"Die Medizin, seit sie wissenschaftlich geworden ist, versucht immer, den Menschen gläsern zu machen, also zu erkennen. Das ist auch gut so, und dazu sind diese Wissenschaften da."
"Problematisch wird es erst dann, wenn es in den Wesensbestand des Menschen geht, die Erbanlagen oder das menschliche Gehirn, wo das Steuerungszentrum für menschliche Handlungen liegt. Wenn der Mensch in dieser Hinsicht transparent würde, dann wird er durchsichtig, zu einem Knotenpunkt in einem kausalen Netzwerk, und dann wird der Mensch zu einem berechenbaren und manipulierbaren Größe."
"Ich würde sagen, dass da etwas Undurchsichtiges bleibt, weil aus diesem Undurchsichtigen heraus sich unsere Personalität und Sozialität generiert. Und ich sehe die Gefahr schon der bloßen Propagierung, dass es so etwas geben könnte wie einen gläsernen Menschen, dass wir das Übrige, was sich dem nicht unterwerfen lässt, ausblenden."
Röntgenbilder oder Ultraschall präsentieren schon lange ein Bild vom Körperinnern des Menschen. Was aber, wenn demnächst auch die menschliche Psyche durchleuchtet werden kann? Hirnscan ist das Schlüsselwort der letzten Jahre. Mittels Computertomografien werden Bilder von Gehirn erzeugt, die dieses sozusagen am Werk zeigen: Welche Bereiche im Gehirn sind aktiv, wenn jemand lügt? Oder die Wahrheit sagt? Oder sich an ein Ereignis aus seiner Vergangenheit falsch erinnert? Kann man Menschen mit kriminellen Neigungen gar an ihren Hirnaktivitäten erkennen? Der Mensch - demnächst eine transparente Persönlichkeit? Was vielen heute als Science-Fiction erscheint, kann angesichts des rasanten technischen Fortschritts morgen schon Wirklichkeit sein, meint Professor Thomas Zoglauer, Technikphilosoph an der Universität Cottbus:
"Denken Sie an das Klonen, da hat man vor 30 Jahren noch gedacht, das ist Utopie. Und dann wurde das Schaf Dolly geboren, und inzwischen weiß man, dass es ohne Weiteres möglich ist, auch Menschen zu klonen. Von daher muss diese Debatte rechtzeitig einsetzen und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist."
"Produzieren die Neurowissenschaften den gläsernen Menschen?" hieß eine Tagung, die vergangene Woche in Stuttgart stattfand. Hirnforscher, Philosophen, Theologen, Juristen trafen sich da, um über Fortschritte in den Neurowissenschaften zu diskutieren, vor allem aber über das Menschenbild, das der modernen Hirnforschung zugrunde liegt. Hans Markowitsch, Professor für physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld, war der wissenschaftliche Leiter der Tagung. Er berichtete zunächst über das, was Forscher heute im Gehirn sehen können:
"Der Bereich, wie weit man aus Hirnaktivitätsänderungen ableiten kann, was eine Person denkt, ob der lügt oder die Wahrheit sagt, ist in den USA in vielfältiger Forschung bearbeitet. In den USA gibt es auch schon Firmen, die sich vor Gerichten anbieten, ob die Person, die angeklagt ist, die Wahrheit sagt. Und es gibt auch Wettbewerbe, die veranstaltet werden, um aus Hirnaktivitätsmustern vorherzusagen, was die Person, dessen Hirnaktivität sichtbar ist, wahrnimmt. Wir haben auch Versuche gemacht, wo wir einmal Personen haben Erinnerungen aus ihrem Leben schildern lassen, und die anderen sollten Erinnerungen erfinden. Und wir haben auch da gefunden, dass auf die wahren Erinnerungen eine andere Art von Hirnaktivität produziert wird als auf die erlogenen Geschichten."
Solche Einblicke in die verborgenen Triebfedern menschlichen Handelns eröffnen ein ganz neues Feld von Kontrollmöglichkeiten. Werden demnächst Hirnscans vor Gericht zugelassen, damit die Wahrheit einer Aussage überprüft werden kann? Oder werden Kinder durchleuchtet, damit man sieht, ob sie Tendenzen zur Gewalttätigkeit in sich haben? Wird der Staat in Zukunft, wie Professor Peter Pantucek, Soziologe an der Fachhochschule Sankt Pölten, zu bedenken gab, präventiv bestimmte Bevölkerungsgruppen überprüfen und als Risikogruppen gar in Datenbanken erfassen und unter Beobachtung stellen?
