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Keine einfachen Antworten

Der Balkankorrespondent Norbert Mappes-Niediek widerlegt in dem Buch "Arme Roma, böse Zigeuner" viele gängige Vorurteile gegenüber der Sinti und Roma. Dabei gewährt er Einblicke in Geschichte und Lebenswelten dieser größten europäischen Minderheit.

Von Dirk Auer | 22.10.2012
    Vor einigen Monaten hat der amerikanische Publizist Paul Hockenos einen bemerkenswerten Text veröffentlicht: Über die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit über Roma zu schreiben. Jeder, der sich daran versuche, so Hockenos, stoße unweigerlich auf ein einziges Minenfeld, voll mit Stereotypen und Klischees.

    "Ja, natürlich, der Paul Hokenos hat auch schon Recht: Man kann über Roma tatsächlich nicht schreiben, es sei denn, man macht es so, wie ich es getan habe und man hält sich mit der Definition seines Gegenstands überhaupt nicht auf."

    Tatsächlich macht Norbert Mappes-Niediek, langjähriger Südosteuropa-Korrespondent, aus der Not eine Tugend. Das zeigt schon der Titel seines Buchs: "Arme Roma, böse Zigeuner" – der Autor hat sich nicht vorgenommen, die Roma darzustellen, wie sie nun wirklich sind, jenseits von Zigeuner-Romantik oder populistischer Stigmatisierung. Stattdessen wird von existierenden Bildern, Urteilen und Vorurteilen ausgegangen, um sie dann auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Für den Autor selbst ein Lernprozess.

    "Ich habe am Anfang wirklich noch nach dem Roma-typischen gesucht. Ich hatte so ein Bild, ja, wie viele Osteuropäer hatte ich ein Bild, und ich dachte, ich geh da jetzt mal hin und bring das auf den Begriff. Das kann ja so schwer nicht sein. Das Bild ist einigermaßen konturscharf, und jetzt versuch ich das mal den Westeuropäern zu erläutern. Und dann ist das Bild aber weitgehend verschwommen, es wurde immer verschwommener. Es ist mir fast zerronnen. Und um so deutlicher wurde dann der Blick aber auf die Bedingungen, unter denen die Leute dort leben."

    Und davon "wissen" wir ja bereits eine Menge. Meinen wir zumindest, denn spätestens mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind die Roma zu einem europäischen Thema geworden. Zu Zehntausenden migrieren die Elenden in den Westen, tauchen dort als Bettler auf, als Prostituierte, Tagelöhner oder notfalls auch als Asylbewerber. Denn zu Hause, in Ost- und Südosteuropa, so erklären es die Wohlmeinenden, werden sie als Roma diskriminiert, leben am Rande oder außerhalb der Gesellschaft – fast so, als ob dort das Leben im Slum etwas Naturgegebenes für sie sei. Was es aber natürlich nicht ist, so Norbert Mappes-Niediek, sondern zunächst einmal das Resultat eines furios gescheiterten Übergangs vom Kommunismus zum Kapitalismus.

    "Für die Roma kam die 'samtene Revolution' mit der Scheuerbürste; der Trend zur Integration kehrte sich in allen mittel- und osteuropäischen Ländern augenblicklich um. Wo die Hälfte der Arbeitsplätze wegfiel, braucht es nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, warum unter den vielen Betroffenen auch so gut wie alle Roma zu finden waren. Sie hatten die schlechtesten Jobs und die schwächste Stellung bei den Betriebsführungen. Sie waren noch immer am schlechtesten ausgebildet. Als die Wirtschaft sich langsam wieder zu erholen begann, tat sie es ohne die Roma.""

    Und so hatte Osteuropa fortan ein Roma-Problem. Doch der eigentliche Skandal war ja die massenhafte Entlassung von Arbeitskräften, ein gewaltiger zivilisatorischer Abstieg, der überhaupt erst die Lebensbedingungen und Milieus erzeugte, die heute als für Roma typisch gelten. Mappes-Niediek wird deshalb nicht müde zu betonen: Scheinbare kulturelle Verhaltensweisen sind tatsächlich Folgen einer aufgezwungenen Ökonomie der Armut, mithin einer Überlebensstrategie – wie etwa auch der ihnen unterstellte Hang zur Kriminalität.

    "Wo sich Arbeitslosigkeit verstetigt hat, wo Leute in Slums leben, da gibt's auch Kleinkriminalität, selbstverständlich. Aber das ist zu 95 Prozent Armut - und interessanterweise ist diese Kleinkriminalität auch total konjunkturabhängig. Wenn jetzt die Krise einbricht, dann nimmt das auf einmal sprunghaft zu und sobald es besser wird, nimmt das ab."

    Noch so ein Vorurteil: Roma sind nicht integrationsfähig! Eine Behauptung, die nicht nur in Osteuropa oft aufgestellt wird, wenn wieder einmal ein gut gemeintes Roma-Projekt wirkungslos geblieben ist.

    "Zehntausende Gastarbeiter-Roma aus Jugoslawien leben schon seit den 1960er- und 1970er-Jahren unerkannt und unauffällig in Mittel- oder Westeuropa. Dass sie sich nicht zu erkennen geben, ist ein trauriges Zeichen dafür, dass es noch immer viele Vorurteile gibt. Dass sie sich aber so mühelos verstecken können, ist der Beweis, dass ihre Kultur eben nicht das Problem ist.""

    Schritt für Schritt werden auf diese Weise weitere Bilder hinterfragt. Was ist richtig an der Behauptung, dass hinter jedem Roma-Bettler eine Bettelmafia stehe? Was ist davon zu halten, wenn die Zeitungen berichten, dass bulgarische Roma aus Plovdiv von skrupellosen Menschenhändlern gezwungen würden, sich in Dortmund zu prostituieren? Das Buch "Arme Roma, böse Zigeuner" erhält seine Glaubwürdigkeit dadurch, dass es keine einfachen Antworten präsentiert. Stattdessen wird gezeigt, dass die Dinge oft viel komplizierter und vielfältiger sind, als es zunächst erscheint. Und am Schluss stellt der Autor dann eine überraschende Frage: Was wäre eigentlich, wenn es Roma überhaupt nicht gäbe? Gäbe es dann vielleicht ein einziges soziales Problem weniger?

    "Wenn es die Roma nicht gäbe, hätten wir einen freien Blick auf die Probleme. Auf das Problem Armut, auf das Problem Arbeitslosigkeit, das Problem Bildungsmisere, unterfinanziertes Gesundheitswesen. Und wir würden uns nicht diesen Blick verstellen durch Annahmen über den Charakter der Roma."

    Sozialpolitik statt Minderheitenpolitik lautet entsprechend die Schlussfolgerung eines äußerst lesenswerten Buches, das so gesehen auch als gelungener Versuch betrachtet werden kann, wie sich vielleicht doch angemessen über Roma schreiben lässt.

    "Ja, ich denke schon. Man muss darüber sprechen. Wenn man über Roma nicht spricht, spricht man über ein großes gesellschaftliches Problem nicht, über ein Armutsproblem nicht. Und das ist auch gerade die Funktion der Tatsache, dass man immer nur von den Roma sprechen oder auch nicht sprechen will. Man weigert sich die dahinter liegenden sozialen Probleme offen anzusprechen. Das muss man tun. Und wenn man es nicht anders tun kann als dass man über Roma spricht, dann muss man eben über Roma sprechen."