Personell ist die Frage, wo fängt man an? Wenn man vor 20 Jahren anfängt, dann war das eine Partei, die über 16.000 Mitglieder hatte, 1980. Und jetzt sind wir knapp unter 7.000. Insofern war auch der Apparat der Partei ein anderer, er war im hauptamtlichen Teil mehr als doppelt so groß zu dieser Zeit.
Hundert Kilometer weiter, in Hamburg, fast das gleiche Bild. Wolf Rüdiger Brocke, langjähriger Geschäftsführer der CDU in der Hansestadt, zeichnet ein düsteres Bild des Mitgliederstandes:
Die Zahlen sind in den letzten Jahren um ein Drittel zurückgegangen. Wir haben in Hamburg, obwohl wir den größten Anteil an jungen Mitgliedern haben, also bis 29, unter allen Landesverbänden, haben wir ein Durchschnittsalter von 50 Jahren. Da sind Mitglieder zu uns gekommen mit großem Idealismus, die uns auch die Treue gehalten haben, die sterben uns langsam weg.
Die CDU hat in den letzten beiden Jahren 30.000 Mitglieder verloren. Der SPD geht es kaum besser. Sie hatte in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik eine Million Genossen und zählt jetzt nur noch 730.000. Sie verliert die meisten Mitglieder durch Tod. Neueintritte sind demgegenüber rar. Die Folge: Der Altersaufbau wird immer ungünstiger. Das Bild bestimmen Angehörige der einstigen Protestgeneration, die in den 70iger Jahren zu Hunderttausenden in die Partei eintraten. Heute kann Matthias Machnig, Bundesgeschäftsführer der SPD und rechte Hand von Generalsekretär Franz Müntefering, auf diese Alten nicht unbedingt mehr zählen:
Wir haben in der SPD etwa einen Aktivitätsgrad zwischen 12 und 14 Prozent. Das heißt, 12 bis 14 Prozent unserer gesamten Mitglieder sind aktiv. Und das heißt, bei gut 700.000 haben wir einen Aktivitätsgrad irgendwo zwischen 70 und 100.000. Wir haben ungefähr genauso viele Funktionen in der Partei zu besetzen vom Ortsverein über Unterbezirke, zu Landesverbänden, über Bezirke zum Parteivorstand inklusive der Mandate. Und damit ist man heute schon rein rechnerisch in einer Situation, wo theoretisch jeder Aktive zumindest eine Funktion übernehmen müsste, um insgesamt die Organisation aufrechtzuerhalten.
Ganz schlecht sieht es in Ostdeutschland aus. In der gesamten ehemaligen DDR hat die SPD nicht mehr Mitglieder als beispielsweise in ihrem mehr oder weniger unbedeutenden Bezirk Rheinland - Hessen - Nassau:
Wir haben in Ostdeutschland seit zehn Jahren kontinuierlich die gleichen Mitgliedszahlen. Sie liegen bei 26.000 Mitgliedern in Ostdeutschland. Und das hat auch zum Beispiel die Konsequenz, dass wir bei Ratsmandaten auf der SPD-Liste in einem nicht unerheblichen Umfang auch Nichtmitglieder haben, die dann für die SPD dort kandidieren, auch im Rat tätig sind, aber die nicht wirklich in die Parteistrukturen eingebunden sind.
Heute ist es eben selbst für politisch interessierte Menschen nicht mehr unbedingt selbstverständlich, in eine Partei oder Gewerkschaft einzutreten. Wissenschaftler sprechen schon seit langem vom Trend zur Individualisierung: Der Bürger fragt immer öfter, was ihm persönlich ein bestimmtes Engagement denn bringt? Ob es auch Spaß macht? Häufig wird kein Sinn mehr in einer festen, gar lebenslangen Mitgliedschaft gesehen, meint der Hamburger Politologe Michael Greven:
Die Menschen binden sich ungern dauerhaft, sie bevorzugen punktuelle Engagements für spezielle Gesichtspunkte und die Logik einer Parteimitgliedschaft, in der man sich der Tendenz nach lebenslang zu einer Organisation verpflichtet, widerspricht einer Kalte-Büfet-Mentalität, wo man sozusagen Häppchen auswählt, sich einmal hier engagiert, einmal da, einmal für dieses, einmal für jenes ohne aber immer gleich das ganze Paket einzukaufen.
Dieser Trend ist besonders ausgeprägt bei jungen Leuten. Nur die wenigsten haben Lust, in eine Partei einzutreten, bestätigt Julian Wolf vom Corvey-Gymnasium in Hamburg:
Ich kenn' niemanden, der von meinen Freunden oder Bekannten in einer Partei Mitglied ist, insofern habe ich selber auch kein wirkliches Interesse, in einer Partei Mitglied zu werden.
Die große Parteien konkurrieren heute mit sogenannten Events, mit dem Fernsehen, seinen Talkshows und Entertainment-Angeboten. Wer sich schnell und kompetent politisch informieren will, der braucht keine Partei, der sieht am Sonntag-Abend in der ARD die Sendung "Christiansen" oder ähnliche Polit-Formate, die allemal interessanter sind, als ein Politik-Abend in einem durchschnittlichen Ortsverein der CDU, so der frühere Hamburger Geschäftsführer Brocke:
Es gibt immer noch die klassische Form, es kommt der Redner, Abgeordneter soundso, der für sich auch ganz gut sein mag. Dann gibt es eine Diskussion. Und dann ist die Versammlung beendet.