"Dieser Paradigmenwechsel meint eine Verlagerung der Entscheidung vom Einzelfall zu einer generellen Vorentscheidung. Das heißt, es wird nicht mehr im Einzelfall entschieden, ob eine Person gefährlich ist oder nicht, sondern es ist immer schon vorentschieden, und es wird anhand von objektiv feststellbaren Merkmalen Personen dann zugeteilt. Sie haben keine Chance, das noch zu beeinflussen."
Vor zwei Wochen verbot das Bundeskabinett, dass Arbeitgeber Gendiagnosen ihrer Mitarbeiter verlangen dürfen. In ähnlicher Weise wird die Politik in Zukunft auch bei Fragen der Hirnforschung gefordert sein. Denn auch hier stellen sich ethische und rechtliche Fragen, inwieweit Einblicke in die Steuerungszentrale des Menschen - in sein Gehirn - statthaft sind.
"Ich denke, in Zukunft wird man mehr darüber nachdenken, ob man anhand von bestimmten Determinanten Risikogruppen zumindest zu erkennen trachtet und dann durch mögliche Überwachung verhindert will, dass es zur Ausübung von Straftaten kommt. Wie man mit derartigen Ergebnissen umgehen will, ist eine Frage von Politik und Gesellschaft: Das heißt, man muss sich dem stellen, dass man von der wissenschaftlichen Seite einige spezifische Determinanten erkennen kann, die über eine Persönlichkeit Auskunft geben. Da gibt es aber zunehmend auch ethische Kritikpunkte, wieweit derartige Forschung tatsächlich in die Praxis eingehen sollte, wieweit man damit den Menschen durchsichtig macht."
Unweigerlich wird irgendwann bei jeder Diskussion um den gläsernen Menschen das sogenannte Libet-Experiment zum Thema. Dabei wurde nachgewiesen, dass im Gehirn eines Probanden schon messbar ist, dass dieser zum Beispiel eine Hand heben wird, bevor dem Probanden selbst das bewusst ist. Der Hirnforscher John-Dylan Haynes, Schlussredner der Tagung, wiederholte dieses Experiment vor kurzem mit verfeinerten Methoden und veröffentlichte einen Aufsatz darüber:
"John D. Haynes hat seit Jahren Experimente in der Richtung gemacht. Eines seiner neuesten Experimente, es werden Zahlen vorgegeben, und die Versuchsperson muss sich entscheiden, will sie die Zahlen subtrahieren oder addieren. Und was er feststellen kann, dass bis zu zehn Sekunden vor der bewussten Entscheidung der Versuchsperson die Hirntätigkeit anzeigt, in welche Richtung die Entscheidung ausfallen wird. Der kann schon vorher richtig vorhersagen, die Person wird subtrahieren oder addieren."
Entscheidet also das Gehirn quasi an unserem Bewusstsein vorbei? Meinen wir, wir würden eine freie Entscheidung treffen, obwohl in unserem Kopf der Entschluss schon längst feststeht? Tun wir also, was wir wollen? Oder wollen wir, was wir tun? Prominente Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth - aber auch Hans Markowitsch - bestreiten aufgrund ihrer neurowissenschaftlichen Forschungen die Willensfreiheit des Menschen. Diese Freiheit sei eine Illusion. Das menschliche Handeln sei stattdessen berechenbar, bestehe aus einer Kette kausaler Verknüpfungen. Genetische Faktoren, frühe Prägungen, soziale Lernvorgänge aktivieren gewisse Hirnareale, reduzieren die Aktivität in anderen und bestimmen damit das menschliche Verhalten. Auch Hans Markowitsch ist Determinist:
"Das nehmen wir so wahr, wir bestimmen, wie die Umwelt ist und entsprechend fühlen wir uns frei, auf den Fußball zu hauen oder ein zweites Glas Wein zu trinken. Die andere Ebene ist eben die, wo man sagen muss, das ist eben nur eine Scheinwelt und eine Scheinfreiheit, weil, was dahinter und darunter sich befindet, zeigt, wir hätten gar nicht anders handeln können, als wir in dem Moment handeln."
