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Keine Zeit

Zeit ist Geld, sagt der Manager; Zeit ist ein zerebrales Konstrukt, sagt der Hirnforscher. Und der Physiker konstatiert schlicht: die Zeit - gibt es nicht mehr. Alle haben Recht, weil es nicht die eine, sondern verschiedene Zeiten gibt.

Von Bernd Schuh | 02.05.2004
    Die objektive, physikalische Zeit der Uhren und Beobachtersysteme etwa, die für die Raumfahrt ebenso unentbehrlich ist wie für die Ortung von LKWs auf Autobahnen, erweist sich als reines Hilfskonstrukt in einer neuen physikalischen Supertheorie, die gar keine Zeit mehr kennt.

    Die globalisierte Weltzeit, in deren beschleunigtem Takt Profite gemacht werden, und die subjektive, erlebte Zeit des einzelnen Menschen laufen zunehmend auseinander. Wie lassen sich die Uhren der Chronobiologen und der Wirtschaftsmagnaten noch synchronisieren?

    Statt mit dem heiligen Augustinus, der zu Beginn aller Artikel und Aufsätze über die Zeit zumeist zitiert wird, sagen wir dasselbe kürzer mit Thomas Mann, aus dem Zauberberg:

    Was ist die Zeit? - Ein Geheimnis. Wesenlos und allmächtig.

    Das Unfassbare, Geheimnisvolle, das viele Denker der Zeit angedichtet haben, beruht zumeist auf falschen Voraussetzungen. Lässt man die fallen, verliert die Frage nach dem Wesen der Zeit an Tiefe, wenn nicht gar ihren Sinn. Denn: von welcher Zeit ist die Rede? Der Lebenszeit, der Jugendzeit, der Jahreszeit? Ist die mitteleuropäische Zeit gemeint, die Teilzeit oder die Fastenzeit? Die Reisezeit, die Spielzeit, die Wartezeit, die Raumzeit oder die Unzeit?
    Es gibt nicht DIE Zeit, wohl mehrere verschiedene Zeitformen. Zum Beispiel eine kosmologische Zeit, eine Zeit des psychischen Erlebens, und eine mit Rhythmen messbare und in Takte teilbare technische Zeit .
    Wir schauen auf die Uhr und sagen: Es ist Zeit aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Dann schauen wir auf den dunklen Himmel und sagen, ach nein, es ist Zeit weiter zu schlafen. Hier sind verschiedene Zeiten in Aktion, ein Rhythmus, der unseren Körper regiert und einer der die Wirtschaft am Laufen hält. Der eine menschgemacht, der andere Natur pur.

    Wenn wir an Zeit denken, denken wir vielleicht an den Kalender, den Wechsel der Jahreszeiten, den Wechsel der Jahre, wie viel Jahre ist man alt, und diese Jahre hängen natürlich zusammen mit der Erdumdrehung um die Sonne, so wie der Tag mit der Erdrotation zu tun. Das ist vielleicht das Intuitivere, denk ich mal, und die Absolute Zeit ist mehr ein abstrakter Begriff.

    Noch eine Zeit: Die Absolute Zeit. Für Physiker wie Claus Kiefer ist sie mit dem Namen des großen Isaak Newton verbunden. Der erfand die absolute Zeit vor gut 300 Jahren, um die Bewegung der Gestirne unter dem Einfluss der Schwerkraft beschreiben zu können. Für Newton fließt

    Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem.

    Man darf sich eine gigantische Uhr vorstellen, die außerhalb des Kosmos steht und auch dann noch schlägt, wenn es nichts mehr gibt, keine Sterne und Planeten, keine Menschen, die Uhren bauen.

    Das war eine sehr fruchtbare Entwicklung, weil die absolute Zeit und das Konzept des absoluten Raumes ja ermöglicht hat, die Gravitationsgesetze zu formulieren, was ja extrem erfolgreich war. Ohne diesen Begriff der absoluten Zeit ist die Himmelsmechanik, die klassische Physik nicht denkbar.