Die Basis der politischen Großorganisationen, das sind die Betriebs- und Ortsgruppen. Deren Zustand wird zuweilen von führenden Partei-Managern als so erbarmungswürdig beschrieben, dass sich eine Mitgliederwerbung erst gar nicht lohnt. So beklagen Verantwortliche in der SPD, dass viele Mitglieder innerhalb der ersten drei Jahre wieder austreten. Bittere Erkenntnis: Wer sich endlich zum Eintritt entschlossen hat, der bleibt alsbald wieder weg. Den Bremer Jungsozialisten und Jura-Studenten Thomas Emke, mit 22 Jahren derzeit der jüngste SPD-Abgeordnete in einem Länderparlament, wundert das nicht:
Erstens, es kennen sich alle. Gerade, wenn nicht so viele junge Leute eintreten, dann hat man da eine geschlossene Runde. Jeder der reinkommt, ist dann möglicherweise fremd. Da wird man zwar noch freundlich begrüßt: "Schön, dass du da bist, stell dich doch mal vor". Aber ganz häufig spielt man dann auch keine Rolle mehr, so ähnlich, als würde man sich in einem Restaurant an einen fremden Tisch setzen, wo man gar nicht hingehört, wo eine lustige Kegelgemeinschaft ihr Bier trinkt und man sitzt da auf einmal zwischen und sagt: "Ich bin auch da", und die sagen: "Was willst du denn hier".
In der Bremer SPD zum Beispiel sind heute über 40 Prozent der Mitglieder älter als 60 Jahre. Zum Vergleich: Nur zwei Prozent sind jünger als 25 Jahre. Für die Genossen - und die SPD steht hier nur stellvertretend für alle Großorganisationen - die der Partei ein Leben lang die Treue gehalten haben, hat der Ortsverein eine große emotionale Bedeutung. Als eine Basisgruppe, von der politische Impulse ausgehen, taugt er allerdings nur noch bedingt. Oftmals sind die Reihen bereits ausgedünnt, das Engagement ist erlahmt. Beispiel: Plakate kleben, früher eine klassische Tätigkeit der Parteiaktivisten. Wenn die Partei diese Arbeit gegen Bezahlung an Fremdfirmen vergibt, schimpft die Basis. Doch bleibt der Zentrale kaum etwas anderes übrig:
Es funktioniert eigentlich nicht mehr. Aber das ist ein Punkt. Wenn man dann vor Ort fragt, dann sagen sie natürlich alle, dass in ihren Ortsverein das trotzdem noch funktioniert, was objektiv aber nicht der Fall ist. Und wir denken für die Zukunft über solche Lösungen nach.
Die Schere zwischen dem, was die Basis bietet und dem, was die aufstrebenden Polit-Jung-Manager in den Parteizentralen für nötig halten, wächst unaufhaltsam. Gerade die mittlere Funktionärsebene, die zu Recht einen Machtverlust fürchtet, widersetzt sich häufig den Reformwünschen der Führung, so der Bremer Landesgeschäftsführer Roland Pahl:
Es wäre sicherlich in einigen Bereichen sinnvoll, damit die Arbeit auch befruchtet wird, Ortsvereine in ihrer Größe zu verändern, also auch zusammenzuführen, damit sie wieder richtig Kraft haben zu arbeiten. Aber wenn es aus drei Ortsvereinsvorsitzenden nur noch einer wird, dann verlieren zwei die Funktion.
Dabei ist festzustellen, dass dann, wenn die Partei gute Angebote macht, das Interesse an politischer Arbeit durchaus wieder steigt. So machte die Bremer SPD im letzten Jahr einige offene Diskussionsforen, ....
.... die sehr, sehr gut besucht waren, die öffentlich waren, wo weniger als 50 Prozent Mitglieder waren. Und der Anteil von Mitgliedern waren dann solche, die wir schon lange nicht mehr gesehen haben, weil dann Themen kamen wie Stadtentwicklung, was passiert mit bestimmten Verkehrsführungen in Stadtteilbereichen. Was problematisch ist, sind die Strukturen der Ortsvereine. Das passt nicht mehr und dort finden eigentlich nicht mehr so die Debatten statt. Aber das Interesse an Politik und an politischen Entscheidungen ist damit ja nicht negiert, sondern das ist vorhanden. Je direkter die Betroffenheit da ist, umso unbedingter.
Von der viel zitierten "Politikverdrossenheit" also kaum eine Spur. Selbst von einer allgemein "unpolitischen Jugend" kann man nicht sprechen. Der Jungsozialist Thomas Ehmke zitiert aktuelle Untersuchungen:
Sämtliche Jugendstudien belegen etwas ganz anderes. Wir haben einen ganz, ganz leichten Rückgang des politischen Interesses von 53 auf 48 Prozent bei den jungen Leuten. Aber jeder zweite sagt: "Ich habe politisches Interesse". Wenn ich mir die Jugendstudien angucke, was für Interessen haben die jungen Leute, dann stehen oben die Freunde, die Familie, das soziale Umfeld. Kollektive Elemente stehen da im Vordergrund. Und vor dem Hintergrund glaube ich nicht, dass es an einem mangelnden Interesse an Politik liegt. Sondern das Problem ist, Politik ist durchaus noch interessant. Oder, ich sag mal, gesellschaftliche Themen. Engagement ist auch durchaus "in", aber Parteien, die sind völlig out. Parteien sind in der Ranking-Liste "Was finden Jugendliche besonders ätzend" zweiter Sieger. Die kommen knapp vor den Kirchen oder hinter den Kirchen, aber ansonsten gibt es kaum etwas Unangenehmeres, was sich junge Menschen vorstellen können.
