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Kein Buch über die Revolution, sondern über Syrien

Die Journalistin Kristin Helberg lebte von 2001 bis 2008 in Syrien und war dort in den letzten Jahren die einzige deutsche akkreditierte Journalistin. Sie will mit ihrem Buch zu Einblicken über das Land verhelfen, Klischees hinterfragen und politische Analysen liefern.

Von Susanne El Khafif | 29.10.2012
    "Dieses Buch ist den Kindern Syriens gewidmet. Sie waren es, die im südsyrischen Daraa den revolutionären Funken gezündet haben",

    schreibt Kristin Helberg in ihrem Vorwort.

    "Sie sind es auch, die die Bilder auf meinem Computer immer wieder verschwimmen lassen – die mich zwingen, wegzusehen, die mich wütend, verzweifelt und sprachlos machen und mich dadurch am Ende doch nur zwingen, weiter hinzusehen."

    Fernab des Grauens und doch nicht minder getroffen von all dem Leid, das auch den Kleinen, den Kindern, angetan wird, verfolgt die Autorin heute am Bildschirm, was in Syrien geschieht – notgedrungen am Bildschirm, denn das Regime in Damaskus verweigert ihr die Einreise. Syrien, das ist das Land, in dem sie viele Jahre gelebt und als Journalistin gearbeitet hat; ein Land, das den meisten westlichen Betrachtern trotz seiner medialen Präsenz verschlossen geblieben ist. Kristin Helberg will zu Einblicken verhelfen, Klischees hinterfragen und politische Analysen liefern. "Mein Buch ist kein Buch über die Revolution", schreibt sie, "es ist ein Buch über Syrien."

    "Indem ich von meinem Alltag in Damaskus, dem Zusammenleben von Sunniten und Christen, meinen Begegnungen mit Oppositionellen und Händlern erzähle und die Problematik auf dem Golan, ausländische Verstrickungen und die Person Bashar Al Assads analysiere, möchte ich ein klareres Bild von Syrien schaffen. Ein Realistisches und Faires."

    Die Autorin löst ein, was sie verspricht. Und sie ist dabei sowohl in der Lage, ein breites Publikum anzusprechen als auch dem Kenner der Region neue und interessante Details zu vermitteln. Sie entscheidet sich für zwei Ebenen in der Darstellung, für die Beobachtung und die Analyse. Beides verwebt sie miteinander – ohne dass die Grenzen dabei verwischen. Sie beobachtet genau, beschreibt anschaulich und lebendig, bezieht die Leser ein - in ihre Betrachtung von Ort und Geschehen - in ihre Begegnungen mit Menschen, die dadurch greifbar und begreifbar werden. Der "Syrer" bekommt ein Gesicht, bekommt viele Gesichter. Dabei sind die Personen nicht willkürlich gewählt, sondern stehen für gesellschaftliche Gruppen oder politische Überzeugungen. Kristin Helberg bleibt auch bei der Beschreibung der Regimevertreter, wie bei der Person Bashar Al Assads und seiner Frau Asma, sachlich - und überzeugt damit - auch an anderer Stelle. So ist die von ihr beschriebene Begegnung mit dem Regimegegner Fariz Murad ergreifend, lässt Respekt und Achtung für all die wachsen, die sich nicht unterkriegen lassen. Der junge Kommunist Murad wird inhaftiert, eingesperrt in eine dunkle Kammer, die so niedrig ist, dass er nicht aufrecht stehen kann. 29 Jahre später wird er freigelassen.

    "Als die Tür aufgeht, erstarre ich. Nicht ein 54-jähriger Oppositioneller betritt den Raum, sondern ein alter, gebrochener Mann. Seine Schritte sind unsicher, das Gesicht (ist) müde und blass. Ein Buckel zwingt ihn, nach unten zu sehen. Dabei wirkt Fariz Murad seltsam heiter. Nichts habe er wiedererkannt, gar nichts, sagt er nach seinem ersten Rundgang durch Damaskus."

    Fünf Jahre später stirbt Murad an den Gesundheitsschäden, die er in der Haft erlitten hat.

