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Keine Entwarnung vor Vogelgrippe

Der Kampf gegen die Vogelgrippe spielt sich derzeit vor allem in fernen Ländern ab und macht deshalb in Europa nur wenig Schlagzeilen. Dennoch rüsten sich die deutschen Behörden für einen möglichen Krisenfall. Während sich die Experten einig sind, dass es noch keinen Grund gibt für eine Entwarnung, so sind sie sich weiterhin uneinig über den Ausbreitungsweg des Virus.

Von Dietrich Jörn Weder |
    Durch seine weitreichende Ausbreitung und Auswirkung unterscheidet sich das 1997 von Hongkong ausgegangene aggressive Vogelgrippe-Virus H5N1 von allen seinen harmloseren Vorläufern. Der Unterschied macht sich insbesondere darin bemerkbar, dass diese Seuchenform auch Wildvögel in weit auseinander liegenden Regionen der Welt befallen hat und töten kann. Das hat in Europa dazu geführt, dass insbesondere Seuchen-Sachverständige den Zugvögeln die Hauptschuld für die Ausbreitung des Übels in die Schuhe geschoben haben. Doch in diesem Punkt bekam man von internationalen Experten auf der elften Weltkonferenz des Seen-Netzwerkes Living Lakes im chinesischen Nanchang auch andere Ansichten zu hören. Für Dr. Scott Newman, den Vogelgrippe-Koordinator der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, ist und bleibt vorerst H5N1 eine vornehmlich agrarwirtschaftliche Seuche und eine Krankheit des Geflügels, die Rolle der Wildvögel als Virusverbreiter ist dagegen noch unklar:

    " Wir wissen zwar, dass die Zugvögel einige Entfernungen zurücklegen und dabei den Virus in sich tragen, wir wissen aber nicht wirklich, ob sie dabei unterwegs das Virus ausstreuen. Das ist eine Frage künftiger Untersuchungen, und hoffentlich werden diese Klarheit bringen."

    Ähnlich beurteilt auch Dr. Wolfgang Fiedler, Leiter der Vogelwarte Radolfzell, das Geschehen:

    " Das Virus kann auch über Wildvögel verbreitet werden, aber wir wissen praktisch nichts darüber, vor allem wissen wir nicht genug, um mit der Sicherheit, mit der das manche Stellen tun, zu behaupten, die Wildvögel bringen die Vogelgrippe. Was wir dagegen sicher wissen, dass die Menschen die Vogelgrippe bringen können, dafür gibt es sehr viele Beweise, seien es Transporte von Wildvögeln, von Vogelprodukten oder auch zum Beispiel von Hühnermist oder auch von verunreinigten Geräten, das ist erwiesen. Die Wildvögel sind nur deswegen im Gespräch, weil man sich für diese Fälle keine andere Erklärung geben kann. "

    Südostasien ist immer noch der Dreh- und Angelpunkt der Vogelgrippe. In Geflügelhaltungen, ob nun in Thailand, Vietnam, Kambodscha oder Indonesien, flackert die Seuche immer wieder auf. Hier gilt unbestritten der Handel mit Vögeln aller Art auf offenen Märkten, die Verbreitung auch von infiziertem Mist als Hauptansteckungsweg. Wild lebende Vögel in größerer Zahl sind dagegen selbst in diesem virus-verseuchten Weltteil nicht befallen, wie Dr. Taej Mundkur, indischer Experte der Umweltorganisation Wetlands International, zu berichten weiß. Überhaupt seien erstaunlich wenige Wildvögel H5N1-positiv:

    " Wir wissen, dass alle Tests oder fast alle Tests, die man quer durch Europa, Afrika und Asien gemacht hat, negativ ausgefallen sind, wenn man gesund aussehende Vögel zu Untersuchungszwecken gefangen und untersucht hat. Im Allgemeinen tragen Wildvögel den Virus nicht in sich, und das ist wichtig zu wissen."

    Unter allen 60.000 in Europa während der Seuchenausbrüche getesteten Wildvögeln waren laut Dr. Fiedler weniger als 0,1 Prozent von H5N1 befallen, und dieser Befund war auch nicht mit einer erhöhten Sterblichkeit unter den Zugvögeln in den Wintermonaten verbunden.

    Aber wie kam die Seuche nach Europa und wie konnten im letzten Winter in Deutschland, insbesondere um Rügen, insgesamt 344 Wildvögel dem Virus erliegen? Nach Meinung der Weltgesundheitsorganisation waren es Zugvögel , die eine hochaggressive Variante des Erregers aus Innerasien nach Westen getragen haben. Ausgangspunkt dieses Seuchenzugs soll der nordchinesische Qing-Hai-See gewesen sein, wo zwischen April und Juni vergangenen Jahres nicht weniger als sechstausend brütende Wasservögel, hauptsächlich Streifengänse, vom H5N1-Virus dahingerafft wurden, eine für die Wildvögel bis dahin einmalige Opferzahl. Auch hier ist das Seuchen auslösende Moment bisher unklar geblieben. Seuchen- und Vogelkundler liegen in dieser Sache bisher über Kreuz. Ornithologen kennen keine quer durch Asien nach Europa verlaufenden Vogelflugrouten, während sie eine Verbreitung längs der Handelswege von Geflügel, also zum Beispiel längs der Transsibirischen Eisenbahn, für um einiges wahrscheinlicher halten.

    Der Greifswalder Zoologe Manfred Niekisch empört sich über die voreilige Schuldzuweisung an die Wildvögel:

    " Das Erschreckende an der Geschichte mit der Vogelgrippe ist, wie die in den Medien hochgepuscht wurde, wie einseitig auch von Seiten einiger Seuchenmediziner argumentiert worden ist. Das Vogelgrippevirus hat sich ja bisher als bei weitem nicht so verbreitet und so gefährlich unter den Wildvögeln erwiesen, wie man dachte."

    Das Virus ist freilich in der Welt, und die Frage ist, was man gegen dasselbe tun kann, ehe es weiter um sich greift und vielleicht noch bösartiger wird. Die FAO hat mit der flächendeckenden Impfung des Geflügels in Vietnam allerbeste Erfahrungen gemacht und die zuvor im Land grassierende Seuche fast zum Stillstand gebracht. Dr. Wolfgang Fiedler rät, Gleiches auch in den großen Geflügelställen Europas zu tun, bis sich Resistenzen gegen das Virus bilden, und zwar am ehesten in der freien Wildbahn oder vielleicht auch in der so genannten Hinterhofhaltung mit ihrer Vielfalt an Geflügelrassen. Unter den genetisch fast identischen Zuchtvögeln, die in den Großställen zu Zehntausenden dicht beieinander sitzen, hat das Virus ein nur allzu leichtes Spiel.