Wie leicht sich Jugendliche für eine in ihren Augen lohnenswerte Sache mobilisieren lassen, dafür gibt es immer wieder Beispiele auch aus jüngster Zeit. So versuchten zehntausende von Schülern und Studenten den Atomtransport ins Wendland aufzuhalten. Ähnliches gilt weltweit für die Aktionen gegen die Globalisierung. Von ihnen fühlt sich etwa der Hamburger Gymnasiast Janusz Korz angesprochen, der einst die Hamburger Grünen frustriert verlassen hat:
Die Globalisierungsgegner, das klingt schon sehr interessant, das hat keine wirklich festen Strukturen. Die Organisation hat ja nicht mal ein festes Programm. Aber es ist etwas, wo man eintreten kann, wo man das Gefühl hat, man kann auch in der Organisation was machen, per Internet halt mit Leuten über die gesamte Welt darüber diskutieren. Dann halt auch diese Proteste, dann hat man halt das Gefühl, da gucken die Leute hin, da gucken die Medien hin, da tut sich was.
Für eine gute Arbeit brauchen die Organisationen gutes Personal. Daran hapert es aber häufig. Bislang galt etwa in der Politik das Leistungsprinzip nur sehr eingeschränkt. Da werden Berufspolitiker, die in ihrem Leben noch nie etwas anderes gemacht haben als Politik, schnell zu einer Belastung, so Hamburgs langjähriger CDU-Geschäftsführer Wolf Peter Brocke, der schon Mitglied in diversen innerparteilichen Reformkommissionen war:
Wenn jemand sein ganzes Leben Politik macht und auf die Entlohung aus der Politik angewiesen ist, dann kämpft er natürlich wie wild und mit allen Mitteln, um das Amt zu behalten, weil es seine Einkommensquelle ist und weil es ihm einen zusätzlichen guten Lebensstandard verschafft.
Immer nach großen Wahlschlappen versprechen Parteien, alles anders machen zu wollen. Anfang der neunziger Jahre verabschiedete die Hamburger CDU ein innerparteiliches Reformprogramm. Wolf Rüdiger Brocke war damals wesentlich an der Ausarbeitung beteiligt. Einer seiner Vorschläge lautete damals,...
... dass man in der Mitte einer Legislaturperiode die Abgeordneten in irgendeiner Form benotet oder in ihnen sagt, Deine Leistung ist sehr gut oder Deine Leistung ist schwach und wenn Du Dich nicht anstrengst, dann mußt Du damit rechnen, dass die Partei Dich möglicherweise nicht wieder aufstellt. Im normalen Berufsleben sind die, die nicht fleißig sind, normalerweise am Ende. In der Politik ist das nicht ganz so. Das wollten wir abstellen. Dagegen hat sich aber die Partei gewehrt, natürlich auch die Mehrheit von Betroffenen.
An wohlfeilen Reformüberlegungen hat es nie gefehlt - spöttisch ist bereits die Rede vom immer wieder kehrenden "Modernisierungsgeklingel", das meistens allerdings ohne Folgen bleibt. Die CDU entwickelte schon Ende der achtziger Jahre erste Reformvorstellungen, verbunden mit dem Namen des damaligen Generalssekretärs Radunski.
Nach der Bundestagswahl 1998, als die CDU mit 35,1 Prozent ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis erzielte, unternahm die Partei einen erneuten Reform-Anlauf. Generalsekretär Laurenz Meyer präsentierte weitreichende Vorschläge:
Erstens: Die Kandidaten sollten künftig in Urwahlen, also auf Mitgliederversammlungen gewählt werden.
Zweitens: Amtszeiten sollten auf neun Jahre begrenzt werden.
Drittens: Ein Parteimitglied dürfe künftig maximal nur drei Parteiämter gleichzeitig ausüben, um der Ämterhäufung zu entgehen.
Viertens: Kandidaten für das Parlament sollten Berufserfahrung haben.
Das war im April 2000. Der Aufstand der Funktionäre ließ nicht lange auf sich warten. Heute ist das Papier vom Tisch, jetzt hat sich die Reformkommission den Parteitag 2003 als nächstes Ziel gesetzt, nach den Bundestagswahlen.
Noch sind die Großparteien Massenorganisationen, noch spricht ihnen kaum jemand öffentlich die Kompetenz ab, politische Repräsentanten aufstellen und wählen zu lassen. Derzeit erkennt der Hamburger Politikwissenschaftler Michael Greven - selbst bei einer hohen Zahl von Nichtwählern - insgesamt noch keinen Legitimitätsverlust:
In funktionaler Hinsicht ändert sich bei abnehmender Parteimitgliedschaft und ich verfüge noch hinzu, bei abnehmender Wahlbeteiligung im Grunde genommen gar nichts. Die Parlamentssitze werden proportional verteilt, unabhängig davon, ob sich 80 Prozent oder 50 Prozent an der Wahl beteiligen und die Kandidaten werden aufgestellt und den Wählern zur Wahl angeboten, unabhängig davon, ob die viel oder wenig Mitglieder haben.
