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Keine Spur von Bildungsgerechtigkeit

Lehrer und Eltern sind sich laut einer Allensbach-Studie einig: Defizite im Elternhaus sind der wesentliche Grund, weshalb einige Kinder schlechtere Chancen in der Schule haben als andere. Helfen könnten unter anderem kleinere Klassen und eine kostenlose Hausaufgabenbetreuung.

Von Verena Kemna | 24.04.2013
    Fast alle Lehrer in Deutschland meinen, dass noch immer die soziale Herkunft über den schulischen Erfolg von Jugendlichen entscheidet. Chancengleichheit an deutschen Schulen sei unzureichend oder überhaupt nicht gegeben, sagen 61 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer.

    Die Allensbach-Studie zum Thema Bildungsgerechtigkeit im deutschen Schulalltag kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass eine individuelle Förderung einzelner Schüler fast unmöglich ist. Weil die Räume fehlen, weil der Lehrplan keine Zeit lässt, weil die Klassen zu groß sind, haben die Pädagogen nach eigener Einschätzung praktisch keine Möglichkeit, um die Leistungsunterschiede einzelner Schüler auszugleichen. Renate Köcher vom Allensbach-Institut für Demoskopie:

    "Was für mich jetzt eines der wichtigsten, beklemmendsten Ergebnisse der Untersuchung ist, ist, dass die Mehrheit der Lehrer die Bilanz zieht, die Leistungsunterschiede unter den Kindern aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten, die werden nicht kleiner, sondern die werden größer."

    So sind über die Hälfte der Lehrer der Ansicht, dass die Leistungsunterschiede zwischen Schülern aus verschiedenen sozialen Schichten deutlich zugenommen haben. Auch die Selbsteinschätzung der Schüler zeigt, dass die Schere, bedingt durch soziale Herkunft offensichtlich immer weiter auseinandergeht. So beurteilen über 60 Prozent der Jugendlichen aus bildungsnahen Elternhäusern ihre eigene Leistung als gut, während die anderen sich für eher schlechte Schüler halten.

    Sowohl Lehrer als auch Eltern sind sich laut Studie einig: Defizite im Elternhaus sind der wesentliche Grund, weshalb einige Kinder schlechtere Chancen haben als andere. Auch in ihren Forderungen sind sich Lehrer und Eltern einig. Kleinere Klassen, kostenlose Hausaufgabenbetreuung in der Schule, kostenloser Nachhilfeunterricht, aber auch eine gezielte Förderung von Kleinkindern würden die Chancengleichheit deutlich verbessern.

    "Die Kinder kommen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in das Bildungssystem hinein. Wenn die Kinder sechs sind, sind die teilweise schon auf einem ganz unterschiedlichen Stand. Deswegen darf man nicht erst anfangen über die Schule nachzudenken, sondern muss intensiv über die Zeit vor der Schule nachdenken."

    Schon im sechsten Lebensjahr unterscheiden sich die Erfahrungswelten von Kindern deutlich. Die Lehrer selbst beklagen, dass ihnen der Schulalltag nach Lehrplan kaum die Möglichkeiten bietet, um einzelne Schüler besser zu unterstützen. Die viel zitierte "individuelle Förderung" sei nicht mehr als ein Schlagwort, eine Vision, die sich im deutschen Schulsystem derzeit kaum realisieren lässt, meint dazu Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des deutschen Philologenverbands:

    "Sie müssten eigentlich, wenn sie individuelle Förderung ernst nehmen, nicht eine Hausaufgabe geben, sondern sie müssten bei einer Klasse von 30 auch 30 verschiedene Hausaufgaben geben und die individuell auswerten und daraus individuelle Ratschläge geben. Das ist im jetzigen System nicht möglich, das muss man ganz deutlich sagen."

    Dabei attestieren die meisten Eltern der Lehrerschaft Engagement und gute Ausbildung. Trotzdem, die Lehrer allein können die Unterschiede sozialer Herkunft im deutschen Schulsystem nicht ausgleichen. Viele politische Reformvorschläge lehnen die meisten Lehrer und Eltern ab. Sie meinen, dass weder eine längere Grundschulzeit noch das Lernen ohne Noten oder gar die Forderung, das Sitzenbleiben abzuschaffen, geeignete Maßnahmen für mehr Bildungsgerechtigkeit sind. Renate Köcher vom Allensbach-Institut:

    "Eltern wie Lehrer sagen mit klarer Mehrheit: Nein, besser eine Klasse wiederholen. Aber auch bei den Schülern ist eher die Tendenz da, dass das Wiederholen der Klasse das kleinere Übel ist gegenüber Versuchen, doch noch den Anschluss zu finden."


    Die Studie zeigt auch, dass der Dialog zwischen Eltern und Lehrern deutlich verbessert werden müsste. So halten die meisten Eltern es für wichtig, dem Lehrer ihre Meinung zum Schulalltag kundzutun. Fast zwei Drittel der Lehrer empfinden eine derartige Mitsprache dagegen als Einmischung. Sie sagen, dass immer Eltern versuchen würden, Unterrichtsgestaltung und Notenvergabe zu beeinflussen. Obwohl die Studie in Sachen Bildungsgerechtigkeit eher ernüchtert: Die meisten Schüler sind mit ihren Lehrern zufrieden, gehen gern zur Schule und fühlen sich in ihren Klassen wohl.