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Kein Zurück auf Los

Die Eheleute Oliver und Do bekommen einen neuen Nachbarn. Als Balthasar Schrödinger und Zauberer stellt er sich vor. Bald schon ist er ein magischer Anziehungspunkt, der die kleinbürgerliche Nachbarschaft mit ihren heilen Fassaden sich von einem Reich der Gewissheiten in eins der Möglichkeiten verwandelt.

Von Detlef Grumbach | 26.02.2007
    "Niemand heißt Balthasar Schrödinger!" Nur ein Ziel verfolgt Oliver Schwarz mit diesem Satz, den er aus dem Bett heraus an seine Frau Do richtet. Er will mit ihr schlafen und deshalb die einigermaßen absurde Diskussion über einen neuen Nachbarn beenden, der ein lange leerstehendes Haus in der Berliner Stadtrandsiedlung beziehen will, Balthasar Schrödinger heißt und sich einer Freundin Dos als Zauberer vorgestellt hat. Sie sucht gerade ein Nachthemd aus dem Kleiderschrank heraus. Zum Sex kommt es doch nicht, weil dann ihr Vater anruft. Aber wenigstens ist durch den Anruf auch die Debatte über den Zauberer beendet. Aber nur vorläufig - das spürt der Leser. Denn wo alles ziemlich abgeklärt erscheint, wo Dialoge zwischen den Eheleuten beinahe vorhersehbar geworden sind und die Macht der Alltagsroutine ein unnachgiebiges Regiment führt, zieht mit dem Zauberer ein Versprechen in die Nachbarschaft: Das Versprechen, dass es noch so etwas wie ein Geheimnis gibt, die Verlockung magischer Kräfte, die das Gewohnte auf den Kopf stellen. Mit Schrödinger Einzug - er behauptet, der Enkel des Nobelpreisträger und Physiker Erwin Schrödinger zu sein - verwandelt sich die kleinbürgerliche Nachbarschaft mit ihren heilen Fassaden von einem Reich der Gewissheiten in eins der Möglichkeiten.

    Ulrich Woelk, der vor seiner Schriftstellerexistenz als Astrophysiker arbeitete, hat sich schon in seinem Roman "Liebespaare" damit beschäftigt, wie seine Zeitgenossen zwischen einem proklamierten anything goes in einer hochgradig sexualisierten Gesellschaft auf der einen Seite und der Routine eines Beziehungsalltags auf der anderen das kleine Abenteuer, den Weg zur eigenen Zufriedenheit suchen. Es folgte "Einstein on the lake", eine Liebesgeschichte, die auf intelligente Weise mit Korrespondenzen zu Einsteins theoretischen Erkenntnissen grundiert ist.

    Mit seinem neuen Roman - "Schrödingers Schlafzimmer" - knüpft der Mittvierziger daran an. Das Paar, das hier im Zentrum der Geschichte steht, hat die Suche nach dem Abenteuer längst aufgegeben. Oliver erstickt beinahe im Frust sexueller Ereignislosigkeit. Do, seine Frau, lässt seine Initiativen ins Leere laufen. Sie denkt ans Einkaufen, wenn er von Sex redet, die Grenze von Ironie zum Sarkasmus wird schnell überschritten: Wie lange hatten die beiden keinen Sex mehr? Sollten sie einen festen Tag in der Woche dafür festlegen?

    Und dann taucht dieser Schrödinger auf. Erst in den Gesprächen, dann leibhaftig. Die Ehefrauen - Do genauso wie ihre Freundin Helma - loben das Außergewöhnliche seiner charmanten Erscheinung, beobachten sogar ein wenig eifersüchtig, wie Schrödinger seine immer aber auch recht unverbindliche Gunst zwischen ihnen verteilt. Die Ehemänner, Oliver genauso wie Helmas Mann Mark, fühlen sich eher verunsichert. Oliver ist Optiker, Mark arbeitet als Kundenberater bei der Bank. Mit dem "lässigen Nonkonformismus" Schrödingers, wie es heißt, mit seinem Parlieren über Wohnen, Beiwohnen und Verlangen, Eitelkeit, Mathematik und Magie, mit seinen feinsinnigen Unterscheidungen von Kunst und Zauberei können sie wenig anfangen. Genauso wenig wie mit seinen Betrachtungen darüber, ob Optiker und Zauberer nicht letztendlich dasselbe machten, nämlich an der Wahrnehmungsweise der Menschen zu arbeiten, und was das wiederum mit der Arbeit seines Großvaters zu tun hat. Aber irgendwie erinnert dieser Schrödinger Oliver doch auch daran, dass das Leben einmal voller Überraschungen war, das es mehr zu bieten hat als die organisierte Langeweile zwischen Brillentresen und Familienleben. In seinem Schlafzimmer, so erklärt Schrödinger bei einer Wohnungsbesichtigung, sei alles möglich, "der Zauber, die Liebe", und er fährt fort: "du musst nur deinen Arsch hochkriegen ..."

    Und eine Bedingung gibt es - in Anspielung auf ein berühmtes, "Schrödingers Katze" tituliertes Experiment seines Großvaters: Niemand darf die Tür öffnen, weil man dann nicht mehr sehen kann, was hinter verschlossener Tür geschieht. Damit wird die Verlockung auf die Spitze getrieben, doch auf welche Weise Oliver Schwarz und seine Frau Do, jedoch nicht gemeinsam, dann doch in dieses Schlafzimmer gelangen und was sie dort sehen, darf hier nicht ausgeführt werden.

    Oliver und Do, ein ganz normales Paar in der midlifecrisis, gut situiert, zwei Kinder, die Tochter ist in der Pubertät, der Sohn um einiges jünger: Oliver und Do brechen nicht aus dem Alltagstrott aus, auch wenn sie davon träumen. Es ist nicht das Besondere, das ihren Alltag literaturfähig macht. Mit sicherem Gespür ortet Woelk die Risse im Gebälk ihrer Lebenskonstruktionen, nimmt er das Knirschen war, das von an der Oberfläche kaum wahrnehmbaren Kräfte rührt. Ohne dass Schrödinger etwas Außergewöhnliches tut, durch seine bloße Existenz und das, was die anderen in ihn hineingeheimnissen, lockt er in seiner Umgebung längst verschüttete Sehnsüchte wieder an die Oberfläche, bringt er die erstarrte Verhältnisse für einen Augenblick zum Beben. Bis sich alles wieder einrenkt, aber nichts mehr ist, wie es vorher war.

    Das Ganze wird eingefangen mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung: so nah dran, dass die Geschichte den Leser berührt, so viel Distanz, dass Mitgefühl den Blick nicht verstellt. So erweist Ulrich Woelk sich mit dieser Geschichte als ein genauer Analyst und Chronist des durchschnittlichen Lebens. Mit dem Wermutstropfen, dass er manchmal dazu neigt, seinen Beobachtungen auch gleich die richtige Interpretation beizugeben.

    Ein magisches Quadrat von vier mal vier gleich sechzehn durchnumerierten Feldern ist einem jeden Kapitel vorangestellt. Fünfzehn Kapitel hat das Buch. Wie die Geschichte im Zeichen des sechzehnten Feldes weitergeht? Ein Zurück auf Los wird es nicht geben.