Die Frage nach dem freien Willen stand auch in Stuttgart im Zentrum der Tagung. Ist der Mensch ein biologisch und sozial determiniertes Wesen, dessen Handlungen irgendwann einmal mit naturwissenschaftlichen Methoden prognostiziert werden können? Ist der freie Wille eine in die abendländische Kultur implantierte Idee, die zwar große Wirkungen erziele, jedoch in der Realität nicht vorzufinden sei?
Theologen und Philosophen fühlen sich durch solche Thesen gewöhnlich herausgefordert. So auch in Stuttgart. Was, wenn zum Beispiel ein Ehepaar sich nur noch mit dem Blick des Naturforschers betrachten würde, fragt der Theologe Dr. Dirk Evers von der Universität Tübingen. Wenn das Verhalten des Ehepartners als alleiniges, zwangsläufiges Resultat seiner "neuronalen Netzwerke" interpretiert würde? Das Paar würde den Respekt voreinander verlieren. Für Evers ist die Perspektive der Neurowissenschaftler eine Reduktion. Und gegen den gläsernen Menschen beharrt er darauf, dass in der Persönlichkeit des Menschen immer ein unauflösbares Geheimnis bleibe, das man anerkennen müsse.
"Ich meine damit den Bereich des Menschen, in dem er die Meinigkeit, die je eigene Individualität seiner Wünsche, seiner Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste erfährt. Und darin konstituiert sich seine Persönlichkeit. Ich würde sagen, wir müssen den Schutzraum respektieren, der die Autonomie und die Persönlichkeit eines Menschen darstellt, um nicht der sich selbsterfüllenden Prophezeiung zu verfallen, dass wir nichts anderes sind, als die Naturwissenschaft sagt. Und wir gehen auch mit uns um, als seien wir nichts anderes, und wir verlieren die Möglichkeit, uns als Persönlichkeiten und verantwortliche Menschen anzusprechen."
Ein Determinist allerdings wird die Vorstellung von menschlicher Autonomie als eine, wenn auch zwangsläufige, Fiktion abtun. Er gibt durchaus zu, dass der Mensch in einer fortwährenden Paradoxie lebt. "Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo einen freien Willen oder die eigene Verantwortung finden", beschrieb Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung einmal. Dennoch gehe er aber abends nach Hause und mache seine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben.
"Es ist eben der Zwiespalt zwischen uns als biologischen Wesen und uns als vernunftbegabten Wesen, weil: Von unserer Biologie sind wir unfrei, von Gehirn bedingt, und das macht uns gemein mit dem Tierreich, das Exzeptionelle, dass wir als Menschen vernunftbegabt sind, reflektieren können, lässt uns da frei erscheinen, läst uns in unserem Gedankenspiel spielhaft agieren. Und mit dem Zwiespalt muss man leben."
Durch die Diskussion um den gläsernen, den kalkulierbaren Menschen fühlt sich zunehmend auch das Strafrecht herausgefordert. Denn wenn es keinen freien Willen gibt, wenn alles determiniert ist, ist auch ein Mörder oder ein Betrüger für sein Handeln nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Dies erläuterte Professor Reinhard Merkel, Rechtswissenschaftler an der Universität Hamburg:
"Also jemand wie der Neurowissenschaftler Wolf Singer würde sagen, ja, die einen handeln rechtstreu und werden erfolgreiche Menschen im Leben, und die anderen werden eingesperrt, beide können gleichermaßen nichts dafür, dass sie so handeln, wie sie handeln. Zu den klassischen Voraussetzungen der Schuld gehört die, dass. das Anders-Handeln-Können sichtbar wird. In dem Moment des Handelns hätte der Täter auch anders handeln können, er hätte seine Straftat unterlassen können, das ist die primäre Bedingung, ihn für diese Tat verantwortlich zu machen. Und diese Prämisse, die gerät durch die neurowissenschaftlichen empirischen Ergebnisse immer mehr unter Druck."
Konnte der Straftäter also nicht anders, als seine Frau umzubringen? War Klaus Zumwinkels Gehirn auf Steuerhinterziehung in Lichtenstein programmiert? Sind beide deshalb also nicht schuldig zu nennen und können nicht bestraft werden? Fragen, die zumindest dem gesunden Menschenverstand recht abgedreht vorkommen. Mit Recht, meint Reinhard Merkel. Selbst wenn der freie Wille sich als Illusion erweisen sollte, müssen wir eine individuelle Schuld zumindest unterstellen. Und Strafen sei aus Gründen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit unerlässlich.
