Säugetiere. Denn sein Tresenheld nimmt kein Blatt vor den Mund. Familie, Erziehung, Psychotherapie, Arbeitswelt: alles ertränkt er im Sturzbach seines beißenden Spotts. Die Nachtbar wird zum Ort der unverblümten Wahrheit, zum Ventil, zur zweiten Heimat. In ihr lässt sich die Kälte der modernen Welt noch ertragen.

    Ich wohne zwischen Barbès und Pigalle. Da gibt es viele Nachtbars. Meine bevorzugte ist gleich in meiner Straße und sehr gemütlich. Da sieht man immer dieselben. Das ist eine Art Familie. Und auch darin zeigt sich der Bezug zur Mutter: die Nachtbar wird für die Stammkunden zur Familie, zum Vorwand, einen trinken zu gehen. [...] Solche Bars sind sehr spezielle Orte: voller Gescheiterter, viele davon Trinker - eine Geographie, eine Kosmogonie des Alkohols und der Nacht.

    Gescheitert fühlt sich auch der Onkel, zumindest in Sachen Liebe. Doch kultiviert er sein Gefühl der Verlorenheit nicht. So wirkt der Roman Säugetiere auch nie selbstmitleidig. Vielmehr wird der innere Leidensdruck zum Motor einer bissig-bösen Gesellschaftskritik. Die französischen Feuilletons haben Pierre Mérot deshalb wiederholt mit Michel Houellebecq verglichen. Doch auch wenn es thematische Überschneidungen gibt - so die Klage über den "erbarmungslosen Markt der Lieblosigkeit" -: ein Trittbrettfahrer ist Pierre Mérot nicht. Die Nähe der Tonlagen ist eher generationsbedingt, Tonlagen, die im Pariser Verlag Flammarion, in dem Mérot wie Houellebecq erscheinen, besonders gepflegt werden. So verwundert es nicht, dass der Mittvierziger von einem Lektor entdeckt worden ist, der selbst als aufmüpfiger Romancier Karriere gemacht hat.

    Seinen Brotberuf als Französischlehrer an einem Gymnasium in der uferlosen Pariser Banlieue will Pierre Mérot fürs erste nicht aufgeben. Sicher auch deshalb, weil er ihm Zwänge auferlegt, die seine nächtlichen Exzesse limitieren.

    Wenn der Roman die Leute in Frankreich interessiert hat, dann weil sie gespürt haben, dass der Hintergrund echt ist. Es gibt so viele Romane, die frei erfunden sind, reine Kopfgeburten, hinter denen keine Person steht. Da aber haben sie gespürt, dass jemand dahinter steht. Nicht immer - aber es gibt Passagen, bei denen einem klar wird, dass sie erlebt sind.

    Pierre Mérot
    Säugetiere
    Carl Hanser Verlag, 192 S., EUR 17, 90