    Moderne Satellitenmissionen zu den fernen Planeten und ihren Monden wären freilich mit Newtons Gesetzen allein schlecht beraten. Newtons Theorie ist nur näherungsweise gültig, für die Bestimmung des Laufs der Gestirne mit heutiger Messgenauigkeit reicht sie nicht aus. Dazu brauchen Physiker und Ingenieure Einsteins Relativitätstheorie. Die kam Anfang des 20 Jahrhunderts und mit ihr ein völlig anderes Konzept von Zeit: die objektive Zeit der Physik, jene quantitativ bestimmbare und auf Uhren ablesbare universelle Größe, erweist sich in Einsteins Theorie als relativ, vom Beobachter abhängig. Laut Einstein reisen Astronauten zu fernen Sternen und kehren jünger als wir wieder zurück. Elementarteilchen leben länger, wenn wir sie in Beschleunigern auf Trab bringen. Beide Beispiele sind messbare Wirklichkeit, die die Richtigkeit der Relativitätstheorie untermauern. Wer diese noch immer bezweifelt, sollte sich auf keinen Fall dem Navigationssystem seines Autos anvertrauen.

    Fast jeder kennt das GPS, mit dem Sie einen Ort auf der Erde bis auf wenige Meter lokalisieren können, und da geht sowohl die spezielle Relativitätstheorie, also diese Zeitverzögerung und auch die Allgemeine Relativitätstheorie ein, wenn Sie diese Theorien nicht einbauen würden, hätten Sie Fehlweisungen von vielen, vielen Kilometern. Also Sie würden mich dann hier nicht finden, Sie würden vielleicht nach Düsseldorf fahren statt nach Köln.

    Ganz radikal räumt die Allgemeine Relativitätstheorie mit der Metaphysik einer unabhängig von allem anderen existierenden Zeit auf. Raum und Zeit werden zu einer geometrischen Folie, die durch jedes Stück Materie - durch Planeten, Monde, Sterne, ebenso wie durch Elementarteilchen oder Atome - verzerrt und verbogen wird. Was für einen Beobachter durchaus wie eine Kraft aussehen kann oder wie die Verzögerung oder Beschleunigung des Gangs einer Uhr.


    Alles ist Geometrie. Ein einfaches Beispiel ist das folgende, eine Analogie auf der Erdoberfläche. Die ist flach, wir merken nichts von der Krümmung, aber wir wissen, es ist ne Kugel, jetzt nehmen Sie an, zwei Beobachter am Äquator starten parallel Richtung Nordpol. Immer parallel eines Längenkreises. Die haben jetzt keine direkte Anziehung in irgendeinem Sinne, aber obwohl sie anfangs getrennt waren, werden sie sich immer näher kommen, bis sie sich am Nordpol treffen würden. Das heißt wir könnten sagen, das ist so wie ne geheimnisvolle Kraft, die jetzt dazu führt, dass wir uns immer weiter nähern. Aber in Wirklichkeit ist es nur ein geometrischer Effekt.

    Und doch, auch nach Einstein reden die Physiker noch vom "Alter des Universums", vom Licht ferner Galaxien, das soundsoviel Jahre zu uns braucht , von der Zukunft des Sonnensystems, der Explosion unseres Zentralgestirns in 5 Milliarden Jahren. Welchen Sinn haben solche Zeitangaben, wenn alles relativ ist?

    Das ist einfach die Zeit, die jemand auf seiner Uhr abliest, der sich einfach mit dem Universum mitbewegt. Also stellen Sie sich vor das alte Bild von dem aufgeblasenen Luftballon, und darauf sind Punkte gemalt, die die Galaxien darstellen sollen. Solange die nur darauf sitzen und das Universum bläht sich auf, dann ist diese Zeit einfach nur die Zeit, die jetzt diese Punkte haben. Zusätzlich können die sich bewegen, anders als das Aufblasen, dann haben Sie natürlich eine andere Zeit.

    Die gute alte kosmische Uhr, die für alle Beobachter unabhängig überall gleich tickt, ist also doch noch da; sie erlaubt uns auf der Erde ebenso wie fremden Intelligenzen im, sagen wir, Andromedanebel, die Entwicklung des Kosmos zeitlich zu beschreiben.

    Die Expansion des Universums liefert Ihnen eine Uhr, die auch für Bewohner auf dem Andromedanebel oder wo auch immer genauso wäre. Die würden ihre Zeit nicht in Jahren messen, sondern in Bezug auf ihren Planeten, aber das wäre ja ein trivialer Faktor, und zum Schluss kommt dann auch heraus, das Universum ist kapp 14 Milliarden Jahre alt. Also in unseren Jahren, in Andromedajahren vielleicht anders.

