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Kind atmet mit den Lungen der Eltern

Weil sich keine passende Spenderlunge für ihren todkranken elfjährigen Sohn fand, entschlossen sich die Eltern, einen Teil ihrer Lungen zu spenden. An der ersten Lungenlebendtransplantation in Deutschland waren 20 Mediziner zeitgleich beteiligt. Der Junge fährt inzwischen mit dem Fahrrad durch die Gegend.

Von Michael Engel | 11.09.2012
    Für Prof. Axel Haverich, Leiter der Klinik für Herz-, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover, war die Lungenlebendtransplantation ein erheblicher, logistischer Aufwand: 20 Mediziner aus verschiedenen Disziplinen – Chirurgen, Pneumologen, Pädiater, Anästhesisten – sie alle waren zeitgleich mit Vater, Mutter und Sohn beschäftigt.

    Prof. Axel Haverich: "Der Aufwand ist erheblich. Es sind drei Operationen, um einem Menschen zu helfen. Und man operiert zunächst entweder den Vater oder die Mutter, nimmt einen Teil der Lunge heraus, transplantiert diesen Lungenlappen beim Kind und direkt im Anschluss, praktisch mit drei gleichzeitigen Narkosen – drei gleichzeitigen Eingriffen – wird bei dem anderen Elternteil ein Teil der Lunge entfernt und dann im Anschluss transplantiert."

    Die Lunge eines Menschen besteht aus zwei Lungenflügeln. Mehrere Einschnitte teilen die Lungenflügel in sogenannte "Lungenlappen". Bei den Eltern wurde jeweils ein Lappen entfernt – genauer gesagt der rechte "Unterlappen" – in etwa der halbe Lungenflügel. Nach Entnahme der kompletten kranken Lunge beim Kind wurden dann die elterlichen Lungenlappen implantiert.

    Prof. Axel Haverich: "Die Befestigung geht per Naht. Und die Naht ist im Prinzip dieselbe als hätten wir ein größengleiches Spenderorgan von einem Verstorbenen bekommen. Man muss den Bronchus links und rechts befestigen, die Lungenvenen und die Lungenschlagadern auf beiden Seiten."

    Das bedeutet, Marius atmet heute mit den Lungen seiner Eltern. Da Vater und Mutter doppelt so große Atmungsorgane haben, füllen ihre Lungenlappen den Brustraum des Kindes vollkommen aus. Es war zwar die erste Transplantation dieser Art in Deutschland – doch nicht die erste weltweit.
    Prof. Axel Haverich: "Angefangen hat eine befreundete Chirurgenmannschaft in Los Angeles, die insgesamt 50 solcher Transplantationen allerdings über einen Zeitraum von fast 20 Jahren gemacht haben, und die jetzt sehr wenig aktiv sind, weil sich die Organspende-Situation in den USA deutlich verbessert hat. Die Spende-Situation in Japan ist deutlich schlechter, und deswegen gibt es dort noch ein sehr aktives Programm. Und dort sind wie in den USA die Ergebnisse bei Lungenlebendtransplantationen besser als bei der Transplantation von Lungen von Verstorbenen."

    Eine krankhafte Schleimabsonderung, wie bei der Mukoviszidose üblich, ist nun nicht mehr zu befürchten, denn die elterlichen Lungen haben keinen genetischen Defekt. Wie alle Organempfänger muss der Sohn aber zeitlebens sogenannte "Immunsuppressiva" einnehmen, damit die Lungenflügel der Eltern nicht abgestoßen werden. Weil es sich bei den Spendern um genetisch nahe Verwandte handelt, kann die Dosis nach und nach gesenkt werden.

    Prof. Axel Haverich: "Die Ausgangssituation ist für den Empfänger eigentlich besser: Dass wir den Eingriff so planen können. Wir sind nicht an die zeitliche Vorgabe eines Organspenders gebunden. Die Qualität der Organe liegt in unserer Hand allein. Und wir haben es nicht mit einem Hirntoten als Organspender zu tun, der im Zweifelsfall schon zehn Tage beatmet auf der Intensivstation liegt, der vielleicht eine Lungenverletzung hatte."

    Der Familie aus dem Ruhrgebiet geht es gut. Der Junge, der noch sieben Tage nach dem Eingriff nicht mal den Arm im Bett heben konnte, fährt heute – zwei Monate später - mit dem Fahrrad durch die Gegend. Auch die Eltern kommen mit der reduzierten Lunge gut zurecht. Die Lungenlebendspende ist ohne Zweifel spektakulär: Für die beteiligten Mediziner, besonders aber für die fast schon heldenhafte Familie. Standard in der Transplantationsmedizin soll das Verfahren allerdings nicht werden.

    Prof. Axel Haverich: "Es kann kein Standard werden. Dazu ist der Eingriff einfach zu umfangreich. Jetzt nicht als Einzeloperation bei dem Empfänger, aber durch die Kombination der gleichzeitigen Operation bei den Eltern. Und ich denke, dass es einigen wenigen Einzelfällen vorbehalten sein wird, dass wir dieses Verfahren anwenden."