Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Keiner kann alles

Die Berliner Installation "Ich bin Keiner. Public Is The New Private" verbindet Ausstellung, Theater und Netztheorie. Die Kunstfigur Keiner "verschränkt den privaten Raum mit dem virtuellen und schließt ihn mit dem öffentlichen kurz.

Von Ralph Gerstenberg | 27.09.2011
    Das übliche Treiben am Freitagabend in Berlin-Mitte: Fahrradfahrer kämpfen sich die Kastanienallee hinauf, die Straßenbahn spuckt Touristen mit Rollkoffern aus. Aus einem der wenigen noch unsanierten Häuser dringt das Klingeln von Telefonen. Ein paar Neugiergierige stehen vor der Eingangstür. Ein Mann in gelbgrün bespritztem Overall erscheint im Treppenhaus.

    "Mein Name ist Johannes Brandrup. Ich bin als Datenschützer beauftragt, die informationelle Selbstbestimmung von Herrn Keiner zu gewährleisten. Zur Erklärung: Herr Keiner leidet am Keiner-Syndrom. Das Keiner-Syndrom ist eine noch nicht erforschte Krankheit. Eines ihrer vielen Symptome ist, dass Keiner nicht mehr entscheiden kann, was privat und was öffentlich ist."

    "Ich bin Keiner – Public ist the New Private" heißt das Projekt, für das sich Johannes Brandrup, der Leiter des Berliner Logentheaters, und seine Mitspieler mit dem Künstler Ingolf Keiner zusammengetan haben. In einer Mischung aus Kunst, Performance und Theater soll über das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Internetzeitalter nachgedacht werden.

    "Das hat sich dadurch ergeben, dass wir über das Ende der Privatheit gesprochen haben und Ingolf Keiner ein Künstler ist, mit dem ich schon sehr lange zusammenarbeiten wollte. Dann waren wir plötzlich so: Augenblick mal: Keiner, Keiner hat ja auch ne Doppeldeutung. Dann war eigentlich das Konzept schon erfunden."

    In seiner Rolle als Datenschützer tritt Johannes Brandrup die Tür zum sogenannten Institut auf: ein Kellerraum, aus dem Theaternebel dringt. Hier wurde Material über die Kunstfigur Keiner zusammengetragen. Über jenen Mann also, der die Grenzen der Privatheit lustvoll einreißt und damit seine Umgebung in Aufregung versetzt. Keiner selbst, dessen Daten mit dem Handy über QR-Codes abrufbar sind, die überall an den Wänden kleben, tritt zunächst nur in einer Videoprojektion in Erscheinung. Mit verdrahtetem Kopf zitiert er netztheoretisches Gefasel:

    "Wenn Sie planen, Mitspieler der Macht und des Einflusses im Zeitalter der Produktivität zu sein, müssen Sie die Rolle der 'psycho-neuro-immunologischen Agenten' - die Makrophagozyten und Neuropeptide und zytotoxischen T-Zellen der Neuen Stammesgesellschaft akzeptieren."

    Der Datenschützer führt die Besucher durch die Wohnräume des Herrn Keiner, die mit Barocktapeten und Baumaterialien gestaltet wurden. Den Spiel- und Ausstellungsort hat ein Immobilieninvestor zur Verfügung gestellt, der durch Luxussanierungen im Viertel bekannt geworden ist. 300 Tage lang dürfen die Künstler sich hier austoben, dann werden Bewohner die Räume beziehen, die im Allgemeinen großen Wert auf ihre Privatheit legen.

    "Also Gentrifizierung findet statt, keine Frage. (...) Hier werden schon sehr schöne Wohnungen stehen, die man auch kaufen kann."

    Erst zum Schluss der performativen Führung trifft man auf Herrn Keiner persönlich. Er kauert in einem neongrün gestrichenen Badezimmer und redet in Zungen. Am Ende der Performance verwandelt sich die Kunstfigur Keiner wieder in den Künstler Ingolf Keiner und fragt:

    "Was gibt's?"

    Das Spiel mit verschiedenen Identitäten greift einen Diskurs auf, der seit einiger Zeit im Internet unter dem Slogan Post Privacy geführt wird. Ingolf Keiner sieht in der Aufgabe der Privatheit durchaus eine Chance.

    "Das bedeutet, dass dieser Verlust an Kontrolle mit einem gleichzeitigen Gewinn einhergeht, nämlich dem Gewinn an Möglichkeiten, sich selbst auszudrücken, Meinungen kundzutun, sich darzustellen und sich sichtbar zu machen. Und zwar in der Öffentlichkeit in breiter multiplizierter Form."

    Nach der Führung betrachtet eine Besucherin nachdenklich die spinnwebartigen Datennetze, die an den Wänden vieler Keiner-Räume kleben.

    "Total, würde man sagen: crazy. Aber sehr phantasievoll. Also verstehen kann man es natürlich nicht. Man weiß nur, die wollen irgendwie was Besonderes sagen, aber dass ich sage: 'Ich hab's genau verstanden.' Das würde ich mir nicht einbilden."

    Mehr Informationen finden Sie unter www.ichbinkeiner.de. Die performativen Führungen finden bis zum Februar freitags und samstags um 19, 20 und 21 Uhr in der Kastanienallee 64 in Berlin-Mitte statt.