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Keine Rücksicht auf existierenden Schulen

Ein Wissenschaftler, so schreibt Dirk Baecker im Vorwort von "Ding und Medium" sinngemäß, ein Wissenschaftler muss Glück haben, wenn es ihm vergönnt ist, in seinem Leben einen einzigen Gedanken zu denken, der eine neue Einsicht ermöglicht. Das gilt für die Geisteswissenschaft fast noch mehr, als für die Naturwissenschaft.

Von Matthias Eckoldt | 13.06.2005
    Baecker, Soziologe, Systemtheoretiker und Luhmann-Schüler kennt den Wissenschaftsbetrieb in- und auswendig. Der Alltag vergeht mit dem Repetieren bereits durchgespielter Ideen. Und die meisten Buchveröffentlichungen setzen unterschiedlich brillant diese Ideen neu zusammen. Doch dass jemand eine Intuition hat und dieser hartnäckig und ohne Rücksicht auf die existierenden Schulen nachgeht, das ist die Ausnahme. Eine solche liegt mit dem schmalen Bändchen "Ding und Medium" vor. Der Autor heißt Fritz Heider, wurde 1896 in Wien geboren und hatte seine Sternstunde mit Dreißig. Zumindest wurde sein Text erstmals 1926 in der nur wenige Hefte überdauernden philosophischen Zeitschrift "Symposion für Forschung und Aussprache" publiziert und rasch vergessen. Nun, fast achtzig Jahre später die Buchausgabe, die dem Berliner Kadmos-Verlag zu danken ist, der den bis dahin nur unter großen Mühen zugänglichen Text herausgebracht hat. Heider, Vertreter der so genannten Gestaltpsychologie, mit der er in den Staaten schließlich Karriere machte, führt die wichtigste Voraussetzung originellen Denkens vor: Das Sich-wundern-können über das Selbstverständliche:

    "Ich kann zum Beispiel hier diesen Bleistift sehen. Er ist von der Lampe beleuchtet. Der Bleistift verursacht also den Vorgang auf der Netzhaut. Wir können auch noch weiter zurück bis zur Lampe gehen, man kann auch sagen, das Licht der Lampe verursacht den Netzhautvorgang. Warum sehe ich gerade den Bleistift und nicht etwas hier knapp vor meinem Auge oder die Lampe? "

    Hier ist Heider im Herz des Problems angekommen, das er sich vorgelegt hat: Warum sehen wir, wenn wir bestimmte Dinge wahrnehmen, genau diese Dinge und nicht etwa andere. Warum den Bleistift und nicht die Lampe und nicht das Licht und nicht den Stubenstaub? Kausal wäre alles gleich wahrscheinlich. Denn vom Sinnesorgan geht eine geschlossene Kausalkette von Ursache und Wirkung bis zurück zur Lampe über Bleistift, Luft und Licht. Unsere Wahrnehmung aber schert sich nicht um die Kausalkette, sondern hebt ein einziges Glied dieser Kette heraus – den Bleistift eben. Dirk Baecker:

    "Ich denke, dass die Faszination, wie auch die Schwierigkeit des Textes für Fritz Heider darin bestand, dass er versucht hat, zum beherrschenden wissenschaftlichen Konzept der Kausalität – also des Versuches, alles das, was es so gibt, mit Ursache und Wirkung zu beschreiben, eine Alternative zu finden. Weil er nämlich bei der Beobachtung von tierischem und menschlichem Verhalten immer wieder darauf stieß, dass wir ja keine determinierten, festgelegten, in Ursache und Wirkung eingezwängten Lebewesen sind, sondern dass wir unsere Lebensform, unsere Lebensweise aus der immer wieder überraschend weitreichenden Neukombination aus Ursache und Wirkung selbst zu zimmern in der Lage sind. "

    Heider nun macht den Vorschlag, Dinge und Medien prinzipiell auf dieselbe Stufe zu stellen, indem er sagt: Sowohl im Ding, als auch im Medium sind bestimmte Elemente mit einander verbunden. Der Unterschied besteht nur darin, dass sie im Falle des Dings fest gekoppelt sind, während sie im Medium lose gekoppelt sind. So sind beispielsweise Buchstaben lose gekoppelte, ein Wort hingegen fest gekoppelte Elemente. Das heißt: Buchstaben sind Medien für Wortdinge. Der Crux besteht darin, dass auch Worte ihrerseits lose gekoppelt sind im Hinblick auf Sätze. Und Sätze wiederum lose Kopplungen bilden, wenn man sich Texte anschaut. Diese Idee, die Niklas Luhmann sechzig Jahre später zum Ausgangspunkt seiner systemtheoretischen Medientheorie nehmen wird, hilft Heider aus der kausaltheoretischen Falle. Nicht die Dinge sind die Ursachen für die Wahrnehmung, sondern die Wahrnehmenden selbst sind die Ursachen der Wahrnehmung. Wir selbst sind es, die durch unser Handeln aus dem Möglichkeitshorizont des Mediums bestimmte Dinge herauskristallisieren, und andere eben nicht. Damit hatte Heider sogar den Weg für eine Neuformulierung der Handlungstheorie freigemacht.

    "Es gibt ja ganz spät im Text von Heider diese ziemlich aufregenden Passagen, wo er die Handlung eines Menschen als sein eigenes Medium, in dem er sich seine Welt aufbaut, beschreibt. So nach dem Motto, dass ich eigentlich erst dann anfange zu leben, wenn ich mich entscheide, ob ich mit dem rechten oder dem linken Arm eine Bewegung mache, ob ich mit meinen Füßen nach vorn oder nach hinten laufe. So habe ich immer verschiedene Möglichkeiten, von denen ich immer die eine wahrnehmen kann, die andere aber nicht. Daraus aber schließlich meine Welt zimmere. Das Schöne dabei ist erstens, dass man darauf verwiesen, dass man für die Art und Weise, wie man seine Welt zu seiner Welt macht, selbst verantwortlich ist. Und das andere ist eben genau dieser Gedanke, dass wir, während wir unsere Welt wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen, wir nicht wahrnehmen, dass wir es sind, die sie wahrnehmen. "

    Der Beobachter ist für die Art und Weise seiner Beobachtung blind, so wird der Physiker Heinz von Foerster fünfzig Jahre nach Heider sagen und damit den Konstruktivismus als neue Erkenntnistheorie anregen. Ein weiterer Beleg für die Explosivkraft, die in "Ding und Medium" steckt. Dabei aber liefert der Text keine Interpretationsansätze, verweist nicht auf andere gegensätzliche oder ähnliche Wahrnehmungstheorien, benötigt nicht eine einzige Fußnote und verzichtet gänzlich auf die Einordnung seiner Erkenntnis. Vielleicht ist dieser geringe Lesekomfort ein Grund dafür, dass der Text knapp achtzig Jahre brauchte, bevor er zwischen zwei Buchdeckel kam. Doch dieser Nachteil wird zum Vorteil für jeden, der die Erotik des Denkens spüren möchte. Denn die spricht unverstellt aus dem Buch.