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Kein süßer Tod, nirgends

Als ganz Europa nach Portugal schaute, erlebte das dennoch volle Stuttgarter Opernhaus ein anderes Endspiel, das von Tristan und Isolde, und Schreckliches war schon geschehen, noch bevor Lothar Zagrosek den Einsatz gab zu einem unendlichen, untröstlichen Tristanakkord. Ohne Schwülitäten, ohne narkotische Nebelgardinen eines vermeintlich romantischen Mischklangs, mit scharf aufgerauten Klangflächen lässt er Wagners unerhörteste Musik kalten Blutes sich ereignen, solange das überhaupt geht. Und selbst wenn das in den Ekstasen im zweiten Akt nicht mehr geht, schwitzt die Musik nicht; und wenn, dann ist es kalter Schweiß.

Von Holger Noltze |
    Im harten Licht, und bei einem Hang zu dynamischer Überpräsenz kommt dabei auch weniger Schönes zu Gehör. Vielleicht ist das der Preis. Überhaupt wird hier nicht in Schönheit gestorben. Gabriel Sadé, der rumänische, leicht indisponierte Tristan und Lisa Gasteens kernige Isolde liefern auch kein Fest der schönen Stimmen, der Liebestod bleibt in Stuttgart eine durchaus unerlöste Veranstaltung. Die Erlösungsbedürftigen im Publikum quittierten es mit Missfallen. Dabei hatte der Abend seinen erlösten Moment, als Ahnung, bereits gehabt, genau in der Mitte, 2. Akt, 2. Szene

    Lass mich sterben, singt Isolde, singt auch Tristan, und muss am Ende, todeswund, doch erkennen: kein süßer Tod kann ihn befreien von der Sehnsucht Not. Kein süßer Tod in Luk Percevals gnadenloser, erlösungsresistenter Inszenierung, nirgends.

    Auf spiegelnder Fläche im dunklen Raum, möbliert einzig mit einem großen Kubus im ersten, einem wie ein schwarzes Buch aufgeklappten Winkel im zweiten und einer Art Sternensegel im dritten Akt lässt der belgische Regisseur in seiner ersten Opernarbeit keine falsche Bewegung zu, und wenn die Musik still steht, tun es auch die Figuren. Trotzdem wird daraus kein Oratorium. Entkleidet von allem Händeringen, ohne jedes Gefuchtel mit Liebes- und Todestränken zielt alles auf die schwärzeste Pointe der heillosen Handlung: Dass die Idee "von der ungebrochenen, einzig von außen gestörten Liebe Tristans und Isoldes ein Missverständnis" ist, wusste schon der alte Carl Dahlhaus. Nur: Zu sehen war dies, die Ahnung des Zerfalls im Moment der denkbar größten Einheit, selten so klar, so traurig.

    Das Schreckliche ist schon geschehen, als die Handlung einsetzt, und am Ende legt Perceval uns eine Spur dahin, indem er, als einzige Zeile aus Isoldes 'Liebestod’: "Seht Ihr’s nicht?" in die Szene projiziert; bis dahin waren da schon allerhand Textbruchstücke zu lesen gewesen. – Was aber sehen wir? Wir sehen eine entrückte Isolde, den toten Tristan, vor allem sehen wir die Überlebenden: Isoldes Vertraute Brangäne und Marke, den betrogenen König, als neues Paar, als furchtbar genaue Konsequenz aus der Unmöglichkeit der totalen, der Tristanliebe. Brangäne war von Anfang an die somnambule Strippenzieherin des Geschehens, sie teilt keine Tränke, sondern Dolche aus. Luk Perceval, der bekennende Zen-Buddhist, will uns das Tristan-Isolde-Drama als Vergangenheit Brangänes und Markes zeigen. Man kann das verstiegen finden, doch Michaela Schuster trägt den Einfall mit überzeugender Präsenz; wie unter Psychopharmaka schwankt sie mit kleinen Schritten über die Bühne. Und sie singt makellos. Ohne Fehler, aber auch ohne eine vergleichbare Ausstrahlung der junge koreanische Marke von Attila Jun. Und Wolfgang Schöne als Tristans Mann Kurwenal trägt es mit Noblesse, dass sich für seine Rolle in dieser allertraurigsten Liebesgeschichte keiner so recht interessiert.

    Nur mittelmäßige Aufführungen könnten ihn retten, meinte Wagner, der sich den starken Essenzen bewusst war, mit denen er im "Tristan" hantiert. Mit großem Ernst begeben sie sich in Stuttgart auf die Suche nach der schmerzlichen Wahrheit von Tristan und Isolde, das erhebt den Abend über manche mittelmäßigen Einzelheiten. Nur kurz wurde Luk Perceval ausgebuht, dann schlug in dem andern Endspiel den Portugiesen die Stunde der Wahrheit, und bis tief in die Stuttgarter Nacht hupten die glücklichen Griechen.