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Keine Erweckungsbotschaften

Zwei Wochen lang wurde in Berlin das Theater gezeigt, das die Jury des Theatertreffens für das beste und eindringlichste hielt. Besseres Leben war auf der Bühne diesmal nicht zu haben.

Von Karin Fischer |
    Die Gesellschaft, die bei Dimiter Gotscheffs "Iwanow" an die Rampe der Volksbühne tritt, während Nebelschwaden die riesige Bühne zwei Stunden lang in eine undurchdringliche, alles verhüllende, trennende, vereinzelnde Ursuppe verwandeln, - diese Gesellschaft ist lächerlich und larmoyant, sie ist krank, komisch und kommunikationsgestört, sie ist nicht seelenlos, aber so entfremdet, wie das auf dem Theater lange nicht zu sehen war. Gestern standen wir noch am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.

    Der mit 10.000 Euro dotierte 3sat-Preis, mit dem eine "zukunftsweisende Leistung" aus dem Kreis der geladenen Inszenierungen ausgezeichnet wird, geht an Dimiter Gotscheff und also völlig in Ordnung. Der Regisseur zeigt "Iwanow" als "groteske Komödie einer Gesellschaft in Stagnation, als nacktes Seelenstück im Nebel der neuen Unübersichtlichkeit’, so formuliert die Jury, und bestätigt damit indirekt auch die Auswahl der anderen, der Theatertreffen-Jury. Denn nie war in den letzten Jahren deutlicher der Versuch zu spüren, mit den vorgestellten "bemerkenswertesten" Inszenierungen dem Theater auch etwas von seiner gesellschaftlichen Relevanz zurückzugewinnen. Deshalb dreimal Tschechow, dem aber jede Samowar-Gefühligkeit ausgetrieben ist. Stattdessen sehen wir jene latente Explosivität herauspräpariert, die etwa Felix Goeser als Stuttgarter "Platonow" zu einer Handgranate in den Beziehungsschlachten völlig sinnentleerter Dorfbewohner macht.

    Letzte Ausfahrt Sexualität könnte auch die klaustrophobische Inszenierung der "Drei Schwestern" von Jürgen Gosch aus Hannover überschrieben sein. Wie dieser Regisseur aus dem Elend der Stagnation eine psychologische Studie über das "Kraftwerk Liebe" und die Abgründe der Arbeitsgesellschaft herausgelesen hat, war schon beeindruckend. Und auch wenn Katharina Schüttler als Schaubühnen-Hedda-Gabler wegen Krankheit nur auf einer Videoleinwand zu sehen war: Die fast schlafwandlerisch ungerührte innere Aggressivität dieser jungen Frau, gespeist von Langeweile und Abstiegsangst, ist noch ein spätes Echo auf die verloren gegangenen Träume einer den Wohlstand gewohnten Generation, die heute jeglicher Hoffnung auf stabile Lebensverhältnisse beraubt scheint.

    Dem zeitdiagnostischen "Stillstandstheater", wie die Jury es nannte, stand ein im engeren Sinne politisches Theater gegenüber, das dennoch ganz unterschiedliche ästhetische Positionen formulierte. Der aus organisatorischen Gründen abwesende Christoph Marthaler liefert mit "Schutz vor der Zukunft" wohl den bedrückendsten Beitrag des Theatertreffens noch mal im Oktober nach. Sein Thema, "Menschenmaterial zwischen NS-Euthanasie und Biotechnik" ist ein leichthändig choreografierter, zum Weinen schöner musikalischer Abend, an dem Lust an der Komik und Mitleid mit der armen menschlichen Kreatur kathartisch geeint werden. Demgegenüber beanspruchen William Forsyth und Rimini Protokoll deutlicher den Intellekt: Ersterer mit einer tänzerischen Studie über die Zynismen des Krieges, mit deutlichem Seitenblick auf dessen mediale Vermittlung. Die ganze Arbeit beruht auf zwei Bildern, Lukas Cranachs Jesus am Kreuz und einer aktuellen Kriegsfotografie. Während Rimini Protokoll in der bewährten Form Laien auf die Bühne bringt, um das Schicksal von Schillers "Wallenstein" über die Themen Treue, Liebe, Verrat und Verlust an der Wirklichkeit heute zu spiegeln. Es treten unter anderm auf: ein abgeschossener CDU-Politiker aus Mannheim oder Kriegsveteranen aus Vietnam und dem Kosovo.

    Und der Filmemacher Andres Veiel hat mit "Der Kick" das Dokumentartheater um eine klassisch strenge Variante bereichert, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen rechtsradikalen Gewalt als das aktuellste Plädoyer der Spielzeit gelten darf. Gegen vorschnelles Verurteilen allerdings, und für das Hinhören.

    Drei Ausreißer gab es auch: einen nach unten, weil die Übertragung eines Textes von Amos Oz, "Allein das Meer", von Paul Binnert und der Kulturinsel Halle trotz schöner Momente inszenatorisch und schauspielerisch dem Vergleich nicht standhielt. Einen, dem der Ruf von wüsten Zumutungen vorauseilte, dessen Erregungspotenzial aber bis zum Theatertreffen schon ausgereizt war, "Macbeth" von Jürgen Gosch aus Düsseldorf. "Die Hölle, das sind die anderen", dieser Satz konnte hier genussvoll auf Bühne und Darsteller projiziert werden. Und einen ins Kunsthandwerkliche, der aber so intelligent und komisch gemacht war, dass man das schlechte Gewissen über das eigene Amüsement sofort wieder vergaß Sebastian Nübling hat aus München mit "Dunkel lockende Welt" von Händl Klaus einen abgrundtief oberflächlichen Kunstkrimi und den einzig wirklich kulinarischen Abend dieses Theatertreffens geliefert. Was, wie gesagt, Programm war.

    Dass das Berliner "Konzil", so lautete das diesjährige Motto der Versammlung von Theatergläubigen, so gar keine Erweckungsbotschaften zu verkünden hatte, war vielen allerdings zu wenig. Doch so ist das, wenn man Theater als Spiegel gesellschaftlicher Zustände ernst nimmt. Der Splitter im Auge des anderen sieht immer größer aus als das Brett vor dem eigenen Kopf. Und beides macht nicht unbedingt gute Laune. Der viel berätselte rauchende Bretterverschlag vor dem Haus der Berliner Festspiele war insofern doch ein gut gewähltes Symbol. Denn religiöse "Kultstätten" verlangten zwar blutige Opfer, versprachen im Gegenzug aber jenes bessere Leben, das auf der Bühne diesmal nicht zu haben war. Dafür leben wir noch. Gott sei Dank.