Doch wie schnell sich Legitimationskrisen einstellen können, darauf geben die Erfolge des Rechtspopulisten Ronald Schill einen Vorgeschmack. Der Hamburger bekam mit seiner Schill-Partei aus dem Stand heraus bei der letzten Bürgerschaftswahl fast 20 Prozent der Wählerstimmen.
Schon deshalb darf den alten Parteien nicht egal sind, ob sie in der Mitte der Gesellschaft stehen, oder schon am Rande. Sie suchen nach veränderten Formen und finden sie am ehesten im Bereich des Marketing. Ohne dass dies offen ausgesprochen wird, nehmen sie Abschied von einer heiligen Kuh, der "Mitgliederpartei" alter Couleur. Der Hamburger Politologe Michael Greven sieht eine solche Entwicklung voll im Modernisierungstrend:
Die heute sehr professionell geführten Parteizentralen gehen in diese Richtung "Kampagnenpartei". Das heißt, natürlich sind Mitglieder willkommen, aber man hält sich mit Mitgliederwerbungsprogrammen, Mitgliederbeschäftigung und -pflege nicht besonders auf. Wichtiger erscheint die Mobilisierungsfähigkeit eines Sympathisantenmilieus, man muss wissen, wen man mobilisieren kann, man braucht Adressen, Karteien, die Leute werden zu Großveranstaltungen attraktiver Art im Vorfeld von Wahlkämpfen zusammengezogen, das ist es dann.
"Öffnung" heißt das Gebot der Stunde, das Mitmachen soll nicht mehr unbedingt an eine formale Parteimitgliedschaft geknüpft werden. In Mülheim an der Ruhr öffnete die Sozialdemokraten ihre Kandidatenliste für die Bundestagswahl und belebten die Szene. Plötzlich bewarben sich sieben Personen um die Direktkandidatur, darunter auch Nichtmitglieder, die sich den Ortsvereinen vorstellten.
Doch das ist - noch - eine Ausnahme. Selbst Franz Münteferings Diktum, im nächsten Bundestag sollten über die SPD-Liste "zehn von außen" sitzen, wird sich kaum umsetzen lassen. Zu stark ist das Konkurrenzgerangel, zumal der nächste Bundestag gegenüber dem jetzigen um etwa 60 Abgeordnete kleiner sein wird.
Doch zarte Pflanzen der Öffnung gibt es. In der SPD-Zentrale, aber auch in den Landesbezirken, macht das Schlagwort von der "Netzwerkpartei" die Runde. Ein Schlüsselbegriff für Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig:
Zunächst einmal: Die Netzwerkorganisation muss eine Ergänzung sein der klassischen Parteistrukturen. Das heißt, dass wir Netzwerke aufbauen müssen zum Beispiel zu bestimmten Sachfragen. Man muss mit den besten Ideen im Gespräch sein. Ein anderes Beispiel: Bestimmte Milieus, die wir über unsere Mitgliedschaft im Moment nicht erreichen, die kann ich gezielt ansprechen. Ich habe ein Netzwerk "Young-Management" aufgebaut. Dort bin ich ganz gezielt im Gespräch mit jüngeren Führungspersonen aus der IT-Branche, denen wir eine Plattform bieten, mit uns im politischen Gespräch zu sein.
Zudem sollen die Rechte des einzelnen Mitglieds gestärkt werden. Mehrfach hat die SPD bereits - mit wechselndem Erfolg - Spitzenkandidaten nicht mehr durch Delegierte, sondern die gesamte Parteibasis wählen lassen - früher ein Unding, zuletzt wurde Ute Voigt auf diese Weise zur Spitzenkandidatin für die Landestagswahl in Baden-Württemberg gekürt. Selbst Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild schließt die Parteispitze nicht mehr aus. Dort werden die Kandidaten nicht allein von Parteimitgliedern, sondern auch von Nichtmitgliedern ausgewählt.
Gegen diese, wie es heißt: "Amerikanisierung", hat sich allerdings schnell innerparteilicher Widerstand formiert. Warum soll man überhaupt noch Mitglied sein, wenn auch Nichtmitglieder wählen dürfen? Der SPD-Parteivorstand hat diesen Vorschlag zunächst einmal erschrocken zurückgezogen. Matthias Machnig ist sich allerdings sicher, dass diese Art Vorwahlen so oder so kommen werden:
Wir haben die Untergliederungen aufgefordert, möglichst breite Beteiligung zunächst mal der Mitglieder sicher zu stellen. Diesen Prozeß wollen wir auswerten und dann die Debatte über die Vorwahlen weiterführen. Ich glaube, über kurz oder lang wird es diese Entwicklung geben und es ist für mich nur die Frage, welche Partei zuerst diesen Weg gehen wird, wir oder andere.
Alle großen gesellschaftlichen Organisationen in Deutschland verloren in den letzten Jahren zwischen einem Drittel und einem Viertel ihrer Mitglieder. Diese Krise kann auf lange Sicht existenzgefährdend sein. Oder aber ein überfälliger Anlass, ein paar der Reformvorschläge durchzusetzen, die seit nunmehr zehn Jahren gebetsmühlenartig wiederholt werden: Öffnung der Parteien für andere Personen und neue Politikstile.