    Doch auch mit Einsteins Raumzeit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Denn in der Welt des Kleinsten, im Mikrokosmos der Elementarteilchen gilt eine völlig andere Theorie, die Quantenmechanik. So radikal, wie die Relativitätstheorie das Konzept von Raum und Zeit verändert hat, hat die Quantentheorie mit unserer Vorstellung von physikalischer Wirklichkeit gebrochen. Sie verlegt die Eigenschaften materieller Objekte in eine Welt der Wahrscheinlichkeiten, macht Messwerte zu statistischen Größen. Veränderung und Entwicklung aber vollzieht sich in diesem Raum der Möglichkeiten nach wie vor im Rahmen von Newtons guter alter absoluter Zeit. So dass derzeit zwei grundlegende Theorien die moderne Physik bestimmen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Während die eine – die Relativitätstheorie - die universelle Zeit abgeschafft hat, kommt die andere – die Quantentheorie - nicht ohne aus.

    Jetzt ist natürlich die Frage ist das das Ende der Physik? Dieser hybride Zustand, dass Sie ne Theorie haben mit dem einen Zeitbegriff für die makroskopische Welt, für die Gravitation, und ne andere Theorie mit einem anderen Zeitbegriff für den Mikrokosmos. Ist das das Ende? Aber man glaubt natürlich nicht daran. Man glaubt dass es eine grundlegendere Theorie gibt, die beide Theorien wiederbringt als Grenzfälle.

    An einer solchen einheitlichen Theorie für Alles, einer "Quantengravitation", wird seit Jahrzehnten intensiv geforscht. Trotz einiger erfolgreicher Ansätze ist ein Ende noch nicht in Sicht, aber eins heute schon absehbar: Wie immer die vereinheitlichte Supertheorie letztendlich heißen wird, in der letztgültigen physikalischen Beschreibung der Welt wie wir sie kennen, wird es keine Zeit mehr geben. In allen Kandidaten für die "Theory of Everything" kommt eine Größe "Zeit" einfach nicht vor. Wie aber kann eine solche Physik noch eine sich entwickelnde Welt beschreiben? Claus Kiefer versucht es mit einem Vergleich.

    Das ist so wie wenn Sie ein Buch lesen. So ein Buch liegt ja als ganzes da, ist eigentlich zeitlos. Es liegt da und der gesamte Text steht da drin. Aber wenn Sie das lesen, dann haben Sie eine Korrelation, zwischen Ihrem Zustand und den jeweiligen Buchstaben. Und Sie haben den Eindruck, dass sich da was tut, sich eine Geschichte entwickelt, wenn Sie einen Krimi lesen, ist das spannend, es passiert ein Verbrechen. Also Sie haben die Illusion dieser Zeitentwicklung, obwohl das Buch natürlich da liegt.

    So hat die einzige Wissenschaft, in der von DER Zeit zu reden bislang einen Sinn machte, dem Begriff letztlich ade gesagt.

    Was den Zeitbegriff angeht, ist das einfach der Stand der Dinge .

    Im krassen Gegensatz zum Verschwinden der Zeit in der Physik ERLEBEN wir sie Tag für Tag. Mal scheint sie schnell zu vergehen, mal langsam, mal drängt sie, mal zieht sie sich hin, mal vergeht sie wie im Fluge, mal dehnt sie sich endlos.

    Die Frage ob Zeit real oder nicht real, ist keine psychologische Frage, obwohl sie natürlich in die Psychologie reinspielt, aber die Psychologen kümmern sich nicht darum.

    Psychologen wie Florian Klapproth in Berlin interessieren sich dafür wie Menschen Zeit – die objektive, äußere Zeit der Uhren – wahrnehmen und verarbeiten. Das Gehirn, so sind sich die Forscher einig, ist der Ort, an dem äußere und innere Zeit zusammen kommen; das Organ, das die wahrgenommene Zeit quasi konstruiert. Den besten Hinweis für diese These liefert ein lange bekannter Tatbestand: Optische und akustische Signale werden vom Gehirn unterschiedlich schnell verarbeitet; akustische Reize einige Millisekunden schneller als die optischen; dennoch hat das Bewusstsein keine Mühe, beide ein und demselben Ereignis zuzuordnen – als Ergebnis einer internen Verrechnung. Nicht viel zu tun hat die interne Recheneinheit nur dann, wenn akustischer und optischer Reiz aus einer bestimmten Entfernung kommen. Denn Licht ist schneller als Schall, so dass der optische Reiz früher eintreffen kann als der akustische vom selben Ereignis. Im Gehirn verliert der Lichtreiz diesen Vorsprung dann wieder. Die Entfernung, bei der der Vorsprung außen die Verzögerung innen gerade ausgleicht, liegt bei etwa 11 Metern.

