Donnerstag, 28. März 2024

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Ken Krimstein: "Die drei Leben der Hannah Arendt"
Ekstatische Wahrheit

Hannah Arendt ist die wahrscheinlich wichtigste Denkerin des 20. Jahrhunderts. Ken Krimstein hat ihr Leben und Denken jetzt in einer Graphic Novel kondensiert und dabei ganz nebenbei eine hervorragende und unterhaltsame Einführung in Arendts Philosophie und Politische Theorie geschaffen.

Von Mithu Sanyal | 06.01.2020
Der Schriftsteller Ken Krimstein und sein Buch: "Die drei Leben der Hannah Arendt"
Ken Krimstein verdichtet das komplexe Leben Hannah Arendts in seiner Graphic Novel (dtv Verlagsgesellschaft/ Foto Krimstein: Richard Shay)
"Warum war Hannah Arendt so verdammt cool?"
Das war die Frage, die Ken Krimstein nicht losließ. Am liebsten hätte er die Philosophin zum Dinner getroffen: in Königsberg oder im Romanischen Café in Berlin, an einem der Orte, an denen sie gedacht und geraucht und geredet hatte. Da diese jedoch vom Lauf der Geschichte weggefegt wurden, entschied er sich, ihr in dem Medium zu begegnen, das er eine "Zeitmaschine" nennt. Denn in der Graphic Novel ergeben Worte und Bilder mehr als nur die Summe ihrer Zeichen, sie erzeugen eine direkte sinnliche Anwesenheit. Eine Anwesenheit von verqualmten Räumen, gedrängt voll mit der intellektuellen Crème de la Crème des 20. Jahrhunderts, mit wenigen Strichen unverkennbar eingefangen, und in ihrer Mitte Hannah Arendt, ohne Lächeln, aber immer mit einer Zigarette, umgeben vom Blitzgewitter der Feuerzeuge ihrer Verehrer.
Im Original hat Krimstein jede Figur der Weltgeschichte mit einer Fußnote versehen, so dass Arendts Leben als veritables Who’s Who der wichtigsten Denker und Künstler ihrer Zeit erkennbar wird - und nahezu alle sind jüdisch. In der deutschen Übersetzung sind diese Fußnoten in das Personenverzeichnis ans Ende des Buches gerutscht, was hilfreich für den Lesefluss ist. Allerdings geht dadurch das nahezu absurde Ausmaß an Verbindungen zwischen diesen jungen erkenntnishungrigen Menschen verloren. Dann brennt der Reichstag, und die deutsche Intelligenzia verstreut sich in alle Winde.
Hannah Arendts erstes Leben
1933 wird Hannah Arendt in der Preußischen Staatsbibliothek von der Gestapo verhaftet. Die Zionisten, in deren Auftrag sie ein Pressedossier der anti-jüdischen Propaganda erstellt hat, schicken ihr einen berühmten Anwalt mit einem Apfelstrudel ins Gefängnis. Und sie setzt alles auf eine Karte und sagt:
",Nein.'
,Sind Sie noch bei Trost? Ich vertrete die beste Anwaltskanzlei in ganz Deutschland.'
,Nein. Erstens haben Sie schon alles vermasselt und zweitens finde ich mich gut alleine zurecht. Hier haben Sie ihren Apfelstrudel.'"
Das Ass in ihrem Ärmel ist der SS-Offizier, der sich während der Verhöre in Arendt verliebt und sie tatsächlich aus dem Gefängnis freibekommt. Darauf geht sie nicht mehr nach Hause, sondern flieht sofort mit ihrer Mutter über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei.
Hannah Arendts zweites Leben
Landkarten mit gestrichelten Linien zeigen ihre verschlungenen Wege über Prag nach Paris. Als die Nazis in Frankreich einmarschieren, wird Arendt im Lager Gurs interniert. Wieder gelingt ihr die Flucht. In immer unsichereren Verstecken treffen die deutschen Intellektuellen, die es schaffen zu überleben, aufeinander, bis sie schließlich in Lissabon angespült werden, dem letzten Hafen Europas, von dem noch Schiffe nach Amerika gehen. Ken Krimsteins täuschend schlichte Zeichnungen machen die Klaustrophobie eines Europas, aus dem es immer weniger Fluchtwege gibt, nahezu körperlich spürbar. Als Hannah endlich mit ihrem Mann Heinrich Blücher und ihrer Mutter Martha einen Platz an Bord bekommt, trägt sie in ihrem Koffer das letzte Manuskript ihres Freundes Walter Benjamin. Er hat es Hannah übergeben, bevor er sich an einem versperrten spanischen Grenzübergang das Leben nahm. In New York kann sie trotzdem die Nachrichten von den industriellen Todeslagern hinter den deutschen Linien nicht glauben. Bis sie sie glauben muss.
",Die Tradition ist nicht bloß zerbrochen, sie ist zerfallen. Ihr Kopf wurde rasiert, ihre Seele zerschmettert, ihre ganze Existenz in verschlossene Räume gesperrt und vernichtet. Wie können wir immer noch leben?'
,Hannah!'
,Blücher, ich habe dich gebeten, mich nicht zu stören.'
,Hannah, hier oben!'
,Wa… ein Wasserfleck an der Decke über der Couch in der Gestalt von Walter Benjamin? Und du kannst sprechen?'
,Klar. Also bitte! Wenn ein Wasserfleck in der Gestalt von Walter Benjamin mit dir spricht, solltest du vielleicht zuhören.'"
Hannah Arendts drittes Leben
So akribisch genau Ken Krimstein mit Hannah Arendts historischer Wahrheit umgeht, so große visuelle und poetische Freiheiten nimmt er sich. Der Rauch ihrer omnipräsenten Zigarette schlängelt sich durch die Seiten und der Text schlängelt sich mit ihm; die Panel lösen sich auf. Historische Figuren wie Kant oder Augustinus kommunizieren mit Hannah über die Zeiten hinweg. Er nennt dieses Verfahren ekstatische Wahrheit. Einen Begriff, den er bei Arendt selbst geliehen haben könnte. Und damit schließt sich der Kreis, der mit Hannah Arendts Philosophiestudium in Marburg bei Martin Heidegger angefangen hat. Der Philosoph, mit dem sie eine komplizierte Liebe verband und zu dem sie nie den Kontakt abbrach, obwohl er offen mit den Nazis sympathisierte. Ihr drittes Leben ist die Loslösung von seiner Philosophie.
",Hannah, durch unsere Liebe konnten wir die Ersten, die Einzigen sein, die jemals die absolute Wahrheit sehen durften.'
,Hast du es immer noch nicht begriffen? Die Wahrheit gibt es nicht – nur Wahrheiten. Anstatt zu denken, was immer auf eine Antwort hinausläuft, praktiziere ich das ‚durchdenken‘, was neue Fragen aufwirft.'"
Durch Ken Krimsteins kunstvolle Biografie erhält man nicht nur einen intimen Einblick in die außerordentliche Person Hannah Arendt, sondern versteht danach auch ihre Philosophie und politische Theorie besser.
Ken Krimstein: "Die drei Leben der Hannah Arendt"
aus dem amerikanischen Englisch von Hanns Zischler
Deutscher Taschenbuch Verlag 2019, München. 244 Seiten, 16,90 Euro.