Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Kein Schnaps für Erich Honecker

"Land der Wunder" nennt Michael Klonovsky seine gnadenlos sarkastische Röntgenaufnahme des deutsch-deutschen Konversionsprozesses von 1987 bis ans Ende des Jahrtausends. Der Roman beginnt im Lager, freilich nicht in einem Straf-, sondern im Schnapslager.

Von Florian Felix Weyh | 03.07.2009
    Um eine Coladose zu öffnen, muss man wissen, in welche Richtung man den Blechnippel zu ziehen hat, um ihn einerseits nicht abzureißen, andererseits dennoch eine genügend große Öffnung ins Dosenblech zu bekommen. Dem ostdeutschen Ex-Philologiestudenten Johannes Schönbach ist diese Trinktechnik im Winter 89/90 herzlich fremd. Er muss seine ganze Intelligenz aufbringen, um endlich - nach dem Genuss der braunen Brause - konstatieren zu können: Wieder um eine Illusion ärmer! Cola jedenfalls kann es nicht gewesen sein, wofür sich der Untergang der DDR gelohnt hätte ... wobei Schönbach ohnehin nichts dazu beigetragen hat. Er ist überall ein Außenstehender, auch bei den 89er-Demonstrationen. Stets ein lateinisches Zitat auf den Lippen, hat er sich via humanistischer Bildung längst aus den real existierenden Unterdrückungsverhältnissen heraustranszendiert. Fast eine perfekte Überlebenstechnik, wäre da nicht der verhängnisvolle Drang zur Wahrheit - und die deckt sich eben nicht mit marxistisch-leninistischen Doktrinen. So relegiert die DDR den aufmüpfigen Studenten von der Universität und steckt ihn in ein Lager ...

    "Land der Wunder" nennt Michael Klonovsky seine gnadenlos sarkastische Röntgenaufnahme des deutsch-deutschen Konversionsprozesses von 1987 bis ans Ende des Jahrtausends. Im Lager beginnt der Roman, freilich nicht in einem Straf-, sondern im Schnapslager. Dorthin nämlich, vor die Tore Ostberlins, verschlägt es Schönbach; mithin an einen Ort, der je nach Trinkgewohnheiten als Hades oder Elysium erscheint. Rückblickend auf 20 Jahre Nachwende-Belletristik darf man das die wohl genialste Allegorie der zusammenkrachenden DDR nennen. Denn hier, im Schnapslager, schrumpft 1987 die heilige sozialistische Utopie zur Farce einer heruntergekommenen Bedürfnisanstalt. Vom Direktor bis zum letzten Staplerfahrer kümmern sich nur gescheiterte Existenzen um den Dauertropf des Sozialismus; alle wissen, dass Wohl und Wehe der DDR von ihnen abhängt. Die Versorgung der Bevölkerung mit Alkohol hat allerhöchste politische Priorität. Kein Schnaps mehr für die Männer, kein Eierlikör für die Frauenbrigaden - das wäre das Ende des Honeckerreichs, trocken gelegte Alkoholabhängige bringen jede Mauer zum Einsturz.

    Selten so gelacht über die DDR - und zugleich ein permanentes kaltes Gruseln verspürt - wie im ersten Viertel von Klonovskys deutschem Sittenbild. Dann steigt Schönbach nach einem Zwischenjob als Bademeister zum Korrektor einer Tageszeitung auf. Wieder ein zentraler Ort des Verfalls: Ein Staat, der nur noch von Worten zusammengehalten wird, fürchtet bereits Buchstabendreher, weswegen er sprachliche Ungetüme wie "Zentralkomitee" ausschreiben lässt. Denn was stünde da, wenn dem Setzer das "ZK der SED" einmal verrutschte? Richtig, "KZ der SED", mithin ein Schreibfehler, der den Umständen im Land, findet Johannes Schönbach, schon sehr nahe kommt. "Boykotthetze" nannte die Verfassung der DDR solche absichtlichen oder unabsichtlichen Fehler, man konnte dafür bitter büßen. 1989 freilich bricht das alles zusammen, auch im Roman, und aus dem Parteiblatt - unverkennbar die Berliner Zeitung - wird peu à peu eine liberales Hauptstadtmedium. Auch hier wieder hält das schallende Gelächter des Lesers momenteweise inne, wenn sich Ost-Opportunismus mit der Hybris westlicher "Entwicklungshelfer" vermählt. Es ist die "Weiter so!"-Mentalität, die mal zur einen, mal zur anderen Seite ausschlägt und von Klonovsky in gleichen Teilen attackiert wird. Das Hässliche und Gemeine der DDR verschwindet hinter der Komik des Romans so wenig wie das Dreiste und Dumme der westdeutschen Journaille.

    Immerhin, Johannes Schönbach darf endlich schreiben - sogar das, was er will! Aus dem kleinen Korrektor wird ein preisgekrönter Starreporter, dem freilich rasch die Themen ausgehen, weswegen er sich von einem Münchner Boulevardmagazin kaufen lässt und ein Leben in hoch alimentierter Bedeutungslosigkeit verbringt. Der Aktienrausch der Endneunzigerjahre macht ihn zusätzlich reich, und wäre da nicht eine völlig überraschende Wende hin zur Verantwortung für zwei Waisenkinder, könnte man parallel zur aufkommenden Spaßgesellschaft ein allmähliches Verdämmern der markanten Hauptfigur konstatieren. So aber veredelt eine tragische Komponente die Gesellschaftssatire zum beinahe klassischen Bildungsroman, der auch sprachlich weit über den Durchschnitt hinausragt. Klonovskys Stil mit kunstvoll verschlungenen Sätzen und allerlei auf Hochglanz polierten Spracharabesken beweist nämlich, dass sich Satire nicht auf bloßes Kleingewerblertum im "Titanic"-Format reduzieren lässt. Im Hardcover vor Jahren von Kritik und Publikum übersehen, ist das "Land der Wunder" jetzt im Taschenbuch neu zu entdecken. Wer es verpasst, lässt sich ein literarisches Wunder entgehen.

    Michael Klonovsky: Land der Wunder
    Rowohlt, 544 Seiten, 11,- Euro