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Kemalisten kontra Religiöse

In der Türkei wird am 22. Juli ein neues Parlament gewählt - frühzeitig, erzwungen von der Armee mit offenen Putschdrohungen gegen die gemäßigt religiöse Regierung unter Ministerpräsident Erdogan. Seit dem stehen sich die beiden gesellschaftlichen Lager - Kemalisten und Religiöse - im Wahlkampf unversöhnlich gegenüber. Angeheizt wird die politische Situation auch durch die anhaltenden Kämpfe zwischen der PKK und den Sicherheitskräften. Gunnar Köhne berichtet aus Istanbul.

    Mit einem gestohlenen Jeep rasten die Angreifer am Wachposten vorbei auf den Hof des kleinen Militärstützpunkts in der Nähe des südosttürkischen Stadt Tunceli. Die beiden Fahrzeuginsassen eröffneten sofort das Feuer auf die überraschten Soldaten, auch Handgranaten sollen geworfen worden sein. Acht junge Rekruten starben und sechs weitere wurden verletzt, einer der Terroristen fiel ebenfalls im Gefecht.

    Mit diesem gestrigen Angriff der kurdischen PKK - dem blutigsten seit langem - haben die Kämpfe zwischen den Separatisten und den türkischen Sicherheitskräften einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Kaum war die Nachricht von dem Attentat verbreitet, wurden die Rufe nach Vergeltung laut: Unsere Geduld ist am Ende, schrieb ein Online-Leser der Zeitung Hürriyet. Ein anderer notierte gar: Ich will endlich Blut sehen.

    Auch die türkische Armeeführung scheint mit ihrer Geduld am Ende. Immer unverhohlener spricht sie davon, die PKK Lager im Nord-Irak angreifen zu wollen. Anders sei der Terrorismus nicht zu besiegen, meint der Generalstabschef Yasar Büyükanit:

    "Ist es notwendig, eine Operation im Nord-Irak durchzuführen? Ja, das ist es. Wird sie erfolgreich sein? Ja, das wird sie. Aber wir brauchen dafür einen Entschluss der Politik."

    Die türkische Armee drängt die Regierung, endlich grünes Licht für einen Einmarsch in den Nord-Irak zu geben. Aber Ministerpräsident Erdogan weiß: Ohne Duldung durch die USA und die kurdische Regionalregierung im Nord-Irak wäre eine solche Militäroperation ein gefährliches Abenteuer . Die Türkei würde in das blutige Chaos des Nachbarlandes hineingezogen. Doch monatelange Verhandlungen zwischen Washington und Ankara über diese Frage blieben ergebnislos.-Die Türken fühlen sich vom großen NATO-Bruder hingehalten. Nach einem Telefongespräch mit seiner Amtskollegin Condolezza Rice antwortete Außenminister Gül auf die Frage, ob sie sich über die geplanten grenzüberschreitenden Militäroperationen unterhalten hätten: Nein, dazu brauchen wir niemanden um Erlaubnis fragen. So etwas entscheiden wir alleine:

    Während die Armee begonnen hat, Panzer an die irakische Grenze zu verlegen, drohen die nordirakischen Kurden im Falle eines Einmarsches mit Widerstand. Sie verdächtigen die Türken nicht die PKK, sondern in Wirklichkeit Kirkuk ins Visier genommen zu haben. Die ölreiche Stadt wird von den Kurden beansprucht, und die Türken beklagen, dass der turkmenische Bevölkerungsanteil von Kirkuk systematisch vertrieben werde. Der irakische Kurdenführer Mesut Barzani antwortete darauf vor zwei Monaten in einem Fernsehinterview:

    "Kirkuk ist eine kurdische Stadt. Wenn sich die Türkei in Kirkuk einmischt, dann nehmen wir uns das Recht heraus, uns in Diyarbakir einzumischen."

    Kurdische Peschmerga aus dem Nord-Irak im türkischen Teil Kurdistans? Diese Drohung ist ein gefundenes Fressen für den Wahlkampf der türkischen Opposition. Der Parteichef der rechtsliberalen Mutterlandspartei, Erkan Mumcu:

    "Im Namen des türkischen Staates haben sie mit diesem Barzani bis vor kurzem offizielle Kontakte gepflegt! Da sehen Sie es: Die territoriale Einheit des Landes und die nationalen Werte sind ihnen gleichgültig!"

    Am vergangenen Sonntag soll türkische Artillerie ein paar Schüsse auf irakisches Territorium abgefeuert haben, berichten kurdische Medien. Und vielmehr sei von der türkischen Seite derzeit auch nicht zu erwarten, meinen Fachleute - sie halten die Debatte für ein innenpolitisches Manöver: Die Armee und ihre politischen Verbündeten, die Kemalisten, wollten einen erneuten Wahlsieg der religiösen Fortschritts- und Gerechtigkeitspartei verhindern, indem sie sie als Sicherheitsrisiko hinstellten. Ein angeblich fundamentalistisches Regime, das die Armee an der Erfüllung ihrer Aufgaben hindert. Sollten die blutigen Anschläge der PKK kein Ende nehmen, so spekuliert die regierungsnahe Tageszeitung Zaman in ihrer gestrigen Ausgabe, dann könnte dies ein weiterer Grund für den Generalstab sein, den Ausnahmezustand auszurufen, die Neuwahlen abzusagen und in Ankara die Macht ganz an sich zu reißen.