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Keine Ruhe für das Auge

Der in Ungarn geborene Victor Vasarely gehört zu den bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Seine geometrisch-abstrakten und vielfarbigen Kompositionen wurden millionenfach reproduziert, vor allem auf Plakaten. Dies war ganz im Sinne Vasarelys, der wollte, dass seine Werke möglichst viele Menschen erreichen. Ihm schwebte eine kollektive Kunst vor.

Von Björn Stüben | 09.04.2008
    "Früher war der Maler nur ein Sklave Gottes und der Kirche. Mit dem Auftauchen der Bourgeoisie im 19. Jahrhundert wird er zum Star der bürgerlichen Gesellschaft. Doch er arbeitet jetzt völlig losgelöst von der Architektur, mit der seine Vorgänger doch noch so eng verbunden waren. Er geht seither seine ganz eigenen Wege und leider sind für ihn die Karriere und sein Verdienst viel wichtiger als das Schaffen von Kunst."

    Rolle und Aufgabe von Kunst und Künstler in der Gesellschaft wieder neu zu definieren, das hat den am 9. April 1908 im ungarischen Pécs geborenen und 1997 in Paris gestorbenen Maler Victor Vasarely zeitlebens am meisten beschäftigt. Während er seit 1927 an einer privaten Kunstakademie in Budapest studiert, verdient er seinen Lebensunterhalt mit dem Entwerfen von Werbeplakaten. An einer kleinen Kunstgewerbeschule, die sich am großen Vorbild des Weimarer Bauhauses orientierte, lernt Vasarely 1929 dann die sozialreformerischen Ideen des Architekten Walter Gropius und der De Stijl-Bewegung um Theo van Doesburg und den abstrakten Maler Piet Mondrian kennen. Mit Kunst die Welt und den Menschen verändern zu wollen, das steht jetzt auf der künstlerischen Tagesordnung. Erste tastende Versuche in geometrischer Abstraktion kennzeichnen Vasarelys Kunst, als er 1930 nach Paris übersiedelt.

    "Die scharfen Schwarz-Weiß-Kontraste, die unerträgliche Vibration der Komplementärfarben, das Geflimmere der Liniengeflechte und der permutierten Strukturen, das alles sind Elemente in meinem Werk, deren Aufgabe es nicht mehr ist, den Betrachter in eine süße Melancholie zu tauchen, sondern ihn anzuregen."

    Nach dem Zweiten Weltkrieg avanciert Paris zur europäischen Hauptstadt der abstrakten Malerei. Vasarely ist in den 50er und 60er Jahren einer ihrer Protagonisten. Beim Betrachten der geometrischen Abstraktionen fordert Vasarely durch optische Täuschungen die Sehnerven heraus. Aus einer Kunstbetrachtung wird ein Kunsterlebnis, das dem Auge keine Ruhe gönnt. Die Op Art, das abstrakte Pendant zur Pop Art, ist geboren. Doch Vasarelys Werke haben vor allem eine Qualität: Sie sind allgemeinverständlich, da sie weder kultureller Vorbildung noch Kennerschaft bedürfen.

    "Bei meinen kinetischen Tiefenbildern spielt der sich bewegende Betrachter die wichtigste Rolle. Wenn er sie von einem festen Standpunkt aus betrachtet, so sieht er nur zwei Formen, die sich wegen der Durchsichtigkeit der Tragflächen überlagern. Sobald er sich aber bewegt […], verändert es sich unaufhörlich, die emotionalen Schocks folgen einander ohne Unterlass, und das Werk beginnt zu leben, sich visuell zu diversifizieren."

    Vasarely erfindet die "unité plastique", die "plastische Einheit", die als Grundmodul seiner Kunst fungiert. Ein farbiges Quadrat, dem eine andersfarbige geometrische Figur eingefügt ist, wird zum Erkennungszeichen seiner Kunst. 1969 erscheinen auf dem Markt Baukästen voller "plastischer Einheiten", mit denen sich jeder seinen eigenen Vasarely basteln kann. Die Demokratisierung der Kunst ist zum Greifen nah. Sie in den Alltag zu integrieren, ist Vasarelys immer wieder erklärtes Ziel.

    "Man braucht schon Mut, um in der Kunst die Landschaftsmalerei hinter sich zu lassen und sich abstrakten Themen zu widmen. Wir müssen einfach lernen unsere romantischen Gefühle, die immer wieder aufbrechen, zurückzudrängen. Ich will rigoros objektive Kunst erschaffen. Die Zeit der Tafelbilder ist endgültig vorbei. Wenn ich dennoch welche male, dann fungieren sie lediglich als Prototypen für Farbkompositionen, die eigentlich für größere Zusammenhänge wie die Architektur gedacht sind. Für uns Menschen sind Formen und Farben so wichtig wie die Luft zum Atmen."

    Sein Atelier bei Paris wird zum Laboratorium. Stadtplaner, Architekten, Philosophen und Mathematiker gehen hier ein und aus. Den scheinbar planlosen und ausufernden Urbanismus in den großen Ballungsräumen, den triste Wohnsilos in grauen Vorstädten charakterisieren, will Vasarely die "polychrome Stadt" entgegensetzten. Farben und Formen einer kollektiven Kunst am Bau sollen die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Bis zu seinem Tod am 14. März 1997 in Paris bleibt Vasarely dieser Idee treu.

    "Wir können ja den Kunstgenuss nicht auf ewig einer Elite von Kennern überlassen. Die Gegenwartskunst will großzügige, wenn möglich nachschaffbare Formen erfinden. Die Kunst von morgen wird Gemeingut sein - oder gar nicht existieren."