Hundert Kilometer weiter, in Hamburg, fast das gleiche Bild. Wolf Rüdiger Brocke, langjähriger Geschäftsführer der CDU in der Hansestadt, zeichnet ein düsteres Bild des Mitgliederstandes:
Die Zahlen sind in den letzten Jahren um ein Drittel zurückgegangen. Wir haben in Hamburg, obwohl wir den größten Anteil an jungen Mitgliedern haben, also bis 29, unter allen Landesverbänden, haben wir ein Durchschnittsalter von 50 Jahren. Da sind Mitglieder zu uns gekommen mit großem Idealismus, die uns auch die Treue gehalten haben, die sterben uns langsam weg.
Die CDU hat in den letzten beiden Jahren 30.000 Mitglieder verloren. Der SPD geht es kaum besser. Sie hatte in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik eine Million Genossen und zählt jetzt nur noch 730.000. Sie verliert die meisten Mitglieder durch Tod. Neueintritte sind demgegenüber rar. Die Folge: Der Altersaufbau wird immer ungünstiger. Das Bild bestimmen Angehörige der einstigen Protestgeneration, die in den 70iger Jahren zu Hunderttausenden in die Partei eintraten. Heute kann Matthias Machnig, Bundesgeschäftsführer der SPD und rechte Hand von Generalsekretär Franz Müntefering, auf diese Alten nicht unbedingt mehr zählen:
Wir haben in der SPD etwa einen Aktivitätsgrad zwischen 12 und 14 Prozent. Das heißt, 12 bis 14 Prozent unserer gesamten Mitglieder sind aktiv. Und das heißt, bei gut 700.000 haben wir einen Aktivitätsgrad irgendwo zwischen 70 und 100.000. Wir haben ungefähr genauso viele Funktionen in der Partei zu besetzen vom Ortsverein über Unterbezirke, zu Landesverbänden, über Bezirke zum Parteivorstand inklusive der Mandate. Und damit ist man heute schon rein rechnerisch in einer Situation, wo theoretisch jeder Aktive zumindest eine Funktion übernehmen müsste, um insgesamt die Organisation aufrechtzuerhalten.
Ganz schlecht sieht es in Ostdeutschland aus. In der gesamten ehemaligen DDR hat die SPD nicht mehr Mitglieder als beispielsweise in ihrem mehr oder weniger unbedeutenden Bezirk Rheinland - Hessen - Nassau:
Wir haben in Ostdeutschland seit zehn Jahren kontinuierlich die gleichen Mitgliedszahlen. Sie liegen bei 26.000 Mitgliedern in Ostdeutschland. Und das hat auch zum Beispiel die Konsequenz, dass wir bei Ratsmandaten auf der SPD-Liste in einem nicht unerheblichen Umfang auch Nichtmitglieder haben, die dann für die SPD dort kandidieren, auch im Rat tätig sind, aber die nicht wirklich in die Parteistrukturen eingebunden sind.
Heute ist es eben selbst für politisch interessierte Menschen nicht mehr unbedingt selbstverständlich, in eine Partei oder Gewerkschaft einzutreten. Wissenschaftler sprechen schon seit langem vom Trend zur Individualisierung: Der Bürger fragt immer öfter, was ihm persönlich ein bestimmtes Engagement denn bringt? Ob es auch Spaß macht? Häufig wird kein Sinn mehr in einer festen, gar lebenslangen Mitgliedschaft gesehen, meint der Hamburger Politologe Michael Greven:
Die Menschen binden sich ungern dauerhaft, sie bevorzugen punktuelle Engagements für spezielle Gesichtspunkte und die Logik einer Parteimitgliedschaft, in der man sich der Tendenz nach lebenslang zu einer Organisation verpflichtet, widerspricht einer Kalte-Büfet-Mentalität, wo man sozusagen Häppchen auswählt, sich einmal hier engagiert, einmal da, einmal für dieses, einmal für jenes ohne aber immer gleich das ganze Paket einzukaufen.
Dieser Trend ist besonders ausgeprägt bei jungen Leuten. Nur die wenigsten haben Lust, in eine Partei einzutreten, bestätigt Julian Wolf vom Corvey-Gymnasium in Hamburg:
Ich kenn' niemanden, der von meinen Freunden oder Bekannten in einer Partei Mitglied ist, insofern habe ich selber auch kein wirkliches Interesse, in einer Partei Mitglied zu werden.
Die große Parteien konkurrieren heute mit sogenannten Events, mit dem Fernsehen, seinen Talkshows und Entertainment-Angeboten. Wer sich schnell und kompetent politisch informieren will, der braucht keine Partei, der sieht am Sonntag-Abend in der ARD die Sendung "Christiansen" oder ähnliche Polit-Formate, die allemal interessanter sind, als ein Politik-Abend in einem durchschnittlichen Ortsverein der CDU, so der frühere Hamburger Geschäftsführer Brocke:
Es gibt immer noch die klassische Form, es kommt der Redner, Abgeordneter soundso, der für sich auch ganz gut sein mag. Dann gibt es eine Diskussion. Und dann ist die Versammlung beendet.