    Ein Zufall, dass der Strafstoß beim Fußball aus dieser Entfernung geschossen wird?

    Wie macht ein Mensch das, dass er Zeit schätzen kann, obwohl er kein Sinnesorgan für Zeit hat. Das heißt, man kann sehen mit den Augen, man kann riechen mit der Nase und man kann hören mit den Ohren, aber man kann, die Frage stellt sich, womit kann ich Zeit schätzen und angesichts des objektiven Nachweises für das Fehlen eines Organes, muss man sich fragen, wie es funktioniert.

    Die Gehirnaktivität einen 10-Jährigen Jungen in Originalgeschwindigkeit. 15 Kanäle des Enzephalogramms sind gleichzeitig zu hören. Jeder Kanal hat einen anderen Ton. Die hohen Töne sind Signale nahe der Stirn, die tiefen Töne am Hinterkopf.

    Ein gesunder Herzschlag. Wir spielen ihn schneller ab, damit sein Rhythmus auffällig wird.

    Einfache Oszillation des Kalziums in einer Leberzelle. Im Original ist die Messung 12 Minuten lang.

    Es gibt Befunde die das sehr deutlich machen, dass es unterschiedliche Rhythmen gibt. Also wir haben kurzzeitige Rhythmen wie zum Beispiel verschiedene Rhythmen im EEG, es gibt Tages- und Nachtrhythmen, es gibt noch größere Rhythmen, insofern gibt es eine ganze Vielzahl von inneren Uhren, wenn man so will, die unser Verhalten mitbestimmen.

    Die inneren Uhren bemerken wir erst dann, wenn sie aus dem Takt geraten, wenn zum Beispiel ihre Synchronisation mit dem Tag/Nacht- Rhythmus auseinanderfällt, bei einem Jetlag oder bei Schichtarbeit. Menschen können aber auch extrem kurze Zeitdauern von wenigen Millisekunden recht präzise schätzen, so dass die innere Uhr nicht nur eine Datumsanzeige, sondern vermutlich auch einen Sekunden-, wenn nicht sogar Millisekundenzeiger hat.

    Inwieweit diese Uhr, die für das Schätzen von Millisekunden verantwortlich ist, mit der übereinstimmt, die uns morgens aufwachen und abends einschlafen lässt, das ist noch nicht erforscht. Die Vorstellung ist wahrscheinlich plausibler, dass es einen Grundrhythmus gibt, von dem aus andere separat adjustiert werden können, dass es sozusagen eine ganze Klaviatur von Rhythmen in uns gibt, aber wie das zusammenhängt – da ist Einiges im Dunkeln.

    Um mehr über den inneren Sekunden- und Millisekundenzeiger herauszufinden, versuchen Psychophysiker wie Thomas Rammsayer in Göttingen die innere Uhr gezielt zu stören. Zum Beispiel mit Medikamenten.

    Das Ganze ging zurück auf Beobachtungen, die man in den 70er Jahren gemacht hat, unter Dorgen wie Mescalin und LSD, da hat man festgestellt, dass eben Personen, die LSD nehmen zum Beispiel, längere Zeitdauern total verzerrt wahrnehmen, während kurze Zeitdauern unter eine Sekunde von denen ganz normal erlebt werden. Das war eine beiläufige Beobachtung aber doch ein erster Hinweis darauf, dass verschiedene Mechanismen wirksam werden für die Verarbeitung von langen und kurzen Zeitdauern.

    Denken und Lernen, also so genannte kognitive Prozesse, scheinen mit der Verarbeitung längerer Zeitdauern in Wechselwirkung zu treten. Die Psychologen vermuten, dass mehrere innere Uhren für die menschliche Zeitwahrnehmung maßgebend sind. Ein schneller Taktgeber, dessen genauen Sitz noch niemand kennt, und der völlig unbewusst abläuft, und eine Uhr, die unter Beteiligung kognitiver Prozesse gewissermaßen die Sekunden zählt, die Lebensmomente aneinanderhängt und für Kontinuität sorgt. Mit entscheidend für ein erfolgreiches Reagieren auf äußere Reize ist dabei nicht nur die korrekte Erfassung von Zeitdauern, sondern auch der richtigen Reihenfolge.

