Archiv

Kent Haruf: "Lied der Weite"
Die im Choral besungene Alltäglichkeit

Der 2014 verstorbene Kent Haruf wurde in seiner Heimat mit zahlreichen Preisen versehen, hierzulande blieb er jedoch relativ unbekannt. Bislang, denn: Posthum erreicht er nun durch Netflix-Verfilmungen und Neuauflagen wie "Das Lied der Weite" auch in Deutschland ein größer werdendes Publikum.

Von Maik Brüggemeyer |
    Buchcover Kent Haruf: Lied der Weite und Rinderherde
    Buchcover Kent Haruf: Lied der Weite und Rinderherde (Diogenes Verlag / dpa / Bernd Wüstneck)
    Kent Haruf wurde 1943 als Sohn eines methodistischen Pfarrers im US-Bundesstaat Colorado geboren. Bevor er im Alter von 41 Jahren Schriftsteller wurde, hatte er ein bewegtes Leben. Er studierte in Nebraska und Illinois, verweigerte den Kriegsdienst und arbeitete während des Vietnamkriegs für das US-Friedenscorps in der Türkei als Englischlehrer. Er jobbte auf Hühnerfarmen, in Bibliotheken, Krankenhäusern und Schulen in Iowa, Arizona und Wisconsin. Dass er vielen Menschen und ihren Schicksalen begegnet ist, merkt man seinen insgesamt sechs Romanen an. Aber ebenso sehr spürt man seine tiefe Heimatverbundenheit. Denn seine Geschichten spielen ausnahmslos in der fiktiven Stadt Holt/Colorado, umgeben von der Landschaft, die ihn hervorgebracht hat – den von Viehzucht geprägten Prärien östlich der Rocky Mountains.
    Sein dritter und erfolgreichster, in seiner Heimat 1999 erschienener Roman trägt folgerichtig im Original den Titel "Plainsong". In der 2001 erstmals erschienenen Übersetzung von Rudolf Hermstein hieß er "Flüchtiges Glück", in der Neuauflage nun etwas passender "Lied der Weite". Denn dieser Roman erzählt tatsächlich mindestens so sehr vom weiten Land wie von den Leuten, die sich darin verlieren.
    "Da stand er, dieser Tom Guthrie, am hintersten Küchenfenster seines Hauses in Holt, rauchte Zigarette und schaute über die Koppel, wo gerade die Sonne aufging. Als sie die Spitze der Windmühle erreichte, sah er eine Weile zu, wie sie die stählernen Flügel und die Windfahne über der hölzernen Plattform rot und immer röter färbte. Dann drückte er die Zigarette aus, stieg die Treppe hinauf und ging an der geschlossenen Tür vorbei, hinter der sie im abgedunkelten Gästezimmer im Bett lag, ob sie nun schlief oder nicht, und den Flur entlang zu dem verglasten Zimmer über der Küche, in dem die beiden Jungen waren."
    Überforderte Viezüchter
    Sie, das ist Tom Guthries Frau Ella, die einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben scheint und sich immer weiter von ihrem Mann, einem Pferdezüchter und Lehrer an der örtlichen Schule, distanziert, bis sie schließlich auszieht. Die beiden Jungen, das sind seine Söhne Bobby und Ike, zehn und neun Jahre alt. Von ihren Eltern vernachlässigt werden sie unzertrennlich. Gemeinsam erkunden sie ihre Umgebung und besuchen regelmäßig die alte, kranke und etwas unheimliche Mrs Stearn.
    Dann ist da noch Victoria Robideaux, eine 17-jährige Schülerin, die von ihrer Mutter verstoßen wird, als diese erfährt, dass ihre Tochter schwanger ist. Victoria schlüpft schließlich bei der Lehrerin Maggie Jones unter. Diese ist weit mehr als nur eine Kollegin von Tom Guthrie, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt. Doch ihr dementer Vater kommt mit dem neuen Hausgast überhaupt nicht zurecht, und so beschließt Maggie, die werdende Mutter bei den alten Jungesellen Harold und Raymond McPheron unterzubringen. Die beiden wortkargen Brüder leben als Kuhzüchter auf einer Farm außerhalb von Holt und sind von der Aufgabe, eine junge Frau aufzunehmen, naturgemäß erstmal überfordert.
    "Als sie am Ende der Woche abends mit dem Pick-Up zum Haus zurückfuhren, fragte Harold: Findest du nicht, dass Victoria in letzter Zeit irgendwie traurig und unglücklich wirkt?
    Ja. Ist mir auch aufgefallen.
    Sie schläft immer so lange. Das ist eine Sache.
    Vielleicht machen die das alle, sagte Raymond. Vielleicht machen das alle jungen Mädchen so, von Natur aus.
    Bis halb zehn? Neulich bin ich noch mal ins Haus zurück, weil ich was vergessen hatte, da ist sie gerade aufgestanden.
    Ich weiß auch nicht, sagte Raymond. Er schaute über die klappernde Motorhaube des Pick-Ups in die Ferne. Ich könnte mir denken, sie langweilt sich und fühlt sich einsam.
    Möglich, sagte Harold. Aber das kann doch nicht gut sein für das Baby.
    Was ist nicht gut für das Baby?
    Dass sie sich so einsam fühlt und traurig ist. Das kann nicht gut sein für das Kleine. Noch dazu, wenn sie bis tief in die Nacht aufbleibt und dann am Morgen nicht aus dem Bett kommt.
    Naja, sagte Raymond. Sie braucht ihren Schlaf.
    Sie braucht regelmäßigen Schlaf. Das braucht sie. Sie braucht ein regelmäßiges Leben.
    Woher willst du das wissen?
    Ich weiß es nicht, sagte Harold. Nicht mit Sicherheit. Aber nimm doch mal eine zweijährige Färse, die ein Kalb trägt. Die bleibt auch nicht die halbe Nacht wach und läuft unruhig rum, oder?"
    Mit dem ländlichen Amerika verwachsen
    Kent Haruf erzählt von seinem Land und seinen Figuren, denen er jeweils im Wechsel ein Kapitel widmet, mit großer Lakonie, ohne es dabei aber an Empathie fehlen zu lassen. Seine Erzählhaltung ist der der großen Südstaatenautorin Flannery O’Connor näher als etwa der des männlich-archaischen Cormac McCarthy, um zwei Autoren zu nennen, deren Werke ähnlich mit dem ländlichen Amerika verwachsen sind. Haruf führt uns nah an seine Figuren heran, erzählt langsam, schlicht und präzise vom Alltag in Holt. Er lässt es auch nicht an Genauigkeit fehlen, wenn es um den rektalen Schwangerschaftstest bei einer Kuh oder die Obduktion eines toten Pferdes mit Darmverschluss geht. Der Erzähler hier ist ebenso einfach, ehrlich und gerade heraus wie seine Hauptfiguren.
    Der anfangs bereits erwähnte Titel der amerikanischen Originalfassung dieses Romans, "Plainsong", ist auch das englische Wort für Choral, den einstimmigen Gesang einer Kirchengemeinde, und auch das steckt in diesem vielschichtigen, nur auf den ersten Blick einfachen Roman: Im Laufe der Handlung entsteht zwischen den einzelnen Figuren eine Art Gemeinschaftssinn, sie unterstützen sich und sorgen füreinander. "Das Lied der Weite" ist also eigentlich ein Choral der Weite. Dieser zeigt nun auch den deutschen Lesern, wie und warum aus dem Pfarrerssohn Kent Haruf ein großer amerikanischer Autor wurde.
    Kent Haruf: "Lied der Weite" aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
    Diogenes Zürich, 384 Seiten, 24 Euro