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Kinder der Gastarbeiter

Spargel stechen, Beeren pflücken - hunderttausende Ukrainer arbeiten in der EU, vor allem in Spanien und Portugal. Ihre Kinder bleiben zurück, betreut von den Großeltern oder den älteren Geschwistern. Sie vermissen ihre Eltern, die im Ausland für ihre Ausbildung schuften, und das teils illegal. Florian Kellermann berichtet

    Schytomyr im Westen der Ukraine: Die orthodoxe Kathedrale ist frisch renoviert, in der Fußgängerzone eröffnet ein Restaurant neben dem anderen. Viele Paare sind mit Kindern unterwegs - der Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern scheint es gut zu gehen.

    Was auf den ersten Blick nicht zu sehen ist: Ein großer Teil des Geldes, das hier ausgegeben und investiert wird, stammt nicht aus der Ukraine. Viele West-Ukrainer arbeiten im Ausland, um ihre Familien zu Hause versorgen zu können oder um auf ein Haus zu sparen.

    Am großen Lenindenkmal vor dem Rathaus treffen sich die Jugendlichen. Der 15-jährige Schenja ist ein cooler Typ, mit Baseball-Kappe und Zigarette zwischen den Lippen. Seine Eltern arbeiten in Deutschland.

    "Sie haben ja keine andere Wahl, wenn sie uns ein bisschen Wohlstand sichern wollen. Natürlich sehne ich mich nach ihnen, sogar sehr. Aber es geht mir ja nicht schlecht. Ich wohne bei meiner Tante, die kümmert sich um mich."

    Trotzdem hofft Schenja, dass seine Familie bald wieder zusammen lebt - und zwar in Schytomyr. Seine Eltern haben ihm erklärt, dass sie hier mit dem verdienten Geld bald eine Firma gründen wollen.

    "Hier bin ich aufgewachsen, hier ist meine Heimat. Schließlich leben meine ganzen Freunde hier. Und außerdem meine Freundin. Zum Studieren nach Deutschland zu gehen, das kann ich mir schon vorstellen, aber leben möchte ich hier."

    Wie viele Kinder in Schytomyr ohne Eltern groß werden und bei den Großeltern aufwachsen oder von älteren Geschwistern versorgt werden, weiß niemand. Offiziell haben nur sieben Familien die Pflegschaft für ihre Kinder an Verwandte oder Freunde übertragen. Aber tatsächlich dürfte ihre Zahl in die Tausende gehen, schätzen Experten. Oksana Sawtschuk vom städtischen Familien-Zentrum in Schytomyr:

    "Den Kindern fehlt die elterliche Liebe natürlich. Finanziell sind sie in der Regel versorgt, weil die Eltern genug Geld schicken. Aber die Oma kann die Mama nun mal nicht ersetzen. Sie ist um eine Generation älter und versteht das Kind einfach nicht mehr. So entstehen psychische Probleme, die sich noch lange auswirken können."

    Das Familien-Zentrum bekam bereits Anfragen von verzweifelten Großeltern. Das Hauptproblem: Die Kinder lassen sich von ihnen nichts vorschreiben. Manche Jugendliche bleiben die halbe Nacht weg, ohne Bescheid zu sagen.

    Dabei ist es noch ein Glücksfall, wenn die Großeltern in der Erziehung einspringen. Häufig müssen ältere Geschwister die Verantwortung übernehmen. So war es etwa bei Jewgenija, die sich um ihren kleinen Bruder Aljoscha kümmert. Sie war 20, als die Mutter vor vier Jahren nach Italien ging, der Kleine war gerade mal neun Jahre alt. Aber auch Jewgenija macht ihrer Mutter keine Vorwürfe.

    "Ich bin sogar stolz auf sie. Meine Eltern sind geschieden, und mein Vater kümmert sich nicht mehr. Es gibt ja solche Menschen, denen einfach alles egal ist. Meine Mutter arbeitet jetzt dafür, dass Aljoscha einmal studieren kann. Von den 100 Dollar, die sie hier verdienen würde, könnte sie das nicht finanzieren. Natürlich ist die Situation nicht einfach. Ich musste von einem Tag auf den anderen erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Aber unsere Mutter ruft uns jeden Tag an, manchmal auch zwei Mal."

    Beinahe erwachsen wirkt auch schon der kleine Aljoscha, der gerade 13 geworden ist. Über die Sehnsucht nach seiner Mutter redet er nicht gerne, dafür über die Zukunft.

    "Nach der neunten Klasse will ich eine Wirtschaftsschule besuchen und danach noch studieren. Um in der Ukraine eine Arbeit zu finden. Denn nach Italien zieht es mich nicht unbedingt. Ich habe Fotos gesehen, von Kirchen und Burgen. Ein Urlaub dort wäre sicher ganz schön. Aber leben - nein. Dort ist doch alles fremd, ich müsste sogar eine neue Sprache lernen."

    Der ukrainische Staat kümmert sich nicht um die zurückgelassenen Kinder. Auch das Familien-Zentrum in Schytomyr hat dafür keinen Auftrag. Die zwölf Angestellten haben genug zu tun mit der Betreuung von Waisen, Behinderten und Drogenabhängigen. Es wird noch lange dauern, bis die ukrainische Gesellschaft die ganze Tragweite des Problems überhaupt erkennt. Und vermutlich noch länger, bis die Eltern nicht mehr die Ukraine verlassen müssen, um Arbeit zu finden.