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Kernkraft im Aufwind

Nach dem Vorfall im amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg beschlossen die Schweden, bis zum Jahr 2010 müsse Schluss sein mit Atomstrom. Heutzutage ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt. Die Mehrheit der Schweden spricht sich sogar für Atomenergie aus. Ähnlich sehen es auch die Finnen. Dort entsteht sogar ein neues Atomkraftwerk. Regina König berichtet.

    "Was soll weg? Barsebäck! Was wollen wir haben? Sonne und Wind!" 1980, bei der Volksabstimmung zum Atomausstieg waren die Fronten klar: Das AKW-Unglück in Harrisburg hatte die Stimmung im bis dahin kernkraftfreundlichen Schweden gekippt. Eine Mehrheit entschied sich für den langfristigen Ausstieg. Bis zum Jahr 2010 sollten die zwölf schwedischen Reaktoren abgewickelt sein.
    Sechsundzwanzig Jahre danach ist Ernüchterung eingekehrt: Zwar einigten sich die regierenden Sozialdemokraten 1997 mit zwei Oppositionsparteien auf den Einstieg in den Ausstieg. Doch das Jahr 2010 als definitives Ende der schwedischen Kernkraft ist aber längst vom Tisch. Wind- und Wasserkraft lassen sich kaum mehr ausbauen und die verbliebenen zehn Atomreaktoren, die rund die Hälfte des schwedischen Strombedarfs produzieren, ließen sich kurzfristig allenfalls durch umweltschädliche Öl- und Gaskraftwerke ersetzen.

    Ein Referendum, das mehr als ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel hat, könne nicht länger die Grundlage für die schwedische Energiepolitik sein, meint Jan Björklund, Vizechef der oppositionellen liberalen Volkspartei. Laut Umfragen wünscht sich inzwischen eine deutliche Mehrheit der Schweden den Fortbestand, ja gar den Ausbau der Atomkraft:

    "Bei der Abstimmung 1980 wussten wir noch nichts vom Phänomen der globalen Erwärmung und von der Wirkung der Treibhausgase. Diese Erscheinungen werden die Bedingungen für unser Überleben auf diesem Planeten dramatisch verändern. Schweden hat sich verpflichtet, den Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen zu verringern. Doch was jetzt geschieht, ist das genaue Gegenteil. Wir sind das einzige Land in Europa, das eine Steigerung der Emissionen einplant. Und das beruht vor allem auf der Entscheidung der Regierung, die Kernkraft innerhalb von 20 Jahren abzuwickeln."

    Björklund und andere Befürworter der Kernenergie verweisen gern auf das Nachbarland Finnland, wo im September der erste Neubau eines Atommeilers seit der Tschernobyl-Katastrophe in Europa angelaufen ist. Ein deutsch-französisches Konsortium baut den 1600 MW-Reaktor in Olkiluoto. Er soll 2009 ans Netz und 60 Jahre laufen. In einem nahen Bergmassiv an der Südwestküste soll auch das finnische Endlager für den Atommüll entstehen. Mauno Paavola, Chef des Betreiber-Konsortiums verspricht sichere Technik, optimale Auslastung und einen wirksamen Beitrag für den Klimaschutz

    "Neue Kernkraftwerke zu bauen, ist durchaus logisch, denn wir haben alle anderen Optionen längst ausgereizt. Wenn Sie mich fragen, dann hat der neue Frühling für die Kernkraft längst begonnen: weltweit sind derzeit mehr als 30 neue Reaktorblöcke im Bau."

    Finnland hat keine eigenen Vorkommen an Öl, Kohle oder Gas, das Relief ist zu flach, um Wasserkraft zu erzeugen, die Sonne scheint zu selten, und die Holzschnitzelverbrennung hilft auch nicht viel. Die Energieimporte betragen rund 70 Prozent, der größte Teil kommt aus Russland. Der Energiebedarf der Metall-, Papier-, Elektronik- und Chemieindustrie wird zweifellos weiter steigen, Sparen reicht kaum aus. Nach Angaben der Gewerkschaften hängen rund 400.000 direkt und indirekt Arbeitsplätze von preiswertem Strom ab und laut nationaler Klimastrategie sollen die finnischen Treibhausemissionen bis 2012 auf den Stand von 1990 gebracht werden.

    Die Argumente für Atomkraft in Finnland wiegen schwer. Die Atomkraftgegner sind hingegen der Ansicht, der Prozess sei ganz klar gesteuert worden. Vor 13 Jahren lehnte das finnische Parlament den Ausbau der Atomkraft mit großer Mehrheit ab – zehn Jahre später kamen die Abgeordneten zum gegenteiligen Beschluss. Kaisa Kosonen, Energie-Kampaignerin bei Greenpeace:

    "Von diesem fünften Reaktor träumt die finnische Großindustrie seit den 70er Jahren. Beim dritten Versuch, die AKW-Baugenehmigung zu bekommen, war man allerdings schlau genug, den Antrag mit der Klimapolitik zu verbinden. Viele Jahre intensiver Lobbyismus hatten schließlich Erfolg. Es gibt keine sichere Atomkraft und auch dieser Superreaktor wird unsere Abhängigkeit von Russland nicht verringern."

    Doch in den letzten Jahren hat sich der Blickwinkel nicht nur in Finnland, sondern auch in Schweden verschoben. Der Energiebedarf steigt, jedem ist inzwischen der Zusammenhang von Energie und Wachstum klar, Umweltverschmutzung durch CO2 erscheint vielen bedrohlicher als ein weiterer Supergau.

    "Wir sollten die Kernkraft in Schweden ausbauen, weil wir immer mehr Energie brauchen, sagt dieser Passant in Stockholm, und ein anderer ergänzt: Allein wegen des Gewächshauseffektes und der Gefährdung der Ozonschicht brauchen wir mehr Atomkraft. Wir können nicht die ganze Landschaft mit Windkraftanlagen pflastern, und Energie aus Kohle ist nun wirklich keine Alternative."

    Rechnete man 1980 noch mit einer AKW-Laufzeit von 25 Jahren, so geht man inzwischen von 40 Jahren aus – ein weiterer Grund für die Schweden, den Ausstieg weit in die Zukunft zu verschieben.