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Kein Problembewusstsein beim medizinischen Personal

Der Vorgang war höchst ungewöhnlich: Mit Anni Friesinger-Postma hat es eine aktive Olympiasiegerin gewagt, ihrem Verbandsarzt das Misstrauen zu bekunden. Um ihr Anliegen - einen anderen Arzt – durchzusetzen, suchte sie die Öffentlichkeit. Die erfahrene Friesinger wird das für nötig gehalten haben, denn die Reaktion waren höchst kalkulierbar: kollektive Abwehr.

Von Von Grit Hartmann |
    So polterte Gerd Heinze, als Präsident der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft allzeit an der Seite der verurteilten Blutdoperin Claudia Pechstein, derlei schade dem Team gewaltig. Mit feinerem Pinselstrich übermalte Sportführer Thomas Bach Friesingers Kritik: Die sei, erörterte er scheinbar einfühlsam, bestimmt vorolympischer Aufregung geschuldet. Dabei wäre womöglich vom IOC-Vize, der für sich Null-Toleranz-Mentalität gegen Doping beansprucht, das Gegenteil zu erwarten gewesen: Stärkung einer mündigen Athletin und Opponieren gegen den Geist, der in ihrem Fachverband herrscht.

    Nein, es soll kein Thema sein, mit welchen Manövern die DESG den Dopingfall Pechstein vertuschen wollte: Ein Mediziner verletzt mit einem falschen Attest den Ethik-Kodex seines Berufsstandes; Funktionäre täuschen monatelang die Öffentlichkeit mit einer Lüge. Zweifelsohne würde eine Debatte darüber nach Denkart der Sportskameraden den Wert der Unterhaltungsware Spitzensport mindern. Erst recht in Zeiten knapper Haushalte, in denen über die großzügige staatliche Alimentierung deutscher Medaillen so intensiv diskutiert wird wie schon lange nicht mehr.

    Tatsächlich hat Friesinger eine kompromittierende Kernfrage berührt. Gerald Lutz, der Doktor aus Erfurt im Olympiateam, ordnet sich lediglich ein in die lange Reihe von dubiosen Medizinmännern, auf die deutsche Sportfunktionäre in Ost wie West seit jeher zählen. Im Westen reicht sie vom Doyen der Sportmedizin und Anabolika-Rezeptierer Joseph Keul, der jahrzehntelang die Olympia-Apotheke führte, über seine Freiburger Schüler, die Epo-Koryphäen Heinrich und Schmid, bis zum vorletzten Olympia-Chefmediziner, dem Testosteron-Spritzer Georg Huber.

    Sonderlich erregt zeigten sich Sportfunktionäre über derlei Enthüllungen nie. Hubers Nachfolger bei Olympia wurde Wilfried Kindermann, einst an Testosteron-Studien mit Athleten beteiligt. Diese Erfahrung teilt auch der oberste Weißkittel in Vancouver, Bernd Wolfarth, wenngleich nur als Student Teil der Breisgauer Doping-Bruderschaft.

    Das mangelnde Problembewusstsein der Funktionäre beim medizinischen Personal korreliert mit ihrem Lieblingsvortrag. Der lautet, unbeeindruckt von prominenten Dopingfällen: Deutsche Athleten sind sauber im globalen Vergleich. Platz 1 in Vancouver wird bekanntlich dennoch erwartet. Für das aufgeklärtere Publikum legt diese Melange die Schwäche des ganzen Systems offen. Sie beginnt beim Kopf.