"Mein Schuldbegriff ist ein sozialer. Wir brauchen die Kategorie der individuellen Zuständigmachung für eigene Handlungen, um die gebrochenen Normen glaubhaft zu reparieren. Und das geht nur, sofern wir jemanden bezahlen lassen für seinen Normbruch. Sagen wir ,du bist einer von uns, du bist nicht geisteskrank, du verstehst die Welt genau so wie wir, dann behandeln wir dich als jemanden, dem wir etwas übel nehmen dürfen, wir nehmen dir es übel, sonst würden wir die von dir gebrochenen Normen nicht glaubhaft verteidigen. Sie reparieren einen Normbruch nur dann glaubhaft, wenn sie sagen, für das Vergangene muss er auch bezahlen. Das ist ein tragisches Element von Risiko im Schicksal des individuellen Menschen, möglicherweise kann jemand nicht dafür, dass jemand das geworden ist, was er ist."
Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, das wurde auf der Stuttgarter Tagung deutlich, stellen unser aufgeklärtes Menschenbild infrage. Sie bezweifeln letztlich die Mündigkeit des Menschen. Mehrfach freilich wurde auch der Vorwurf laut, die Neurowissenschaften verabsolutierten ihre eigenen Einsichten. Zum Beispiel bei Peter Pantucek, Soziologe an der Fachhochschule Sankt Pölten:
"Überzogen ist der Deutungsanspruch dort, wo Vertreter der Biowissenschaft meinen, ihre Erkenntnisse würden 2000 Jahre Philosophie wegwischen, die Ethik neu begründen. Das ist natürlich nicht der Fall, sie liefern interessante Beiträge zum Verständnis des Lebens und bestimmte Prozesses des Lebens, aber auch nur das."
Selbst unter Hirnforschern ist übrigens die Frage nach der Determiniertheit des Menschen nicht unumstritten. Ist also die Debatte um den gläsernen, kalkulierbaren Menschen, die Debatte um die Willensfreiheit nur eine weitere Runde in einer philosophischen Auseinandersetzung, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt? Auch wenn sie diesmal mit dem Anspruch auf naturwissenschaftliche Objektivität geführt wird? Der Laie ist verwirrt. Doch auch Reinhard Merkel, Strafrechtler aus Hamburg, hält die Frage nach der Autonomie des Menschen nach wie vor für ungelöst:
" Wir verstehen das Problem besser, wir sind aber einer Lösung nicht unbedingt näher als Platon. Und meine Meinung ist, das hängt damit zusammen, das wir ganz genuin den Zusammenhang von Geist und Gehirn nicht verstehen. Entschlüsse, die zu Handlungen führen, für die man im weitesten Sinne zur Verantwortung gezogen wird, sind im weitesten Sinne etwas Geistiges, sie beruhen aber auf physikalischen Zusammenhängen im Gehirn. Und diesen Zusammenhang verstehen wir nicht. Das ist das Elend der Freiheitsdiskussion, die Unklarheit des Zusammenhangs von Geist und Gehirn ist das Kernproblem des Freiheitsproblems."
Reinhard Merkel wählt deshalb die Haltung des Agnostikers. Ein Agnostiker ist jemand, der die Begrenztheit des menschlichen Wissens betont und aus Überzeugung sagt: Ich weiß es nicht! Der gegenüber letzten Antworten prinzipiell skeptisch bleibt. Auch Thomas Zoglauer, Technikphilosoph an der Universität Cottbus, macht sich diesen Standpunkt zu eigen. Einen Standpunkt der Bescheidenheit sozusagen - in einer aufregenden und zugleich aufgeregten Debatte:
"Ich glaube, dass man diese Fragen letztlich nie wird klären können, dass die Wissenschaft nie soweit kommen wird, dass sie eine endgültige Entscheidung darüber treffen kann, ob es eine Seele gibt, ob es Willensfreiheit gibt oder nicht, ich glaube, dass auch die Konstruktion von Willensfreiheit eine nützlich Konstruktion ist, weil sie die Zuschreibung einer Verantwortung ist. Dass man also den Menschen für eine Tat verantwortlich machen kann und nicht nur sein Milieu, seine Erbanlagen, sondern dass man einen Straftäter für seine Handlungen zur Rechenschaft ziehen kann."
