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Keine Hausaufgaben, kein Diebstahl, keine Außenseiter

Rund 460 Schüler besuchen die staatliche Montessori-Gesamtschule in Potsdam. Angefangen hat die Einrichtung 1993 als ein Experiment für eine einzige Jahresstufe. Heute gilt die Schule als Vorzeigeprojekt, das beweist: Man kann auch an einer staatlichen Schule andere Wege gehen.

Von Marietta Schwarz | 06.01.2007
    Pubertierende Jugendliche ergreifen normalerweise jede Gelegenheit, um sich vor dem Schulunterricht zu drücken. Oder ihn zu stören. Bei Max, Konrad und Anton, alle drei in der siebten und achten Stufe der Montessori-Gesamtschule Potsdam, ist das anders. Und bei ihren Mitschülern angeblich auch.

    " Keine Lust haben gibt es bei uns nicht. Wenn jemand nicht arbeitet, hat er seine Pensenziel nicht gut, und dann ist es eben seine eigene Schuld, wenn er im Zeugnis nicht die Note hat, die er gedacht hat. "

    sagt Konrad, während er zusammen mit seinen Kumpels im Flur des alten Schulhauses den Wochenplan erklärt: Jeden Tag ab 9 Uhr führt der Lehrer in ein Schwerpunktthema ein, danach folgt die Freiarbeit. Alle Schüler haben ein so genanntes Pensenbuch, in dem bestimmte Lernziele vermerkt und Leistungen mit Buchstaben von A bis C bewertet werden. Ab der 9. Klasse gibt's richtige Noten. Freitags wird die kommende Woche geplant, jeder entscheidet individuell, wann er Mathe, Deutsch, Fremdsprachen oder andere Fächer belegt.

    " Die, die Verantwortung haben, machen das so, "

    sagt Anton. Die anderen kriegen ihren Stundenplan "verordnet", sich drücken geht also nicht. Lehrerin Frauke Friedrich ist davon überzeugt, dass gerade dieses offene Lernsystem die Kinder am Ball hält:

    " Ein wichtiger Punkt der Montessori-Pädagogik ist ja Disziplin und Freiheit. Also diese Balance zwischen diesen Polen zu halten. Und das loten wird täglich aus, besonders mit den Siebt- und Acht-Klässlern. "

    An diesem Vormittag beaufsichtigt Frauke Friedrich eine Geografie-Stunde. Die Schüler, diesmal sind es rund 15, beschäftigen sich gerade mit Afrika. In kleinen Gruppen sitzen sie an einem Tisch oder arbeiten alleine mit dem Blick aus dem Fenster oder zur Wand. Hier und da wird geflüstert, Blätter mit bunten Zeichnungen wechseln den Besitzer. Hin und wieder läuft jemand zur Mitte des Raumes, wo auf einem runden Teppich Bücher, Zeichnungen und Kartenmaterial bereit stehen. Einheitliche Schulbücher gibt es nicht, das Unterrichtsmaterial soll den Geist des Kindes anregen und ein selbstständiges Lernen ermöglichen, je nach Entwicklungsstand. Und da dieser in der Sekundarstufe höher ist als bei den Kleinen, gibt es hier auch kaum die typischen Montessori-Lernhilfen, die auf dem Prinzip basieren, Schwierigkeiten zu isolieren.

    " In der Sekundarstufe ist es auch wichtig, dass es nicht nur Material gibt, was man sich nimmt, sondern dass auch Dinge geschaffen werden von den jugendlichen, das ist ganz enorm wichtig, dass sie Werkstolz entwickeln, das haben wir gemacht. "

    Was Schulleiterin Ulrike Kegler hier anspricht, führen Anton, Konrad und Max kurze Zeit später in der Schulwerkstatt vor - dort ist ein frisch verleimtes, riesiges Holzboot aufgebockt.