    Zu den Stärken der Autorin gehört auch die Analyse. Sie beschreibt das Mit- und Gegeneinander der Konfessionsgemeinschaften; erklärt die syrische Innen- und Wirtschaftspolitik, die zwar mehr freien Handel zuließ, aber keinen politischen Wandel erlaubte - diesen vielmehr perfide oder offen gewaltsam unterdrückte – und damit aus dem einstigen Hoffnungsträger Bashar Al Assad eine furchtbare Enttäuschung machte. Wertvolle Details liefert Helbergs Darstellung des zivilen Widerstands und dessen Organisationsstrukturen, sie sind unverzichtbar für ein Verständnis des aktuellen Konflikts – gelungen ist auch dessen Einbettung in die Region. Die Autorin benennt die unterschiedlichen Interessen der Akteure, Türkei, Iran, Saudi-Arabien, Irak und Katar, und kommt dann auf die Politik des UN-Sicherheitsrates zu sprechen, der keine klare und einstimmige Position formulieren kann. Aber obwohl sie kritische Worte für den Westen findet, ist sie gegen eine ausländische Militärintervention.

    "Ich halte sie aus syrischer Sicht für kontraproduktiv, weil sie Hunderttausende Tote fordern und jede neue Regierung als vom Westen installiert und damit unglaubwürdig aussehen lassen würde."

    Kein Lob ohne Tadel. So sind Konzept und Aufbau des Buches nicht immer schlüssig, wirken fast so, als wäre die Autorin beim Schreiben des Buches vom syrischen Aufstand überrascht und überrannt worden. Ein Beispiel: Nachdem sie die Leser mit den Oppositionellen bekannt gemacht hat, leitet sie über zum Golan – obwohl an dieser Stelle doch viel mehr das "Gegenüber" interessiert hätte, der Assad-Clan mit seinem Werdegang, seinen Motiven und Unterdrückungsmechanismen. Der aber wird erst im letzten Drittel des Buches detailliert beschrieben. Deplatziert wirkt auch das erste Kapitel, in dem die Autorin über ihren Arbeitsalltag in Syrien berichtet. Hier wird aus dem "Ich" in der Erzählperspektive, die ansonsten ihre Berechtigung hat, eine "Ich-Zentriertheit", die übersteigert ist – und so gar nicht zu dem passt, was die Autorin eigentlich beabsichtigt, nämlich ein "Buch über Syrien" zu schreiben. Ebenso unpassend wirken Anmerkungen über die sogenannte syrische Mentalität, die fast an die zoologische Betrachtung einer besonderen Spezies erinnern. Das mag einem breiten Publikum gefallen, doch auch das widerspricht der erklärten Absicht, Stereotype zu hinterfragen und nicht selbst in die Welt zu setzen. Regelrecht vergaloppiert wirken indes Passagen mit Formulierungen wie: "die syrische Gesellschaft muss"; und: "die Syrer sollten" - Ausrutscher, die das Gesamtbild trüben. All das ist schade, denn die Fehler wären vermeidbar gewesen; ein genaueres und strengeres Lektorat hätte solche Mängel behoben.

    "Was bleibt, ist der Schmerz. Und zwar millionenfach. [Hunderttausende Menschen sind in Syrien nachweislich verhaftet, gefoltert, verschleppt, erschossen, vergewaltigt oder vertrieben worden.]"

    "Brennpunkt Syrien" ist trotz seiner Schwächen ein wichtiges und ein wertvolles Buch. Es besticht durch die Beobachtungsgabe der Autorin, ihrem Insiderwissen, ihrer scharfen Analyse. Und es ist geprägt von einer tiefen Zuneigung zu den Menschen, die tapfer und ungebrochen nach Freiheit streben. Kristin Helberg vermag es, den Zahlen, die uns als Todesstatik über die täglichen Nachrichten erreichen, wieder Bedeutung zu geben; aus ihnen wieder Menschen sprechen zu lassen – Menschen, die Wünsche haben und Träume.

    Kristin Helberg: "Brennpunkt Syrien", Herder Verlag; 272 Seiten; 9,99 Euro, ISBN 978-3-451-06544-6