"Problematisch wird es erst dann, wenn es in den Wesensbestand des Menschen geht, die Erbanlagen oder das menschliche Gehirn, wo das Steuerungszentrum für menschliche Handlungen liegt. Wenn der Mensch in dieser Hinsicht transparent würde, dann wird er durchsichtig, zu einem Knotenpunkt in einem kausalen Netzwerk, und dann wird der Mensch zu einem berechenbaren und manipulierbaren Größe."
"Ich würde sagen, dass da etwas Undurchsichtiges bleibt, weil aus diesem Undurchsichtigen heraus sich unsere Personalität und Sozialität generiert. Und ich sehe die Gefahr schon der bloßen Propagierung, dass es so etwas geben könnte wie einen gläsernen Menschen, dass wir das Übrige, was sich dem nicht unterwerfen lässt, ausblenden."
Röntgenbilder oder Ultraschall präsentieren schon lange ein Bild vom Körperinnern des Menschen. Was aber, wenn demnächst auch die menschliche Psyche durchleuchtet werden kann? Hirnscan ist das Schlüsselwort der letzten Jahre. Mittels Computertomografien werden Bilder von Gehirn erzeugt, die dieses sozusagen am Werk zeigen: Welche Bereiche im Gehirn sind aktiv, wenn jemand lügt? Oder die Wahrheit sagt? Oder sich an ein Ereignis aus seiner Vergangenheit falsch erinnert? Kann man Menschen mit kriminellen Neigungen gar an ihren Hirnaktivitäten erkennen? Der Mensch - demnächst eine transparente Persönlichkeit? Was vielen heute als Science-Fiction erscheint, kann angesichts des rasanten technischen Fortschritts morgen schon Wirklichkeit sein, meint Professor Thomas Zoglauer, Technikphilosoph an der Universität Cottbus:
"Denken Sie an das Klonen, da hat man vor 30 Jahren noch gedacht, das ist Utopie. Und dann wurde das Schaf Dolly geboren, und inzwischen weiß man, dass es ohne Weiteres möglich ist, auch Menschen zu klonen. Von daher muss diese Debatte rechtzeitig einsetzen und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist."
"Produzieren die Neurowissenschaften den gläsernen Menschen?" hieß eine Tagung, die vergangene Woche in Stuttgart stattfand. Hirnforscher, Philosophen, Theologen, Juristen trafen sich da, um über Fortschritte in den Neurowissenschaften zu diskutieren, vor allem aber über das Menschenbild, das der modernen Hirnforschung zugrunde liegt. Hans Markowitsch, Professor für physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld, war der wissenschaftliche Leiter der Tagung. Er berichtete zunächst über das, was Forscher heute im Gehirn sehen können:
"Der Bereich, wie weit man aus Hirnaktivitätsänderungen ableiten kann, was eine Person denkt, ob der lügt oder die Wahrheit sagt, ist in den USA in vielfältiger Forschung bearbeitet. In den USA gibt es auch schon Firmen, die sich vor Gerichten anbieten, ob die Person, die angeklagt ist, die Wahrheit sagt. Und es gibt auch Wettbewerbe, die veranstaltet werden, um aus Hirnaktivitätsmustern vorherzusagen, was die Person, dessen Hirnaktivität sichtbar ist, wahrnimmt. Wir haben auch Versuche gemacht, wo wir einmal Personen haben Erinnerungen aus ihrem Leben schildern lassen, und die anderen sollten Erinnerungen erfinden. Und wir haben auch da gefunden, dass auf die wahren Erinnerungen eine andere Art von Hirnaktivität produziert wird als auf die erlogenen Geschichten."
Solche Einblicke in die verborgenen Triebfedern menschlichen Handelns eröffnen ein ganz neues Feld von Kontrollmöglichkeiten. Werden demnächst Hirnscans vor Gericht zugelassen, damit die Wahrheit einer Aussage überprüft werden kann? Oder werden Kinder durchleuchtet, damit man sieht, ob sie Tendenzen zur Gewalttätigkeit in sich haben? Wird der Staat in Zukunft, wie Professor Peter Pantucek, Soziologe an der Fachhochschule Sankt Pölten, zu bedenken gab, präventiv bestimmte Bevölkerungsgruppen überprüfen und als Risikogruppen gar in Datenbanken erfassen und unter Beobachtung stellen?
