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Keine ganze normale Schule

Kay, Maria oder Ayhan waren immer woanders. Ein Jahr oder länger haben sie die Schule geschwänzt. Aus verschiedensten Gründen: Konflikte mit anderen Schülern, überforderte Lehrer, fehlende Eltern oder eine Clique mit schlechtem Einfluss. Sie haben stattdessen gejobbt oder sich auf der Straße rumgetrieben. Ein zukunftsweisendes Berliner Projekt, welches das Pestalozzi-Fröbel-Haus in Kooperation mit vier Kreuzberger Oberschulen und der Jugendhilfe leitet, bringt solche Jugendliche wieder auf die Schulbank - alles hartnäckige Schulverweigerer, die sonst aus dem System gefallen wären, ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Von Tina Hüttl | 22.12.2007
    Montag morgen, zwei Minuten vor neun. Eine Gruppe Jugendlicher steht am Treppenaufgang zu einem gelben Backsteinhäuschen, mitten in Berlin-Kreuzberg. Es ist kalt, so kalt, dass ihr Atem sichtbar wird. Einige ziehen noch hastig an ihrer Zigarette. Ein mitgebrachter Ghettoblaster dröhnt. Dass sie heute früh hier stehen, ist ein großer Erfolg:

    " Ich heiß Tutzi und geh schon seit Februar auf diese Schule, ist eigentlich die beste Schule, alles Luxus hier, nur paar Junkies, nein Spaß! "

    " Ich gehe auf diese Schule, diese Schule ist, weil Schwänzer oder so, die nicht zur Schule gehen, gehen hier rauf. Ganz normale Schule, bloß hier darf man rauchen. "

    Dann läutet die Glocke, Unterrichtsbeginn. So ganz normal ist hier eigentlich gar nichts. Wer hierher kommt, hatte schon lange keine Schule mehr von innen gesehen - viele von ihnen seit Jahren. Offiziell heißen sie schuldistanzierte Jugendliche, inoffiziell Schulverweigerer, Schwänzer.

    Nun werden sie in kleinen Gruppen zu je vier Schülern wieder langsam an den Unterricht herangeführt. 20 Jugendliche im Alter von 13 bis 16 Jahren nehmen an dem Projekt "Arbeiten und Lernen" teil, das Karl Antony von der Jugendhilfeeinrichtung Pestalozzi-Fröbel-Haus leitet:

    " Das Allerwichtigste ist überhaupt erst Mal Kontakt zu finden und zu gucken, dass jemand hier in Ruhe anfangen kann. Dass er hier den Zugang kriegt, ohne Angst. Dass er erlebt, hier gibt es Menschen, die sich um ihn kümmern, die ernst nehmen, was er bisher erlebt hat. Wir fragen sehr konkret nach, was brauchst du an Bedingungen, damit es hier besser läuft, damit du hier erfolgreich bist. Wo warst du beispielsweise erfolgreich in der Schule. Und was hättest du gerne hier wieder intensiv gelernt. "

    An positive Erfahrungen anknüpfen, das soll auch die Klasse von Renate Prothmann. Die große, energische Frau arbeitet ausschließlich am Pestalozzi-Fröbel-Haus, andere Lehrer kommen tageweise von Regelschulen. Ihre Schüler Kay, Maria und Thilo sitzen in einem kleinen Hufeisen. Der vierte, Ayhan, kommt zu spät, betritt mit lauter Musik das kleine Klassenzimmer. Die Unruhe ist groß, aber alle sind da.

    Gerade waren sie zwei Wochen in einem Betriebspraktikum - im Fahrradgeschäft, in einer Autowerkstatt. Heute Abend sollen sie das Erlebte in einem Vortrag vor Eltern präsentieren. Sie üben mit Overheadprojektor. Der eher zurückhaltende Kay macht den Anfang. Vor ihm liegen Folien mit einem selbstskizzierten Plan der Kfz-Werkstatt und Fotos von ihm bei der Arbeit. Vor Publikum zu sprechen, ist ihm unangenehm:

    " Meine Tätigkeiten waren meinem Kollegen helfen, Marco. Ähh, Ja. Wir hingen in der Werkstatt, haben Autos repariert und zusammen Kaffee getrunken und sonst was - aber das interessiert jetzt total überhaupt nicht. Jut, ähm, ja. "

    Prothmann: " Kurze Unterbrechung. Was könnte er jetzt machen, was kommt jetzt? "

    Kay: " Meine Räumlichkeiten beschreiben. "

    Prothmann: " Jaa! "

    Kay: " Bin doch gerade dabei. "

    Kai kommt in Fahrt, er redet fast 15 Minuten, es macht ihm Spaß. Demonstrativ legt Ayhan den Kopf auf die Bank, ein Handy klingelt, Maria hört mit einem Ohr Walkman. Vieles ist Schau, irgendwie interessiert es die Mitschüler doch. Als sie anschließend Kritik üben, wird deutlich, wie viel sie beobachtet haben. Kay ist mit sich zufrieden. Über anderthalb Jahre war er nicht mehr auf einer Schule, Kfz-Mechatroniker zu werden ist sein Traum.

    " Ich brauch die Schule dafür. Alleine würde ich so was nicht schaffen, da würde ich wieder zurückfallen in mein altes Schema. Geht gar nicht. Deswegen bin ich ja auch hier, ich hatte schon ordentliche, deftige Probleme. "

    Die Ziele jeden Schülers sind ganz unterschiedlich: Manche wollen wieder auf eine Regelschule zurückkehren, die meisten hier ihren Hauptschulabschluss machen. Das schaffen 18 von 20 Schülern. Ein wichtiges Rezept für den Erfolg des Projekts ist: Die Schüler orientieren sich auch beruflich. Denn der Unterricht in Mathe, Deutsch und Erdkunde macht nur die Hälfte aus. In der übrigen Zeit arbeiten sie in einem der werkpädagogischen Projekte - als Tischler, Schlosser, Elektroninstallateur, Steinmetz und im Gartenbau auf der angrenzenden Parkanlage.

    " Die Werkstätten hier führen nicht dazu, dass ein Schüler hier rausgeht und den Steinmetzgesellen machen könnte. Mir geht es darum, Grundfähigkeiten zu vermitteln, dass die Schüler merken, ich kann praktische Dinge umsetzen, ich habe diese handwerklichen Fähigkeiten. Ich kann sie auch ausbauen, und ich kann sogar selber steuern, wie gut, wie schnell ich vorankomme. "

    Norbert Pflaum ist gelernter Steinmetz und Sozialpädagoge. Im staubigen Kellergewölbe der Schule lernen seine Schüler gerade, wie man Initialen in Stein meißelt. Erhan ist überrascht, zum ersten Mal in seinem Schulleben hat er eine Zwei bekommen. Ganz normal ist hier eben gar nichts.

    " Wenn ich so einen Meister wie ihn habe, ist es kein Problem. Die Lehrer sind hier wie Freunde, nicht wie die andere Schule. "