    Deshalb gibt es im Moment auch einige Theorien, die davon ausgehen, dass zum Beispiel auch Lese-Rechtschreibstörungen teilweise durch eine Beeinträchtigung in fundamentalen Zeitverarbeitungsmechanismen bedingt, zumindest mitbedingt ist. Wenn zum Beispiel ein Wort nicht richtig gelesen werden kann, das ist eine grundlegende Funktion im Bereich der Zeitverarbeitung, nämlich Reihenfolge. Es ist ja nicht so, dass wir per se richtige Reihenfolge wahrnehmen können. Nehmen Sie an, Sie haben eine Telefonnummer. Da haben Sie sieben Ziffern, aber die Ziffern sind für Sie nur dann sinnvoll, wenn Sie nicht nur die Ziffern abgespeichert haben, sondern exakt die richtige Reihenfolge, in der sie gewählt werden müssen. Und ähnlich ist es beim Lesen und Schreiben genauso.
    Wenn die Fähigkeit zur Entdeckung von Reihenfolge gestört ist, dann können durchaus solche Probleme entstehen, wie sie zum Beispiel bei Legasthenie bestehen.


    Lesestörungen können auch ein Hinweis auf Entwicklungsstörungen sein. Denn die mentale Konstruktion von Zeit ist dem Menschen nicht in die Wiege gelegt, sie wird erst im Laufe der Kindheit entwickelt. So sind Kinder erst ab etwa zehn Jahren in der Lage, Zeitdauern ähnlich gut einzuschätzen wie Erwachsene.

    Kinder haben noch ganz andere Schwierigkeiten mit der Zeit umzugehen. Zum Beispiel Kinder bis zum Alter von etwa 5 Jahren verwechseln häufig den Begriff Gestern mit dem Begriff Morgen. Sie haben darüber hinaus die Schwierigkeit, Geschwindigkeit vernünftig einzuschätzen, bzw. Zeitschätzungen oder das Konzept Zeit zu verstehen.

    Zu den klassischen Untersuchungen in diesem Feld gehört eine Studie, in der man Kinder befragte, was mit der Zeit, was mit ihrem Alter passiere, wenn die Uhr eine Stunde vorgestellt würde.

    Und erst im Alter von 15 Jahren haben die meisten Kinder sagen können, dass es sich hier um eine reine Konvention handelt, das heißt dass die Zeit nicht weniger oder mehr wird, sondern dass das lediglich ein Verstellen der Uhr ist, die Kinder waren 15 Jahre alt!
    Florian Klapproth in Berlin hat einen weiteren störenden Einfluss auf die Genauigkeit der inneren Uhren ausfindig gemacht: nicht nur unter Drogen oder kognitiven Anforderungen, sondern schlicht auch unter Zeitdruck leidet das Zeitschätzvermögen.

    Wenn man sich ein praktisches Beispiel heranzieht, das diesen Zusammenhang verdeutlicht, könnte man sagen, ich bin am Bahnhof und mein Zug fährt in zehn Minuten ab. Und ich überlege, habe ich noch genug Zeit mir ne Zeitung zu kaufen. Hier wäre die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges mein Standardintervall und die Zeit die ich benötige um eine Zeitung zu kaufen, wäre mein Vergleichsintervall. Unter Zeitdruck wird das Standardintervall unterschätzt. Das heißt real hat man mehr Zeit als man glaubt, wenn man unter Zeitdruck steht.

    Die Fehleinschätzung wird zudem immer größer, je länger die Zeiträume werden, die zu schätzen sind. Da könnte im Laufe eines Tages einiges zusammen kommen. Florian Klapproth macht sich deshalb Gedanken über mögliche Anwendungen im Wirtschaftsalltag.

    Ein Manager hat ja immer Zeitdruck. Man könnte vermuten, dass er seine Zeit, die er zur Verfügung hat, systematisch unterschätzt, weil er eben unter Zeitdruck steht. Eine mögliche Konsequenz betrifft die Frage, ob das trainierbar ist, und ob man auch unter Zeitdruck die Zeit korrekt einschätzen kann, und welche Faktoren das begünstigen würden, also ein solches Training ermöglichen würden. Das könnte also dazu führen, dass man die Zeit noch effektiver nutzen kann, weil man über den Tag gerechnet vielleicht einen Schätzfehler von einer Stunde begeht, und diese Stunde hätte man dann mehr zur Verfügung.