    " Hier gibt es ein Projekt, um die Schule zu erneuern, hier ist auch der Kanubau. Die Kanus werden dann mit anderen Schulen geteilt und dann wird auch richtig Kanu gefahren. "

    Außerdem, erklärt Max, soll es demnächst einen Streichelzoo auf dem Schulhof geben:

    " Wir wollen jetzt ein Schwein und zwei Schafe auf dem Hof haben. Da wird hinten abgezäunt, und dann wird es eine AG geben, das war ein Vorschlag von den Kindern, und der wurde dann auch ernst genommen. "

    Kegler: " Die Freiheit der Wahl führt zur Entwicklung der Persönlichkeit, das ist unser Credo. "

    Nicht ohne Stolz blickt Schulleiterin Ulrike Kegler auf die letzten 13 Jahre zurück. Was als Experiment in einer Jahrgangsstufe begann, ist inzwischen zum Vorzeigeprojekt in Brandenburg, wenn nicht in der gesamten Republik, geworden. Man kann auch an einer staatlichen Schule andere Wege gehen, sagt sie, den Beweis liefern täglich ihre 460 Schüler, im Großen und Ganzen selbstbewusste, aufgeweckte Kinder. Kegler:

    " Das schafft man nur durch Zuwendung und individuelle Betreuung und individuelle, differenzierte Arbeit an dem Niveau des Einzelnen anknüpfend. So lange man alle zur selben Zeit das gleiche tun lässt, kann man nicht erwarten, dass man in Beziehung tritt. Das ist zwar Erziehung für alle, aber Beziehung heißt immer, dass Individuen miteinander zu tun haben, und das ist unsere Lehrmethode. "

    Diskussionen um Noten und Leistungen will Ulrike Kegler nicht mehr führen.

    " Weil Noten einfach falsch sind, "

    sagt sie fast ein bisschen genervt.

    " Noten spiegeln eine Objektivität vor, die sie nicht haben. Noten simplifizieren komplexe Vorgänge. "

    Und natürlich werden Lernziele formuliert und Hochbegabte gefördert. Aber es gibt eben auch die Integration von geistig Behinderten und Lernschwachen, was mitunter anstrengend, aber auf jeden Fall sinnvoll ist.

    " Wir lehnen die Sortierung von Schülern nach Leistung ab. Jugendliche lernen ganz viel voneinander, das ist der Sinn der Altersmischung. "

    Trotzdem gibt es ab der 9. Klasse Zensuren - um den Schülern den Weg in die Oberstufe zu ebnen. Einer von vielen Kompromissen, die man als staatliche Schule eingehen muss. Konsequent fände es Ulrike Kegler zum Beispiel, nach dem so genannten "Erdkinderplan" von Montessori pubertierende Jugendliche nicht zum Lernen in die Schule, sondern aufs Land zu schicken.

    " Es gibt Phasen, in denen kann man wunderbar akademisch lernen, und es gibt Phasen, in denen kann man das nicht.

    Das ist ein Kompromiss, was wir hier machen.

    Man muss in dieser speziellen Zeit andere Methoden anwenden, viele Projekte, Aufgaben, wo auch anrechenbare, sichtbare Ergebnisse sind. Und dann merkt man, Ende der 9. Jahrgangsstufe, wie sie jetzt wieder in das akademische Lernen kommen. "


    Am Ziel sieht sich Ulrike Kegler noch nicht. Demnächst sollen erstmal die Tafeln in den Klassenräumen abmontiert werden. Außerdem fehlt es in dem alten Schulgebäude an Nischen und Zwischenräumen, die ein offenes und jahrgangsübergreifendes Lernen begünstigen.

    Es ist kurz vor 11 und die Pause ist fast vorbei. Ein Knirps vergnügt sich immer noch mit den riesigen Schutzbrillen aus dem Chemieunterricht, die er übereinander auf seinem Gesicht verteilt hat. Max, Konrad und Anton werden sich gleich wieder ihrer Freiarbeit widmen, bevor es am Nachmittag mit den AGs weitergeht.

    Unten in der Eingangshalle steht mit Krakelschrift auf einem Plakat: "Empfehlungen für die Lesewoche", darunter sind handgemalte Buchumschläge von "Jurassic Park", "Die Brüder Löwenherz" und "Der kleine Dings" geklebt.