"Dieser Paradigmenwechsel meint eine Verlagerung der Entscheidung vom Einzelfall zu einer generellen Vorentscheidung. Das heißt, es wird nicht mehr im Einzelfall entschieden, ob eine Person gefährlich ist oder nicht, sondern es ist immer schon vorentschieden, und es wird anhand von objektiv feststellbaren Merkmalen Personen dann zugeteilt. Sie haben keine Chance, das noch zu beeinflussen."
Vor zwei Wochen verbot das Bundeskabinett, dass Arbeitgeber Gendiagnosen ihrer Mitarbeiter verlangen dürfen. In ähnlicher Weise wird die Politik in Zukunft auch bei Fragen der Hirnforschung gefordert sein. Denn auch hier stellen sich ethische und rechtliche Fragen, inwieweit Einblicke in die Steuerungszentrale des Menschen - in sein Gehirn - statthaft sind.
"Ich denke, in Zukunft wird man mehr darüber nachdenken, ob man anhand von bestimmten Determinanten Risikogruppen zumindest zu erkennen trachtet und dann durch mögliche Überwachung verhindert will, dass es zur Ausübung von Straftaten kommt. Wie man mit derartigen Ergebnissen umgehen will, ist eine Frage von Politik und Gesellschaft: Das heißt, man muss sich dem stellen, dass man von der wissenschaftlichen Seite einige spezifische Determinanten erkennen kann, die über eine Persönlichkeit Auskunft geben. Da gibt es aber zunehmend auch ethische Kritikpunkte, wieweit derartige Forschung tatsächlich in die Praxis eingehen sollte, wieweit man damit den Menschen durchsichtig macht."
Unweigerlich wird irgendwann bei jeder Diskussion um den gläsernen Menschen das sogenannte Libet-Experiment zum Thema. Dabei wurde nachgewiesen, dass im Gehirn eines Probanden schon messbar ist, dass dieser zum Beispiel eine Hand heben wird, bevor dem Probanden selbst das bewusst ist. Der Hirnforscher John-Dylan Haynes, Schlussredner der Tagung, wiederholte dieses Experiment vor kurzem mit verfeinerten Methoden und veröffentlichte einen Aufsatz darüber:
"John D. Haynes hat seit Jahren Experimente in der Richtung gemacht. Eines seiner neuesten Experimente, es werden Zahlen vorgegeben, und die Versuchsperson muss sich entscheiden, will sie die Zahlen subtrahieren oder addieren. Und was er feststellen kann, dass bis zu zehn Sekunden vor der bewussten Entscheidung der Versuchsperson die Hirntätigkeit anzeigt, in welche Richtung die Entscheidung ausfallen wird. Der kann schon vorher richtig vorhersagen, die Person wird subtrahieren oder addieren."
Entscheidet also das Gehirn quasi an unserem Bewusstsein vorbei? Meinen wir, wir würden eine freie Entscheidung treffen, obwohl in unserem Kopf der Entschluss schon längst feststeht? Tun wir also, was wir wollen? Oder wollen wir, was wir tun? Prominente Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth - aber auch Hans Markowitsch - bestreiten aufgrund ihrer neurowissenschaftlichen Forschungen die Willensfreiheit des Menschen. Diese Freiheit sei eine Illusion. Das menschliche Handeln sei stattdessen berechenbar, bestehe aus einer Kette kausaler Verknüpfungen. Genetische Faktoren, frühe Prägungen, soziale Lernvorgänge aktivieren gewisse Hirnareale, reduzieren die Aktivität in anderen und bestimmen damit das menschliche Verhalten. Auch Hans Markowitsch ist Determinist:
"Das nehmen wir so wahr, wir bestimmen, wie die Umwelt ist und entsprechend fühlen wir uns frei, auf den Fußball zu hauen oder ein zweites Glas Wein zu trinken. Die andere Ebene ist eben die, wo man sagen muss, das ist eben nur eine Scheinwelt und eine Scheinfreiheit, weil, was dahinter und darunter sich befindet, zeigt, wir hätten gar nicht anders handeln können, als wir in dem Moment handeln."
