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Kerngesund und trotzdem krank

"Platz Mangel" zeigt die Welt des abstrusen Kurklinik-Alltags. Regisseur Christoph Marthaler präsentiert ein Stück zwischen börsenorientierter Profitgier und eingebildeten Krankheiten. Mit einer betäubenden musikalischen Begleitung stellt diese gelungene Satire die prekäre Lage des Gesundheitssystems auf amüsante Art und Weise an den Pranger.

Von Cornelie Ueding |
    Nur namhafte Leute, die sich’s auch leisten können, sind erwünscht in der Privatklinik in Höhenlage. Einem, wie sich herausstellt, höchst zweifelhaften Unternehmen der Gesundheitsbranche. Denn kaum sind sie da, die ersten Patientengäste, heißt’s auch schon Abschiednehmen von der noblen Ausstattung: von Schmuck und Pelzen, Toupets und falschen Bärten. Der Pfleger, ein effektiv und emotionslos arbeitender Tausendsassa mit einem professionellen Sensorium für die erotischen Nöte der weiblichen Kurgäste, ist ihnen beim radikalen Entkleiden behilflich und schickt den ganzen Krempel in einem überdimensionalen Müllsack mit der Gondel zu Tal. Der möglicherweise einzige Weg zurück in die Normalwelt.

    Für die bald in weißen Bademänteln uniformierten Patienten gibt es kein Zurück. Sie sehen sich einer Ärztephalanx von hinreißend säuerlicher Erhabenheit gegenüber. Damit überspielen diese Chefs auf Widerruf, dass auch sie nur Handlanger des Systems sind: Sie müssen das junge Kurklinik-Unternehmen fit für die Zukunft machen und den Börsengang vorbereiten. Das Patientengut ist deshalb sorgfältig ausgewählt: Alle sind kerngesund und leiden nur an sich selbst, an Übersättigung und an einigen medienwirksam soufflierten Problemzonen. Damit ist allen geholfen: Weil sie nur psychisch angeknackst sind, ihre Organe von diesen Luxuswehwehchen und Modekrankheiten also nicht betroffen sind – sind sie als Opfer, als profitable Organbanken ausersehen.

    Gut zwei Stunden lang spiegelt Christoph Marthaler mit seinem Ensemble genüsslich und streckenweise zum Schreien komisch die modischen Kalamitäten der eingebildeten Kranken an den Auswüchsen gnadenloser Profitgier:

    "Voll-Flexi-Tarif: Dieses Angebot ermöglicht ihnen, bereits frühzeitig mehrere zu erwartende Körperdefizite in einem Paket zu kombinieren. Folgende Kombinationsmodelle sind verfügbar. Erstens: Niere, Kniegelenk, Herzinfarkt. Zweitens: Hüfte, Gehörgang, Blinddarm. Sowie drittens: Schenkelhalsbruch, Grauer Star, Darmverschluss. Der Voll-Flexi-Tarif garantiert die Behandlung von jeweils einem, der im Paket enthaltenen, Gebrechen pro Quartal."

    Eine feingesponnene Satire auf Gesundheitssystem und Versicherungsschwindel, auf unser Verhältnis zu Körper, Geist und Seele, zu uns selbst und den Trends, auf die wir, reihenweise, hereinfallen. Keiner hört dem anderen zu, der Arzt sagt zu Klagen und Nachfragen der Patienten immer nur "hmmm", freilich in ganz unterschiedlicher Betonung. Da scheint sich der Mann im Pförtnerhäuschen als Beichtvater anzubieten, doch der ist, ach, der Inbegriff eines spießigen Bürokraten und Schreibtischtäters. Er antwortet zwar, doch mit einem – abgelesenen – Fertigsatz:

    "Vergessen wir nicht, dass der, welcher uns richten wird, der gleiche ist, der uns geschaffen hat."

    Da alle Darsteller grandiose Komiker sind, gelingt eine ganz seltene Gratwanderung: Noch in OP-Kittel und Netzhöschen wird keine der Figuren denunziert. Vielmehr decouvriert ihr Eifer, sich, ganz fix, sogar noch in die finale Warteschlange einzureihen, unseren Eifer, den Eifer des verehrten Publikums, in selbstzerstörerischer Besinnungslosigkeit allen möglichen angesagten Modeerscheinungen nachzulaufen.

    Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei die von Christoph Homberger genial zusammengestellte und gestaltete musikalische Weise der Manipulation. Musik als Betäubungsmittel kommt doppelt zum Einsatz: als Stimmungsaufheller, kollektive rhythmische Zwangsjacke, wenn’s kritisch werden und die Laune ob der Zumutungen kippen könnte; und als sanftsäuselndes, ebenfalls gemeinschaftliches Selbsteinlullen der immer lethargischer werdenden Kurgastpatienten. Z.B. Bach: halbes Tempo, mit geschürzten Mündern, halbgeschlossenen Augen und entsagungsvollen Mienen.

    Dieser Abend ist so witzig, klug und schön, dass eine kleine Mäkelei gestattet sei: 10, 15 Minuten kürzer und ein paar Durchhänger weniger – und er wäre rundum gelungen.