Donnerstag, 18. April 2024

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Kein Scherbenhaufen

Merkbar schwillt der Strom von Literaturadaptionen auf der Bühne an. Und die Inszenierung rund um den eigenwilligen Schelmen Oscar gehört zu den gelungeneren, unterstreicht mit gut platzierten Bildern den Fluss der Geschichte.

Von Karin Fischer | 09.09.2010
    Die schönste Idee dieses epischen und im Gegensatz zur landläufigen Erwartung fast leise zu nennenden Abends besteht in einer winzigen Kamera, die vor der Bühne auf einem Tisch mit Requisiten steht. Die Kamera wird von den Schauspielern selbst bedient, meist, indem sie Fotos oder Zeichnungen darunter legen, die auf eine große Leinwand im Hintergrund projiziert werden. Innerhalb der massiven Betonkonstruktion, die den Bühnenrahmen herstellt, hinten aber offen ist, entsteht so eine filigrane, dauernd wechselnde Szenerie mit Platz für Geschichte. Historische Fotos aus einem anonymen Familienalbum etwa, mit denen das Stück auch beginnt: die berühmte Anna Bronski mit ihren vier kartoffelfarbenen Röcken am Kartoffelfeuer ist eine unbekannte Bäuerin. Die Atmosphäre stimmt sofort. Die Kamera dient aber auch als intelligenter Zeitraffer: Oskars Mutter stirbt, ein Kreuz wird auf ein Bild gemalt, ein bisschen Erde drauf geworfen, schon ist sie beerdigt, weiter im Text.

    Den hat Armin Petras bearbeitet, der dabei ist, Frank Castorf den Rang abzulaufen, wenn es gilt, die Großwerke der Weltliteratur auf die Bühne zu stemmen. Für Tolstois tausendseitige "Anna Karenina" hat er mit demselben Team gearbeitet, aus Werner Bräunings 700-Seiten Epos "Rummelplatz" über die frühe DDR ein überraschend dichtes Spektakel gemacht. 500 Taschenbuch-Seiten barocke Grass-Überfülle mussten naturgemäß schwer verschlankt werden. Trotzdem ist alles da: die kaschubischen Äcker, der trommelnde Falter, Wagner auf der Waldbühne, die Herz-Jesu-Kirche, Maria in der Badeanstalt, das Fronttheater, das Parteiabzeichen, sogar – ganz zum Schluss - die Trommelkarriere in den 50er-Jahren.

    Die Blechtrommel selbst ist praktisch Requisite; das Trommeln wie das glaszerschneidende Schreien hat die Regie klugerweise weggelassen. Die berühmte Pferdekopfszene wird mit grünen Gummischlangen gespielt, die unter besagter Kamera aber auch einigen Ekelfaktor entwickeln. Gut auch – die Oskar-Überfiguren von Grass und Schlöndorffs David Bennent konnte man nicht toppen – die Idee, mit sieben Schauspielern die Hauptfiguren des Romans und sieben Oskar-Erzähl-Figuren auf die Bühne zu stellen. Mit ihnen wird der überaus unzuverlässige Grass'sche Held, der ständig mehrere Interpretationen seiner Geschichte liefert, noch mal geschichtsphilosophisch "umverteilt". Die Rollen wechseln schnell, wie die Szenen:

    Das bewährte Gorki-Ensemble mit einer herausragenden jungen Anne Müller gibt zurückhaltend, aber einigermaßen dialektal authentisch eine bis auf eine Granate kurz nach der Pause eher leise Vorstellung. Jan Bosse häuft nicht Geschichte auf Geschichte, sondern vertraut dem Fluss der Erzählung und unterstreicht nur mit gut platzierten, einzelnen starken Bildern. Wenn ganz am Anfang Hunderte von Kartoffeln auf die Bühne prasseln und das Foto "Kartoffelfeuer" so fast synästhetisch nachgebildet wird. Oder wenn vier der sieben Schauspieler sich zusammen in eine Nazi-Uniform zwängen: Die schwankende hitlergrüßende Schießbudenfigur ist auch ein tolles Bild für die Auflösung und das Chaos, das Hitler folgen sollte.

    Im derzeit merkbar anschwellenden Strom von Literatur-Adaptionen auf der Bühne ist die Arbeit von Jan Bosse und Armin Petras eine der gelungeneren. Sie entwickelt bei aller Nacherzählung der Geschichte eine eigene Form. Die Frage nach dem "Warum?" aber bleibt. Die Inszenierung der "Anna Karenina" machte Tolstois Figuren zu Beziehungsgeschädigten von heute. Mit "Rummelplatz" wurde ein Stück fast unbekannter DDR-Geschichte erschlossen. "Die Blechtrommel" gehört in diesen Zusammenhang zum groß angelegten Versuch des Maxim Gorki Theaters und seines Intendanten Armin Petras, Deutschland und seine Geschichte mit den Mitteln des Theaters und den "anderen" Geschichten multiperspektivisch neu zu erzählen. Ein theater-archäologisches Projekt, das nicht genug gelobt werden kann. Dennoch fehlt der Inszenierung das Wesentliche, das Grass hat: Brisanz und gesellschaftliche Relevanz.