Die Frage nach dem freien Willen stand auch in Stuttgart im Zentrum der Tagung. Ist der Mensch ein biologisch und sozial determiniertes Wesen, dessen Handlungen irgendwann einmal mit naturwissenschaftlichen Methoden prognostiziert werden können? Ist der freie Wille eine in die abendländische Kultur implantierte Idee, die zwar große Wirkungen erziele, jedoch in der Realität nicht vorzufinden sei?
Theologen und Philosophen fühlen sich durch solche Thesen gewöhnlich herausgefordert. So auch in Stuttgart. Was, wenn zum Beispiel ein Ehepaar sich nur noch mit dem Blick des Naturforschers betrachten würde, fragt der Theologe Dr. Dirk Evers von der Universität Tübingen. Wenn das Verhalten des Ehepartners als alleiniges, zwangsläufiges Resultat seiner "neuronalen Netzwerke" interpretiert würde? Das Paar würde den Respekt voreinander verlieren. Für Evers ist die Perspektive der Neurowissenschaftler eine Reduktion. Und gegen den gläsernen Menschen beharrt er darauf, dass in der Persönlichkeit des Menschen immer ein unauflösbares Geheimnis bleibe, das man anerkennen müsse.
"Ich meine damit den Bereich des Menschen, in dem er die Meinigkeit, die je eigene Individualität seiner Wünsche, seiner Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste erfährt. Und darin konstituiert sich seine Persönlichkeit. Ich würde sagen, wir müssen den Schutzraum respektieren, der die Autonomie und die Persönlichkeit eines Menschen darstellt, um nicht der sich selbsterfüllenden Prophezeiung zu verfallen, dass wir nichts anderes sind, als die Naturwissenschaft sagt. Und wir gehen auch mit uns um, als seien wir nichts anderes, und wir verlieren die Möglichkeit, uns als Persönlichkeiten und verantwortliche Menschen anzusprechen."
Ein Determinist allerdings wird die Vorstellung von menschlicher Autonomie als eine, wenn auch zwangsläufige, Fiktion abtun. Er gibt durchaus zu, dass der Mensch in einer fortwährenden Paradoxie lebt. "Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo einen freien Willen oder die eigene Verantwortung finden", beschrieb Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung einmal. Dennoch gehe er aber abends nach Hause und mache seine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben.
"Es ist eben der Zwiespalt zwischen uns als biologischen Wesen und uns als vernunftbegabten Wesen, weil: Von unserer Biologie sind wir unfrei, von Gehirn bedingt, und das macht uns gemein mit dem Tierreich, das Exzeptionelle, dass wir als Menschen vernunftbegabt sind, reflektieren können, lässt uns da frei erscheinen, läst uns in unserem Gedankenspiel spielhaft agieren. Und mit dem Zwiespalt muss man leben."
Durch die Diskussion um den gläsernen, den kalkulierbaren Menschen fühlt sich zunehmend auch das Strafrecht herausgefordert. Denn wenn es keinen freien Willen gibt, wenn alles determiniert ist, ist auch ein Mörder oder ein Betrüger für sein Handeln nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Dies erläuterte Professor Reinhard Merkel, Rechtswissenschaftler an der Universität Hamburg:
"Also jemand wie der Neurowissenschaftler Wolf Singer würde sagen, ja, die einen handeln rechtstreu und werden erfolgreiche Menschen im Leben, und die anderen werden eingesperrt, beide können gleichermaßen nichts dafür, dass sie so handeln, wie sie handeln. Zu den klassischen Voraussetzungen der Schuld gehört die, dass. das Anders-Handeln-Können sichtbar wird. In dem Moment des Handelns hätte der Täter auch anders handeln können, er hätte seine Straftat unterlassen können, das ist die primäre Bedingung, ihn für diese Tat verantwortlich zu machen. Und diese Prämisse, die gerät durch die neurowissenschaftlichen empirischen Ergebnisse immer mehr unter Druck."
Konnte der Straftäter also nicht anders, als seine Frau umzubringen? War Klaus Zumwinkels Gehirn auf Steuerhinterziehung in Lichtenstein programmiert? Sind beide deshalb also nicht schuldig zu nennen und können nicht bestraft werden? Fragen, die zumindest dem gesunden Menschenverstand recht abgedreht vorkommen. Mit Recht, meint Reinhard Merkel. Selbst wenn der freie Wille sich als Illusion erweisen sollte, müssen wir eine individuelle Schuld zumindest unterstellen. Und Strafen sei aus Gründen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit unerlässlich.
