Koldehoff: Es gibt all dies nicht mehr, oder es hat es nie gegeben?
Felixmüller: Es gibt all dies nicht mehr, also da waren die Taliban doch relativ gründlich. Was es aber in erster Linie gab – das ist noch auf die Besetzungszeit durch die Russen zurückzuführen -, war zum Beispiel Brecht oder Stanislawski, die sie gut kennen, aber von der gesamten westlichen Literatur haben sie so gut wie gar keine Ahnung, und sie möchten es gerne kennen lernen. Deshalb wurde auch sehr bewusst ein westliches Theaterteam da hingeschickt.
Koldehoff: Sie haben gerade aufgezählt, was es alles nicht mehr gibt. Schauspieler gibt es aber demnach noch und auch den Wunsch, wieder Theater zu spielen. Ist das so?
Felixmüller: Ein Satz, der mehrfach gefallen ist, ist dass die Schauspieler uns gesagt haben, wir müssen spielen, wir wollen spielen, weil nur im Theater zeigt sich die Seele und das Herz eines Volkes. Das haben die sehr ernst gesagt, auch wenn sich das pathetisch anhören mag. Die meisten von den Schauspielern – auf die Schauspielerinnen komme ich gleich noch – haben uns einfach gesagt, sie möchten Regisseur werden, sie möchten Schauspieler werden, sie möchten all das rund um das Theater lernen, weil sie eine absolute Notwendigkeit dort erkennen. Wir haben natürlich auch gefragt, wie es mit den Schauspielerinnen ist. Es wurde uns zwar immer gesagt, die gäbe es, wir haben nur keine gesehen, bis auf eine Dame. Sie ist die Präsidentin des Nationaltheaters. Das Theater selbst ist komplett zerstört. Und es war so ein bisschen obskur, weil die Dame hat 25 Jahre in den USA gelebt, hat dort ein Schönheitssalon geleitet, ist jetzt zurück im Afghanistan, und eigentlich weiß kein Mensch, wie sie zu diesem Posten gekommen ist. Man munkelt etwas, aber keiner versteht es so richtig.
Koldehoff: Konkret heißt es aber für die momentane Situation: Gespielt werden müsste auf der Straße.
Felixmüller: Gespielt werden müsste auf der Straße. Es gibt einen funktionierenden Theaterraum; das ist in der französischen Schule, die wieder neu aufgebaut worden ist. Dort haben wir auch eine kleine Vorstellung gesehen. Aber Sie müssen sich das vorstellen, die Vorstellung läuft, etwa hundert Leute – in Windeseile hatte sich das rumgesprochen – sitzen im Zuschauerraum, und der Strom fällt aus. In dem Moment stellten sie zwei kleine Laternen rechts und links auf die Bühne und öffnen die Zuschauerräume nach draußen ins Freie, damit Tageslicht hereinfällt, und man spielt so weiter.
Koldehoff: Das würde man heute hier wahrscheinlich in Deutschland als Kunstgriff verstehen. Dort ist es die bittere Notwendigkeit. Ist denn, nennen wir sie mal pathetisch, diese Expertenkommission, die nach Afghanistan gefahren ist, schon zu Ergebnissen gekommen? Weiß man schon, wo man ansetzen könnte, um dort zu helfen?
Felixmüller: Es hat wohl gestern ein Gespräch im Goethe-Institut in München gegeben, und dieses Gespräch lief darauf hinaus, man will was tun, aber man will eigentlich gezielt auf die Menschen zugehen, die dort diesen Willen haben, Theater zu spielen, also weniger an Ausstattung liefern, weil, was soll das? Wofür wollen Sie Scheinwerfer liefern, wenn kein Strom da ist? Wofür wollen Sie Kostüme liefern, wenn kein Mensch weiß, wie diese Kostüme auf irgendwelchen Bühnen wirken? Wo wollen Sie Bücher hin liefern, wenn diese nicht in der Landessprache übersetzt sind? Das heißt man will, glaube ich, jetzt – also abschließend ist das noch nicht entschieden – vor allem Leute einladen, ihnen hier die Bedingungen zeigen, ihnen zeigen, in welcher Form sie sich weiterentwickeln könnten oder eigene ästhetische Grundideen entwickeln können, damit sie dann in ihr Land zurückgehen können, um das dort zur Not auch auf der Straße umsetzen zu können.
Koldehoff: Mich hat gerade sehr erstaunt, dass Sie gesagt haben, die wollen Theater spielen, das heißt dieses Bilderverbot und vielleicht auch dieses Lustverbot, das das Taliban-Regime in die kleinsten Bereiche des täglichen Lebens implementieren wollte, ist dort nicht wirklich hängen geblieben?
Felixmüller: Das ist nicht wirklich hängen geblieben. Ich gebe Ihnen ein ganz einfaches Beispiel: Die Taliban hatten unter anderem ja auch verboten, dass die Kinder Drachen steigen lassen, was aber eine urafghanische Tradition ist, die sogar soweit ging, dass Wettkämpfe um Drachen stattfanden. Das war verboten. Mit großem Glücksgefühl lassen sie ihre Drachen wieder steigen, und ich denke, das ist ähnlich gelagert wie mit dem Theater, mit der Literatur, mit dem Film und in erster Linie mit der Musik. Dass die Leute heute in Taxis Musik hören können, dass sie Musik auf den Straßen hören, ist für sie immer noch ein großes Wunder.
Koldehoff: Vielen Dank für das Gespräch.
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