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Kein Mensch ist einerlei

Es gehört zu den Beobachtungen, die jeder machen kann, daß über all den Fragen, die der Alltag stellt und die man daher für "aktuell" hält, die Grundfragen nach Gott-Mensch-Welt in den Hintergrund treten. Daß sie nicht verstummen, dafür sorgen die Stunden, die jeder kennt, in denen Menschen angesichts von Schicksalsschlägen, existentiellen Erfahrungen oder Grenzsituationen nachdenklich werden und sich auf Wesentliches besinnen. Doch wer sich, um Antworten verlegen, an die Theologen, an die Anthropologen, an die Weltweisen wendet, kommt nicht selten angesichts des Streits, ja des Gezänks der "Fachleute" vom Regen in die Traufe. Kein Wunder, daß die "Antworten" nicht greifen oder nur Wasser auf die ohnedies laufenden Mühlen der landläufigen Antworten sind.

Dieter Stolte |
    Angesichts solcher Nöte kommt das neue Buch des Mainzer Philosophen Richard Wisser zum richtigen Zeitpunkt. Es stellt die Frage "Was ist der Mensch?" nicht auf die übliche Weise, die den Anschein zu erwecken sucht, sie durch eine abschließende Antwort beantworten zu können. Wisser fügt also den Wiederholungen bisheriger Antworten nicht eine neue hinzu, die an die Stelle der gängigen und gewohnten Antworten, die sich gegenseitig Schachmatt setzen, eine Art Superantwort setzt. Er deckt vielmehr anthropologisch die Struktur auf, auf die alle derartigen Antworten zurückgehen, und die erklärt, weshalb sie jeweils dazu neigen, sich zu verabsolutieren, und vermeinen, die anderen aus dem Feld geschlagen zu haben. Wisser zeigt aber zugleich, daß es bei solchen Verabsolutierungen nicht bleiben kann, und er bringt zu Gesicht, daß derlei Antworten keineswegs so stabil und haltgebend sind, wie sie zu sein behaupten. Mit einem Wort, Wisser legt einen Grundbefund frei: Antworten mögen zwar jeweils als der "letzte Schrei" daherkommen und solcherart auf sich aufmerksam machen, sie bringen aber nicht das "letzte Wort" zustande. Sie beantworten die Grundfragen nicht endgültig, entpuppen sich vielmehr in der Regel, und das ist etwas anderes, als zu verantwortende Antworten.

    Indem Wisser, der als Gastprofessor weltweit vor Ort unterschiedliche Kulturen kennengelemt hat, die Frage "Was ist der Mensch?", auf die so diverse und konträre Antworten gegeben worden sind wie die, er sei ein animal rationale, ein Vernunftwesen, ein animal sociale, ein Gesellschaftswesen, ein animal vitale, ein Lebewesen, seinerseits nicht auf die übliche Weise stellt, stellt er die "Frage" in Frage und stellt er sich der Frage. Zurecht lautet der Untertitel seines in sprachbewußter und in einer den Leser fesselnden Diktion abgefaßten Buches "Spektrum und Aspekte 'kritisch-krisischer Anthropologie"'. Was diese seine Anthropologie neuen Stils, die durch Martin Heideggers Kritik an der "Philosophischen Anthropologie" hindurchgegangen ist und sie berücksichtigt, auszeichnet, ist, daß sie die gegeneinander verkrampften und meist starrsinnig vertretenen sogenannten Wesensbestimmungen des Menschen auf die ontologische und die anthropologische Struktur bezieht, der sie entstammen und die sie daher übergreift.

    Doch worin besteht der Kerngedanke? Wisser kennzeichnet ihn als die "kritisch-krisische Grundbefindlichkeit des Menschen". Obwohl der Sachverhalt fundamental ist, wird er zumeist übersehen: Der Mensch, und zwar jeder Mensch, "unterscheidet", und zwar nicht nur dies von jenen, also Sachen, sondern auch sich von anderen Menschen, also Personen, ja er unterscheidet sich selbst von seinem sogenannten anderen Ich. Er treibt also nicht nur dann und wann, wenn ihm eine Laus über die Leber läuft, "Kritik", er ist vielmehr kritisch gegenüber "Sachen", "Personen" und "sich" selbst. Aber, und das ist gewissermaßen die Kehrseite der "kritisch-krisischen Grundbefindlichkeit", es zeigt sich, daß es bei diesen Unterschieden nicht bleibt, daß seine Feststellungen also nur vorübergehend feststehen und sowohl die Dinge wie Personen schneller als gedacht "anders" sind, aber auch er selbst "anders" wird, das heißt sich "verändert". Was dauerhaft und von Bestand schien, wird anders, was für krisenfest gehalten wurde, wird nicht nur "kritisch" sondern "krisisch". "Krisen" treten also nicht nur dann und wann auf, sind vielmehr anthropologisch Ausdruck unentwegter Veränderung. Aufs Ganze gesehen gilt also: solches, was üblicherweise getrennt vorgestellt wird, Kritik und Krise, ist der zusammenhängende Pulsschlag menschlichen Seins.