"Mein Schuldbegriff ist ein sozialer. Wir brauchen die Kategorie der individuellen Zuständigmachung für eigene Handlungen, um die gebrochenen Normen glaubhaft zu reparieren. Und das geht nur, sofern wir jemanden bezahlen lassen für seinen Normbruch. Sagen wir ,du bist einer von uns, du bist nicht geisteskrank, du verstehst die Welt genau so wie wir, dann behandeln wir dich als jemanden, dem wir etwas übel nehmen dürfen, wir nehmen dir es übel, sonst würden wir die von dir gebrochenen Normen nicht glaubhaft verteidigen. Sie reparieren einen Normbruch nur dann glaubhaft, wenn sie sagen, für das Vergangene muss er auch bezahlen. Das ist ein tragisches Element von Risiko im Schicksal des individuellen Menschen, möglicherweise kann jemand nicht dafür, dass jemand das geworden ist, was er ist."
Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, das wurde auf der Stuttgarter Tagung deutlich, stellen unser aufgeklärtes Menschenbild infrage. Sie bezweifeln letztlich die Mündigkeit des Menschen. Mehrfach freilich wurde auch der Vorwurf laut, die Neurowissenschaften verabsolutierten ihre eigenen Einsichten. Zum Beispiel bei Peter Pantucek, Soziologe an der Fachhochschule Sankt Pölten:
"Überzogen ist der Deutungsanspruch dort, wo Vertreter der Biowissenschaft meinen, ihre Erkenntnisse würden 2000 Jahre Philosophie wegwischen, die Ethik neu begründen. Das ist natürlich nicht der Fall, sie liefern interessante Beiträge zum Verständnis des Lebens und bestimmte Prozesses des Lebens, aber auch nur das."
Selbst unter Hirnforschern ist übrigens die Frage nach der Determiniertheit des Menschen nicht unumstritten. Ist also die Debatte um den gläsernen, kalkulierbaren Menschen, die Debatte um die Willensfreiheit nur eine weitere Runde in einer philosophischen Auseinandersetzung, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt? Auch wenn sie diesmal mit dem Anspruch auf naturwissenschaftliche Objektivität geführt wird? Der Laie ist verwirrt. Doch auch Reinhard Merkel, Strafrechtler aus Hamburg, hält die Frage nach der Autonomie des Menschen nach wie vor für ungelöst:
" Wir verstehen das Problem besser, wir sind aber einer Lösung nicht unbedingt näher als Platon. Und meine Meinung ist, das hängt damit zusammen, das wir ganz genuin den Zusammenhang von Geist und Gehirn nicht verstehen. Entschlüsse, die zu Handlungen führen, für die man im weitesten Sinne zur Verantwortung gezogen wird, sind im weitesten Sinne etwas Geistiges, sie beruhen aber auf physikalischen Zusammenhängen im Gehirn. Und diesen Zusammenhang verstehen wir nicht. Das ist das Elend der Freiheitsdiskussion, die Unklarheit des Zusammenhangs von Geist und Gehirn ist das Kernproblem des Freiheitsproblems."
Reinhard Merkel wählt deshalb die Haltung des Agnostikers. Ein Agnostiker ist jemand, der die Begrenztheit des menschlichen Wissens betont und aus Überzeugung sagt: Ich weiß es nicht! Der gegenüber letzten Antworten prinzipiell skeptisch bleibt. Auch Thomas Zoglauer, Technikphilosoph an der Universität Cottbus, macht sich diesen Standpunkt zu eigen. Einen Standpunkt der Bescheidenheit sozusagen - in einer aufregenden und zugleich aufgeregten Debatte:
"Ich glaube, dass man diese Fragen letztlich nie wird klären können, dass die Wissenschaft nie soweit kommen wird, dass sie eine endgültige Entscheidung darüber treffen kann, ob es eine Seele gibt, ob es Willensfreiheit gibt oder nicht, ich glaube, dass auch die Konstruktion von Willensfreiheit eine nützlich Konstruktion ist, weil sie die Zuschreibung einer Verantwortung ist. Dass man also den Menschen für eine Tat verantwortlich machen kann und nicht nur sein Milieu, seine Erbanlagen, sondern dass man einen Straftäter für seine Handlungen zur Rechenschaft ziehen kann."