    So bekommt der Tag am Ende vielleicht doch noch 25 Stunden – die Psychologie der Zeitwahrnehmung macht’s möglich.

    Ich habe eine Sache mir noch überlegt, wie man Zeit sozusagen verlängern kann. Und zwar hat man ja häufig das Problem, dass die Zeit einem rückblickend wie im Fluge vergangen erscheint. Und es gibt nun Modelle, die einen Zusammenhang herstellen zwischen der Zeit wie ich sie rückblickend schätze und der Anzahl der Ereignisse die in dieser Zeit stattgefunden haben.

    Was Psychologen als "Zeitparadoxon" kennen, ist eine Alltagserfahrung: je weniger passiert, desto länger erscheint einem die Zeit im Augenblick des Erlebens, desto kürzer aber im Rückblick. Und umgekehrt.

    Und da wir nun alle in Arbeitsverhältnissen drin sind und daran wenig ändern können, wäre eine Möglichkeit zu gucken, ob man durch eine recht einfache Intervention, nämlich durch eine Imaginationsübung durch eine Vorstellung von Ereignissen die gar nicht da sind, die gar nicht lange dauern müssen, vielleicht zehn Minuten vielleicht ne Viertelstunde, ob man dadurch nicht vielleicht einen Effekt erzielt, der die rückblickende Einschätzung der Dauer verlängert.

    So würde durch einen nur kurzen abendlichen Ausflug in eine imaginierte Abenteuerwelt der langweilige Arbeitstag in der Erinnerung zu einem lang andauernden Highlight werden. Auch nicht übel wäre freilich eine Technik, die hülfe, den langweiligen Arbeitstag als wie im Fluge vergehend zu empfinden.

    Einen ganz anderen Weg, die Diskrepanz zwischen erlebter und vorgegebener Zeit, zwischen Zeitempfinden und Terminkalender zu verringern, sucht der Wirtschaftspädagoge und Zeitforscher Karlheinz Geißler.

    Früher in der Vormoderne war das menschliche Zeiterleben und Handeln in die Natur mit eingebettet. Man ging mit den Hühnern schlafen und stand mit dem ersten Hahnenschrei wieder auf, und versuchte nicht mit künstlichen Licht den Hühnern zwei Eier abzupressen in der Nacht.
    Die Erfindung der Uhr geht natürlich zusammen mit gewissen Formen von Produktion und Handel. Die Uhren sind erfunden worden zu einer Zeit, als zum Beispiel der Handel sich über die Regionen hinwegbewegte, das heißt, man hat sich auch vom Raum her erweitert und musste koordinieren. Und in Italien, wo die Uhren entstanden sind, ist auch zu dieser Zeit das Geldwesen entstanden, das heißt der Handel, der Handel mit der Zeit ist entstanden, die Zinsen sind entstanden.


    "Zeit ist Geld" lautet die Maxime, die diese historische Entwicklung umschreibt. An ihrem Ende angekommen hetzen wir in einer globalisierten Welthandelsgesellschaft mit zunehmend beschleunigter Entwicklung dem kleinsten Zeitvorteil hinterher.

    In einer Wettbewerbsgesellschaft heißt die Gleichung ja nicht Zeit ist Geld, sondern Zeitvorsprung ist Geld. Und das ist die Dynamik der Beschleunigung, dass der Vorsprung in Profit umsetzbar ist.

    Aber nicht mehr lange, meint Karlheinz Geißler.

    Warum? Weil wir am Ende der Beschleunigung angekommen sind, nämlich bei Lichtgeschwindigkeit. Die Börsengeschäfte und die Finanzmärkte arbeiten mit Lichtgeschwindigkeit, das heißt es ist kein Zeitvorsprung mehr rauszuholen, und jetzt stellt sich die Frage: wo kommen die Profite her?

    Fazit des Münchner Zeitforschers: Wir brauchen eine neue Langsamkeit, eine Rückbesinnung auf die innere Uhr, die Harmonisierung natürlicher Rhythmen mit äußeren Zeitzwängen.

    Ich glaube, da ist ein Potenzial da, um auf ein Stück Güterwohlstand zu verzichten und Zeitwohlstand zu realisieren.