Archiv


Keine andere Wahl

Vorwürfe und verhärtete Fronten: Die Rückgabe des Kirchner-Gemäldes "Berliner Straßenszene" an die Erbin des ehemaligen jüdischen Eigentümers Alfred Hess schlägt weiter Wellen. Kirchner-Kenner werfen dem Berliner Kultursenator vor, das Gemälde ungerechtfertigt verschleudert zu haben.

Von Stefan Koldehoff |
    Es sind schon seltsame Blüten, die die Debatte um Kirchners "Straßenszene" inzwischen treibt. Zwei Hauptvorwürfe muss sich der Berliner Senat seit Tagen von verschiedenen Medien gefallen lassen. Lanciert haben sie geschickt die Vertreter des Kunsthandels, indem sie gezielt Unterlagen, Gutachten, Einschätzungen zur angeblich ungerechtfertigten Rückgabe des wertvollen Gemäldes an ausgesuchte Journalisten verteilt haben.

    Das Kirchner-Gemälde sei leichtfertig und ohne Prüfung des Sachverhaltes herausgegeben worden, lautet der eine Vorwurf. Und nach beschlossener Rückgabe, so der andere, habe Kultursenator Thomas Flierl nicht ernsthaft versucht, das Bild in Berlin zu halten. Wer in die Archive steigt und die maßgeblichen Dokumente liest, kommt allerdings zu einer anderen Einschätzung – jedenfalls für den ersten Vorwurf.

    Die Gegner der Rückgabe, die im beginnenden Berliner Wahlkampf wohl vor allem die politischen Gegner des Kultursenators sind, behaupten, das Kirchner-Gemälde sei von der Familie des Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess gar nicht unter dem Druck des Nationalsozialismus verkauft worden. Vielmehr habe dessen Unternehmen durch die Weltwirtschaftskrise 1929/30 Konkurs gemacht. Hess habe also seine Bilder nicht unter politischem Druck, sondern aus wirtschaftlichen Gründen verkauft. Tatsächlich bestand das Unternehmen, wie das "Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften" belegt, ununterbrochen weiter. Irgendwann allerdings wurde es "arisiert" und die Familie Hess von allen Einkünften abgeschnitten. Um zu überleben, musste sie Bilder verkaufen - unter dem Druck des Nationalsozialismus.

    Weiter wird behauptet, der Witwe von Alfred Hess sei es gelungen, völlig unbehelligt mit rund 60 Gemälden in die Schweiz zu emigrieren. Dort sei sie nicht mehr verfolgt worden. Auch das ist falsch. Wie aus Briefwechseln in Schweizer Archiven hervorgeht, befand sich die Kunstsammlung 1933 auf einer Ausstellung in Basel und später in Zürich.

    Dort wurden die Bilder dann aus Sorge des Museumsdirektors, der die Entwicklung in Deutschland voraussah, eingelagert. Verkäufe ließ Tekla Hess damals schriftlich ablehnen. Als sie dann aber im September 1936 aus Zürich Werke zu einer geplanten Franz-Marc-Ausstellung an den Kölnischen Kunstverein senden lässt, fügt sie auch einige Bilder hinzu, von denen sie sich trennen muss – darunter Kirchners "Straßenszene". Die Marc-Ausstellung verbietet, so der Jahresbericht des Kunstvereins, die Reichskammer für Bildende Künste.

    Durch die schon abgeschickten Leihgaben sind die Behörden aber auf Tekla Hess und ihre Kunstsammlung aufmerksam geworden. Wenig später wird sie an ihrem mittlerweile bayerischen Wohnort massiv von der Gestapo bedroht. Man verlangt von ihr, die Kunstsammlung nach Deutschland zurückzuholen. Tekla Hess, die erst nach der reichsweiten Pogromnacht Ende 1938 aus Deutschland flieht, gehorcht – und sieht mit wenigen Ausnahmen nach dem Krieg keines der Bilder wieder.

    Kirchners "Straßenszene" wurde der rassisch verfolgten Hess-Familie also ganz offensichtlich unter dem Druck der Nationalsozialisten entzogen. Und ob die Familie dafür jemals Geld gesehen hat, konnte das Land Berlin als späterer Besitzer nicht nachweisen. Genau diese drei Kriterien aber sind es, die zur Rückgabe führen mussten. Einem Senator, der die geltenden Grundlagen beachtet, hatte gar keine andere Wahl. Wer das, wie jetzt geschieht, in Abrede stellt, stellt auch hunderttausend Urteile infrage, die nach 1945 nach genau der selben alliierten Rechtssprechung entschieden wurden.

    Mit dieser Entscheidung also hat der Berliner Kultursenator keinen Fehler begangen. Er hat den einschlägigen Richtlinien entsprochen. Dazu ist er nach der Verfassung verpflichtet. Ob es allerdings klug war, sich nicht auch frühzeitig um das Geld zu kümmern, mit dem man ein Meisterwerk des deutschen Expressionismus in Deutschland hätte halten können, das steht auf einem anderen Blatt. Hier nicht rechtzeitig alle Hebel in Bewegung gesetzt zu haben, wäre sicher ein Fehler. Ein großer sogar.