Die Basis der politischen Großorganisationen, das sind die Betriebs- und Ortsgruppen. Deren Zustand wird zuweilen von führenden Partei-Managern als so erbarmungswürdig beschrieben, dass sich eine Mitgliederwerbung erst gar nicht lohnt. So beklagen Verantwortliche in der SPD, dass viele Mitglieder innerhalb der ersten drei Jahre wieder austreten. Bittere Erkenntnis: Wer sich endlich zum Eintritt entschlossen hat, der bleibt alsbald wieder weg. Den Bremer Jungsozialisten und Jura-Studenten Thomas Emke, mit 22 Jahren derzeit der jüngste SPD-Abgeordnete in einem Länderparlament, wundert das nicht:
Erstens, es kennen sich alle. Gerade, wenn nicht so viele junge Leute eintreten, dann hat man da eine geschlossene Runde. Jeder der reinkommt, ist dann möglicherweise fremd. Da wird man zwar noch freundlich begrüßt: "Schön, dass du da bist, stell dich doch mal vor". Aber ganz häufig spielt man dann auch keine Rolle mehr, so ähnlich, als würde man sich in einem Restaurant an einen fremden Tisch setzen, wo man gar nicht hingehört, wo eine lustige Kegelgemeinschaft ihr Bier trinkt und man sitzt da auf einmal zwischen und sagt: "Ich bin auch da", und die sagen: "Was willst du denn hier".
In der Bremer SPD zum Beispiel sind heute über 40 Prozent der Mitglieder älter als 60 Jahre. Zum Vergleich: Nur zwei Prozent sind jünger als 25 Jahre. Für die Genossen - und die SPD steht hier nur stellvertretend für alle Großorganisationen - die der Partei ein Leben lang die Treue gehalten haben, hat der Ortsverein eine große emotionale Bedeutung. Als eine Basisgruppe, von der politische Impulse ausgehen, taugt er allerdings nur noch bedingt. Oftmals sind die Reihen bereits ausgedünnt, das Engagement ist erlahmt. Beispiel: Plakate kleben, früher eine klassische Tätigkeit der Parteiaktivisten. Wenn die Partei diese Arbeit gegen Bezahlung an Fremdfirmen vergibt, schimpft die Basis. Doch bleibt der Zentrale kaum etwas anderes übrig:
Es funktioniert eigentlich nicht mehr. Aber das ist ein Punkt. Wenn man dann vor Ort fragt, dann sagen sie natürlich alle, dass in ihren Ortsverein das trotzdem noch funktioniert, was objektiv aber nicht der Fall ist. Und wir denken für die Zukunft über solche Lösungen nach.
Die Schere zwischen dem, was die Basis bietet und dem, was die aufstrebenden Polit-Jung-Manager in den Parteizentralen für nötig halten, wächst unaufhaltsam. Gerade die mittlere Funktionärsebene, die zu Recht einen Machtverlust fürchtet, widersetzt sich häufig den Reformwünschen der Führung, so der Bremer Landesgeschäftsführer Roland Pahl:
Es wäre sicherlich in einigen Bereichen sinnvoll, damit die Arbeit auch befruchtet wird, Ortsvereine in ihrer Größe zu verändern, also auch zusammenzuführen, damit sie wieder richtig Kraft haben zu arbeiten. Aber wenn es aus drei Ortsvereinsvorsitzenden nur noch einer wird, dann verlieren zwei die Funktion.
Dabei ist festzustellen, dass dann, wenn die Partei gute Angebote macht, das Interesse an politischer Arbeit durchaus wieder steigt. So machte die Bremer SPD im letzten Jahr einige offene Diskussionsforen, ....
.... die sehr, sehr gut besucht waren, die öffentlich waren, wo weniger als 50 Prozent Mitglieder waren. Und der Anteil von Mitgliedern waren dann solche, die wir schon lange nicht mehr gesehen haben, weil dann Themen kamen wie Stadtentwicklung, was passiert mit bestimmten Verkehrsführungen in Stadtteilbereichen. Was problematisch ist, sind die Strukturen der Ortsvereine. Das passt nicht mehr und dort finden eigentlich nicht mehr so die Debatten statt. Aber das Interesse an Politik und an politischen Entscheidungen ist damit ja nicht negiert, sondern das ist vorhanden. Je direkter die Betroffenheit da ist, umso unbedingter.
Von der viel zitierten "Politikverdrossenheit" also kaum eine Spur. Selbst von einer allgemein "unpolitischen Jugend" kann man nicht sprechen. Der Jungsozialist Thomas Ehmke zitiert aktuelle Untersuchungen:
Sämtliche Jugendstudien belegen etwas ganz anderes. Wir haben einen ganz, ganz leichten Rückgang des politischen Interesses von 53 auf 48 Prozent bei den jungen Leuten. Aber jeder zweite sagt: "Ich habe politisches Interesse". Wenn ich mir die Jugendstudien angucke, was für Interessen haben die jungen Leute, dann stehen oben die Freunde, die Familie, das soziale Umfeld. Kollektive Elemente stehen da im Vordergrund. Und vor dem Hintergrund glaube ich nicht, dass es an einem mangelnden Interesse an Politik liegt. Sondern das Problem ist, Politik ist durchaus noch interessant. Oder, ich sag mal, gesellschaftliche Themen. Engagement ist auch durchaus "in", aber Parteien, die sind völlig out. Parteien sind in der Ranking-Liste "Was finden Jugendliche besonders ätzend" zweiter Sieger. Die kommen knapp vor den Kirchen oder hinter den Kirchen, aber ansonsten gibt es kaum etwas Unangenehmeres, was sich junge Menschen vorstellen können.
