Dienstag, 30. April 2024

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Kieler Kunsthalle
Erster Weltkrieg als Ende europäischer Künstlerwege

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden aus Freunden, Weggefährten und Malerkollegen über Nacht Feinde. Kandinsky und Jawlensky waren Russen, Marc und Macke Deutsche, Picasso Spanier und Braque Franzose. Vereinigungen und Gruppen lösten sich auf, die paneuropäische Bewegung der Avantgarde fand ihr Ende im Schützengraben.

Von Carsten Probst | 11.10.2014
    Fast sechshundert Namen umfasst die für dieses Projekt recherchierte Liste europäischer Künstlerinnen und Künstler, die mittelbar oder unmittelbar durch den Ersten Weltkrieg ums Leben kamen. Rund zehn Prozent davon sind mit Werken in dieser Ausstellung in der Kieler Kunsthalle vertreten, und die schon oft gestellte Frage steht angesichts der schieren Menge von Einzelschicksalen ausdrücklich noch einmal im Raum: Was wäre aus der Kunstgeschichte der Moderne geworden, wie hätte sich manche betroffene Künstlerbiografie entwickelt ohne die Zäsur durch diesen ersten großen Krieg?
    Weit über das Gedenkjahr hinausgehend
    Insgesamt zweihundert Arbeiten sind hier zu sehen, zumeist Malerei und Zeichnungen, wenige Skulpturen. Es ist ein großer Reiz dieser Ausstellung, dass die beiden Kuratoren Anke Dornbach und Peter Thurmann die Chance ergriffen haben, weit über die allseits während des Gedenkjahrs bemühten prominenten Künstlerschicksale – Egon Schiele, Franz Marc oder Wilhelm Lehmbruck – hinauszugehen. Viele weniger bekannte oder vergessene Namen sind mit teils aufwendigen Ausleihen aus den Depots zahlreicher europäischer Museen hier zu sehen. Die schiere Vielfalt der hier vorgestellten Werke, die Unterschiedlichkeit der Stile und Ausrichtungen macht es schwer, allgemeingültige Schlüsse aus den so abrupt abgebrochenen Künstlerwegen zu ziehen. Viele Künstler, die in die Kriegshandlungen involviert wurden, starben zu früh, um in ihrem Werk noch auf den Krieg zu reagieren. Nicht alle hatten, wie Ernst Bischoff-Culm oder Hermann Stemmler, Skizzenhefte an der Front dabei. Dass das Kriegsgeschehen selber in die Bilder gelangt, ist eher die Ausnahme. Formale, stilistische Reaktionen auf den Krieg finden sich eher bei den Davongekommenen.
    Dennoch sind es die individuellen Wege und Schicksale, durch die die Gewalt des abrupten Endes erfahrbar wird. Der kurz nach Kriegsbeginn in Polen gefallene Hermann Stenner wurde bereits mehrfach in größeren Ausstellungen vor allem in seiner Heimatstadt Bielefeld gewürdigt, seit Jahrzehnten wird er als einer der großen Unbekannten der frühen Avantgardemalerei in Deutschland geführt, mit Beckmann, Schlemmer und dem frühen Willi Baumeister verglichen – aber der frühe Tod scheint seinem grandiosen Werk, anders als bei Franz Marc, wie ein unauslöschlicher Makel einer abgebrochenen Entwicklung anzuhaften. Nicht viel anders bei dem gebürtigen Hamburger Fritz Nölken, der gut vernetzt war mit zahlreichen europäischen Künstlerkolonien und Sezessionen, als Künstler sogar für den Kriegsdienst zunächst freigestellt war, dann jedoch in den letzten Kriegstagen für den Fernmeldedienst an die Front gerufen wurde und in Belgien starb. Er zeigt eine aus dem Impressionismus erwachsene Entwicklung zu einer bestechend charaktervollen neusachlichen Malerei, die keinen Vergleich mit der Dresdner Schule jener Zeit hätte scheuen müssen.
    Unsichere Rezeption
    Wilhelm Morgener, 1917 bei Langemarck in Westflandern mit gerade einmal 26 Jahren umgekommen, stand dem Künstlerkreis in Worpswede nahe, Einflüsse der französischen Impressionisten und Realisten und vor allem van Goghs sind in seinen Malereien und Grafiken in dieser Ausstellung unübersehbar, und doch gibt er ihnen eine neue, aus heutiger Sicht fast an eine Vorwegnahme der Pop Art erinnernde Wendung. Ab kommender Woche wird im Hamburger Barlach-Haus eine Retrospektive zu sehen sein. Aber wird das ausreichen, um ein breiteres Bewusstsein für sein außergewöhnliches Werk zu wecken, oder wird sich in der Rezeption dieses Werkes als einem "ewig Unvollendeten" der Weltkrieg mit seinen Folgen unbewusst weiter fortschreiben?
    Die unsichere Rezeption, die für die vierzig deutschen Künstler dieser Ausstellung gilt, gilt für ihre Kollegen aus anderen Ländern erst recht. Viele, die während des Ersten Weltkrieges umkamen, sind in Deutschland nahezu unbekannt.
    Raymond Duchamp-Villon, der als Bildhauer dem Kubismus nahestand und 1915 in einem Militärlazarett an Typhus starb, ist unter ihnen wohl der noch bekannteste, vermutlich wegen seines berühmten Bruders Marcel Duchamp, für dessen Entwicklung er eine wichtige Rolle gespielt hat. Amadeo de Souza-Cardoso, der mit seiner geometrisch-expressiven Malerei unter anderem am Pariser Herbstsalon teilgenommen hatte, starb 1918 mit 31 Jahren an der Spanischen Grippe. Künstlerinnen bilden wiederum die krasse Minderheit in dieser Recherche. Auch wenn sich allmählich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die moderne Avantgarde keineswegs Männersache war: Der Krieg war es in seinen unmittelbaren Folgen wohl eher schon. Aber viele Frauen waren in Lazaretten und Sanitätsdiensten beschäftigt, so auch Olga Rozanowa. Die Russin starb 1918 mit 32 Jahren an einer Diphterie-Infektion, die sie sich vermutlich durch Kontakt mit Kriegsverwundeten zugezogen hatte, und hinterließ ein außergewöhnliches malerisches Werk, das dem Umkreis des Konstruktivismus nahesteht, aber ebenfalls weitgehend unbekannt in Europa geblieben ist.
    So ließe sich die Aufzählung und Nennung der Biografien und Schicksale fortsetzen, aber schon diese wenigen verweisen darauf, dass die Kunstgeschichtsschreibung der europäischen Moderne noch nicht annähernd die Folgen des Ersten Weltkrieges reflektiert hat und dass verdienstvolle Großausstellungen wie diese erst noch der Anfang sind.