    Aber nicht nur dieser Vorstoß Wissers zur anthropologischen Grundstruktur ist es, was das neue Buch interessant macht, spannend ist auch, wie es Wisser gelingt, von dieser Struktur aus die Mannigfaltigkeit und die Vielfalt menschlichen Lebens, aber auch die bis ins Gegensätzliche sich steigernden Bestimmungen und Stimmungen als Folgen und Auswirkungen eben dieser Grundstruktur durchsichtig zu machen. Da tritt nicht nur zu Tage, daß das Wesen des "Schöpferischen", von dem so viel die Rede ist, durch besagte Grundbefindlichkeit in Gang gesetzt und gehalten wird, also durch "Unterschied und Veränderung" bewirkt wird. Da wird auch offenbar, daß eine solche Formal wie das von Nietzsche ausgeliehene "Gott ist tot" zwar der menschlichen Selbstbegegnung und der Menschwerdung des Menschen durch den Menschen dient, aber gewissermaßen die Rechnung ohne den Wirt macht, dem die kritisch-krisische Grundbefindlichkeit zu verdanken ist. Da kommt zu Gesicht, daß die permanente Krisen-Situation, in der sich der Mensch befindet, ihn auf eine Weise in Frage stellt, die durch oberflächliche Quiz-Antworten nicht zu beantworten ist.

    Es erweist sich aber auch solches, von dem tagtäglichen geredet wird, etwa der betonte und oft nur ideologisch aufgeputzte Gegensatz von "links" und "rechts" und die damit verbundenen widersprüchlichen Losungen, als eine Folge des durch "Unterschied und Veränderung" bedingten Richtungsbewußtseins und der konstitutiven Seitigkeit des Menschen. Es kommt zum Vorschein, daß Philosophien, die, wie etwa die Jean-Paul Sartres, sei es in Theaterstücken, sei es in Theorie und Praxis, die Verhältnisse radikalanthropologisch zurechtschneidern, sich auf ihre Befangenheit etwas "einbilden". Es wird sichtbar, daß ein Beziehungsverhältnis wie das des Unterschieds von "Ich und Es" ebenso wie das von "lch und Du" bei Martin Buber in der "kritisch-krisischen Grundbefindlichkeit" gründen, das Problem des Andersseins aber, des sachlichen wie des personalen, ohne die Berücksichtigung des "Ganz Anderen", ja der Nähe des "Nicht-Anderen", wie der bedeutende Philosoph und Theologe Nikolaus Cusanus den unnennbaren "Gott" bezeichnet, zu kurz greift.

    Wisser, nicht nur didaktisch erfahren, sondern mit Fingerspitzengefühl für Wesentliches begabt, versteht es angesichts solcher Erfahrungen, wie sie Menschen immer wieder in Skrupel und Zweifel stürzen, etwa seiner radikalen Unsicherheit oder der Qual von Schmerzen und Krankheit, aber auch, den Sinn im unsinnig Scheinenden durchscheinen zu lassen. Durch Erscheinungsformen der Kunst, etwa der Tanzkunst, stößt er zu deren "Sprache" vor, die den Leib als Leit- und Verständigungsfaden für das Weltverständnis griffig macht.

    Was das neue Buch von Richard Wisser allerdings geradezu hautnah macht, ist, was er in seinem Titel auf die Formel gebracht hat: "Kein Mensch ist einerlei". Man mag wegen der Artgleichheit unter Menschen oder der mit ihnen vorgenommenen Uniformierung und "Gleichschaltung" über den unverwechselbaren Zuschnitt und die Eigenart jedes einzelnen hinweggehen. Sie ist, und das macht Wissers Buch deutlich, der wahre Reichtum des Menschlichen und verbürgt an Stelle des eintönigen, öden Einerleis oder des konfusen Allerlei das qualitative anthropologische Vielerlei. Da das Buch Wisser sich nicht nur an jeden wendet, sondern von jedem handelt, sollte daher niemand so tun, als ginge es ihn nichts an.