Wie leicht sich Jugendliche für eine in ihren Augen lohnenswerte Sache mobilisieren lassen, dafür gibt es immer wieder Beispiele auch aus jüngster Zeit. So versuchten zehntausende von Schülern und Studenten den Atomtransport ins Wendland aufzuhalten. Ähnliches gilt weltweit für die Aktionen gegen die Globalisierung. Von ihnen fühlt sich etwa der Hamburger Gymnasiast Janusz Korz angesprochen, der einst die Hamburger Grünen frustriert verlassen hat:
Die Globalisierungsgegner, das klingt schon sehr interessant, das hat keine wirklich festen Strukturen. Die Organisation hat ja nicht mal ein festes Programm. Aber es ist etwas, wo man eintreten kann, wo man das Gefühl hat, man kann auch in der Organisation was machen, per Internet halt mit Leuten über die gesamte Welt darüber diskutieren. Dann halt auch diese Proteste, dann hat man halt das Gefühl, da gucken die Leute hin, da gucken die Medien hin, da tut sich was.
Für eine gute Arbeit brauchen die Organisationen gutes Personal. Daran hapert es aber häufig. Bislang galt etwa in der Politik das Leistungsprinzip nur sehr eingeschränkt. Da werden Berufspolitiker, die in ihrem Leben noch nie etwas anderes gemacht haben als Politik, schnell zu einer Belastung, so Hamburgs langjähriger CDU-Geschäftsführer Wolf Peter Brocke, der schon Mitglied in diversen innerparteilichen Reformkommissionen war:
Wenn jemand sein ganzes Leben Politik macht und auf die Entlohung aus der Politik angewiesen ist, dann kämpft er natürlich wie wild und mit allen Mitteln, um das Amt zu behalten, weil es seine Einkommensquelle ist und weil es ihm einen zusätzlichen guten Lebensstandard verschafft.
Immer nach großen Wahlschlappen versprechen Parteien, alles anders machen zu wollen. Anfang der neunziger Jahre verabschiedete die Hamburger CDU ein innerparteiliches Reformprogramm. Wolf Rüdiger Brocke war damals wesentlich an der Ausarbeitung beteiligt. Einer seiner Vorschläge lautete damals,...
... dass man in der Mitte einer Legislaturperiode die Abgeordneten in irgendeiner Form benotet oder in ihnen sagt, Deine Leistung ist sehr gut oder Deine Leistung ist schwach und wenn Du Dich nicht anstrengst, dann mußt Du damit rechnen, dass die Partei Dich möglicherweise nicht wieder aufstellt. Im normalen Berufsleben sind die, die nicht fleißig sind, normalerweise am Ende. In der Politik ist das nicht ganz so. Das wollten wir abstellen. Dagegen hat sich aber die Partei gewehrt, natürlich auch die Mehrheit von Betroffenen.
An wohlfeilen Reformüberlegungen hat es nie gefehlt - spöttisch ist bereits die Rede vom immer wieder kehrenden "Modernisierungsgeklingel", das meistens allerdings ohne Folgen bleibt. Die CDU entwickelte schon Ende der achtziger Jahre erste Reformvorstellungen, verbunden mit dem Namen des damaligen Generalssekretärs Radunski.
Nach der Bundestagswahl 1998, als die CDU mit 35,1 Prozent ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis erzielte, unternahm die Partei einen erneuten Reform-Anlauf. Generalsekretär Laurenz Meyer präsentierte weitreichende Vorschläge:
Erstens: Die Kandidaten sollten künftig in Urwahlen, also auf Mitgliederversammlungen gewählt werden.
Zweitens: Amtszeiten sollten auf neun Jahre begrenzt werden.
Drittens: Ein Parteimitglied dürfe künftig maximal nur drei Parteiämter gleichzeitig ausüben, um der Ämterhäufung zu entgehen.
Viertens: Kandidaten für das Parlament sollten Berufserfahrung haben.
Das war im April 2000. Der Aufstand der Funktionäre ließ nicht lange auf sich warten. Heute ist das Papier vom Tisch, jetzt hat sich die Reformkommission den Parteitag 2003 als nächstes Ziel gesetzt, nach den Bundestagswahlen.
Noch sind die Großparteien Massenorganisationen, noch spricht ihnen kaum jemand öffentlich die Kompetenz ab, politische Repräsentanten aufstellen und wählen zu lassen. Derzeit erkennt der Hamburger Politikwissenschaftler Michael Greven - selbst bei einer hohen Zahl von Nichtwählern - insgesamt noch keinen Legitimitätsverlust:
In funktionaler Hinsicht ändert sich bei abnehmender Parteimitgliedschaft und ich verfüge noch hinzu, bei abnehmender Wahlbeteiligung im Grunde genommen gar nichts. Die Parlamentssitze werden proportional verteilt, unabhängig davon, ob sich 80 Prozent oder 50 Prozent an der Wahl beteiligen und die Kandidaten werden aufgestellt und den Wählern zur Wahl angeboten, unabhängig davon, ob die viel oder wenig Mitglieder haben.
