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Keine "Patentrezepte anbieten"

Vor dem Hintergrund des Amoklaufs des 17-Jährigen an einer Realschule in Winnenden hat der Philosoph Hartmut Kliemt davor gewarnt, überstürzt Lösungen aus dem Hut zu zaubern. Statt die jeweils bevorzugten Theorien darüber, was in der Gesellschaft schief läuft, zum Ausdruck bringen, solle man besser die Gelegenheit nutzen, grundsätzlich über die Gesellschaft nachzudenken.

Hartmut Kliemt im Gespräch mit Gerd Breker |
    Gerd Breker: Einen Tag nach dem Amoklauf des 17-Jährigenan einer Realschule in Winnenden bei Stuttgart gibt es offenbar erste Hinweise auf das Motiv des Schützen. Während der ganzen Nacht ist das Umfeld des Täters ausgeleuchtet worden. Die Motivation des Täters für diese Tat, sie wird uns noch weiter beschäftigen und wir werden auch weiter darüber berichten. Am Telefon bin ich nun verbunden mit Hartmut Kliemt. Er ist Philosophieprofessor an der Frankfurt School of Finance and Management. Guten Tag, Herr Kliemt.

    Hartmut Kliemt: Guten Tag!

    Breker: So ein Amoklauf eines 17-jährigen Jugendlichen wie der in Winnenden wirft viele Fragen auf. Was geht in den Köpfen der Jugendlichen vor? Was treibt sie zu so einer Tat? Wir wollen diese Frage nun, Herr Kliemt, etwas erweitern, nicht nur beschränken auf Jugendliche, sondern unter der Maßgabe, was leben wir eigentlich unseren Jugendlichen vor, in die Erwachsenenwelt einzusteigen, in unsere Gesellschaft, und muss man da nicht sagen, dass die Vereinzelung ein unabwendbarer Prozess, ja ein Kennzeichen unserer heutigen Zeit sind?

    Kliemt: Das ist vermutlich bis zu einem gewissen Grade wahr, dass wir vielleicht etwas unabhängiger von Gesellschaft leben können als früher und dass wir dafür vielleicht auch einen Preis zahlen. Lassen Sie mich aber vorwegschicken: Ich glaube, dass wir gut daran tun, diese jetzigen schrecklichen Ereignisse nicht zum Anlass zu nehmen, aus der Hüfte zu schießen und unsere jeweiligen bevorzugten Theorien darüber, was in unserer Gesellschaft schief läuft oder besser laufen könnte, zum Ausdruck bringen, sondern dass wir vielleicht das eher zum Anlass nehmen, generell nachzudenken, ich meine nicht Patentrezepte anbieten, sondern grundsätzlich in der Gesellschaft nachdenken.

    Breker: Lassen Sie uns, Herr Kliemt, gemeinsam nachdenken. Wir haben gerade gehört, in dem Chatroom hat der Täter offenbar geschrieben, niemand erkennt mein Potenzial. Ein Gefühl der Ohnmacht spricht auch daraus, des Ausgeliefertseins. Ist das nicht auch etwas, was wir in der Erwachsenenwelt erleben?

    Kliemt: Das ist bestimmt wahr und wir fühlen uns vermutlich heute manchmal stärker ausgeliefert als die Menschen in früheren Zeiten, obwohl das auch nicht so eindeutig ist. Für uns ist das Ausgeliefertsein vermutlich ein Ausgeliefertsein gegenüber anonymeren Kräften. Früher waren die Beziehungen personalisierter und man war eben persönlichen Machtbeziehungen unter anderem viel stärker ausgeliefert, als das heute der Fall ist. Ich glaube, es ist ein wahrer Kern hier zu erkennen, eine vielleicht häufiger anzutreffende Isolierung von Individuen, die nicht so sehr angewiesen sind auf den Sozialconnex und sich deswegen auch mehr von ihm trennen können. Aber das scheint mir auch so ziemlich das Einzige zu sein, was man in der heutigen Zeit gegenüber früheren Zeiten vielleicht hervorheben kann.

    Breker: Nehmen wir doch einfach mal unser Kommunikationsverhalten. Heute wird häufig per E-Mail miteinander kommuniziert. Fast jeder hat an seinem Arbeitsplatz einen Computer. Das persönliche Miteinandersprechen findet doch immer weniger statt.

    Kliemt: Das hängt vielleicht auch davon ab, was man unter "persönlich" versteht. Ich vermute, dass viele Menschen über E-Mail außerordentlich persönlich, in einem anderen Sinne als Face to Face, von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, und daher, würde ich sagen, ist auch E-Mail und der elektronische Kontakt nicht symptomatisch für eine stärkere Entpersönlichung. Ich glaube sogar, dass viele Meinungen und ein größeres Sichöffnen gegenüber anderen gerade über solche Kontakte möglich ist, wie Sie übrigens auch in Ihrem Beitrag eben ja gemerkt haben. Diese Frau Götz berichtete ja darüber, dass einem E-Mail-Teilnehmer in Bayern eben sich dieser Attentäter vorher geöffnet hat. Kann man wirklich sagen, dass wir nicht mehr so kommunizieren oder weniger kommunizieren, dadurch dass wir E-Mail haben? Es ist nur eine andere Form.

    Breker: Und die Qualität macht sich dann an den Inhalten fest. Wir haben in diesem Zusammenhang, Herr Professor Kliemt, gelernt, dass "Opfer" ein Schimpfwort unter Jugendlichen ist. Wenn wir uns nun die Erwachsenenwelt anschauen, wenn wir sehen, wie wir uns organisiert haben, läuft es nicht zwangsläufig darauf hinaus, dass irgendjemand immer das Opfer ist?

    Kliemt: Ja, ja. Ich meine, das ist sicherlich eigentlich nur ehrlich, wenn die Jugendlichen den Begriff "Opfer" wie ein Schimpfwort benutzen, und zwar deswegen nur ehrlich, weil in den jugendlichen Hierarchien man eben nicht Opfer sein will. Ob das nun wirklich so ist, dass unsere Erwachsenenwelt sich stärker so organisiert hat, dass Menschen eher zu Opfern werden als früher, wage ich eigentlich zu bezweifeln. Noch mal: Menschliche Sozialstrukturen sind, seit es die Welt gibt, von Hierarchien geprägt - na, sind wir vorsichtig: seit es Staaten gibt und Großgesellschaften gibt von starken Hierarchien geprägt und es hat immer Opfer gegeben, Opfer von Unterordnung, von Gewalt und so weiter. Ob das so charakteristisch ist für unsere Zeit, wage ich zu bezweifeln. Dass aber dieser jugendliche Jargon und die Einstellung der Jugendlichen zum Begriff "Opfer" symptomatisch ist, das finde ich auch.

    Breker: Gedanken zu Hintergründen der Tat von Winnenden waren das, gemeinsam mit Professor Hartmut Kliemt. Er ist Philosophieprofessor an der Frankfurt School of Finance and Management. Herr Professor Kliemt, danke für dieses Gespräch.