Doch wie schnell sich Legitimationskrisen einstellen können, darauf geben die Erfolge des Rechtspopulisten Ronald Schill einen Vorgeschmack. Der Hamburger bekam mit seiner Schill-Partei aus dem Stand heraus bei der letzten Bürgerschaftswahl fast 20 Prozent der Wählerstimmen.
Schon deshalb darf den alten Parteien nicht egal sind, ob sie in der Mitte der Gesellschaft stehen, oder schon am Rande. Sie suchen nach veränderten Formen und finden sie am ehesten im Bereich des Marketing. Ohne dass dies offen ausgesprochen wird, nehmen sie Abschied von einer heiligen Kuh, der "Mitgliederpartei" alter Couleur. Der Hamburger Politologe Michael Greven sieht eine solche Entwicklung voll im Modernisierungstrend:
Die heute sehr professionell geführten Parteizentralen gehen in diese Richtung "Kampagnenpartei". Das heißt, natürlich sind Mitglieder willkommen, aber man hält sich mit Mitgliederwerbungsprogrammen, Mitgliederbeschäftigung und -pflege nicht besonders auf. Wichtiger erscheint die Mobilisierungsfähigkeit eines Sympathisantenmilieus, man muss wissen, wen man mobilisieren kann, man braucht Adressen, Karteien, die Leute werden zu Großveranstaltungen attraktiver Art im Vorfeld von Wahlkämpfen zusammengezogen, das ist es dann.
"Öffnung" heißt das Gebot der Stunde, das Mitmachen soll nicht mehr unbedingt an eine formale Parteimitgliedschaft geknüpft werden. In Mülheim an der Ruhr öffnete die Sozialdemokraten ihre Kandidatenliste für die Bundestagswahl und belebten die Szene. Plötzlich bewarben sich sieben Personen um die Direktkandidatur, darunter auch Nichtmitglieder, die sich den Ortsvereinen vorstellten.
Doch das ist - noch - eine Ausnahme. Selbst Franz Münteferings Diktum, im nächsten Bundestag sollten über die SPD-Liste "zehn von außen" sitzen, wird sich kaum umsetzen lassen. Zu stark ist das Konkurrenzgerangel, zumal der nächste Bundestag gegenüber dem jetzigen um etwa 60 Abgeordnete kleiner sein wird.
Doch zarte Pflanzen der Öffnung gibt es. In der SPD-Zentrale, aber auch in den Landesbezirken, macht das Schlagwort von der "Netzwerkpartei" die Runde. Ein Schlüsselbegriff für Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig:
Zunächst einmal: Die Netzwerkorganisation muss eine Ergänzung sein der klassischen Parteistrukturen. Das heißt, dass wir Netzwerke aufbauen müssen zum Beispiel zu bestimmten Sachfragen. Man muss mit den besten Ideen im Gespräch sein. Ein anderes Beispiel: Bestimmte Milieus, die wir über unsere Mitgliedschaft im Moment nicht erreichen, die kann ich gezielt ansprechen. Ich habe ein Netzwerk "Young-Management" aufgebaut. Dort bin ich ganz gezielt im Gespräch mit jüngeren Führungspersonen aus der IT-Branche, denen wir eine Plattform bieten, mit uns im politischen Gespräch zu sein.
Zudem sollen die Rechte des einzelnen Mitglieds gestärkt werden. Mehrfach hat die SPD bereits - mit wechselndem Erfolg - Spitzenkandidaten nicht mehr durch Delegierte, sondern die gesamte Parteibasis wählen lassen - früher ein Unding, zuletzt wurde Ute Voigt auf diese Weise zur Spitzenkandidatin für die Landestagswahl in Baden-Württemberg gekürt. Selbst Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild schließt die Parteispitze nicht mehr aus. Dort werden die Kandidaten nicht allein von Parteimitgliedern, sondern auch von Nichtmitgliedern ausgewählt.
Gegen diese, wie es heißt: "Amerikanisierung", hat sich allerdings schnell innerparteilicher Widerstand formiert. Warum soll man überhaupt noch Mitglied sein, wenn auch Nichtmitglieder wählen dürfen? Der SPD-Parteivorstand hat diesen Vorschlag zunächst einmal erschrocken zurückgezogen. Matthias Machnig ist sich allerdings sicher, dass diese Art Vorwahlen so oder so kommen werden:
Wir haben die Untergliederungen aufgefordert, möglichst breite Beteiligung zunächst mal der Mitglieder sicher zu stellen. Diesen Prozeß wollen wir auswerten und dann die Debatte über die Vorwahlen weiterführen. Ich glaube, über kurz oder lang wird es diese Entwicklung geben und es ist für mich nur die Frage, welche Partei zuerst diesen Weg gehen wird, wir oder andere.
Alle großen gesellschaftlichen Organisationen in Deutschland verloren in den letzten Jahren zwischen einem Drittel und einem Viertel ihrer Mitglieder. Diese Krise kann auf lange Sicht existenzgefährdend sein. Oder aber ein überfälliger Anlass, ein paar der Reformvorschläge durchzusetzen, die seit nunmehr zehn Jahren gebetsmühlenartig wiederholt werden: Öffnung der Parteien für andere Personen und neue Politikstile.