"Ich denke, wir haben zwei konkurrierende Bilder von Kindheit. Zum einen gehen wir davon aus, dass Kinder als nützliche Gesellschaftsmitglieder möglichst gut gebildet werden müssen, um möglichst später den Ertrag abzuwerfen, damit wir uns den Wohlstand sichern können."
Hans Bertram, Professor für Mikrosoziologie an der Humboldt Universität Berlin.
"Das andere Bild des Kinder ist das Bild, dass von seinen Eltern um seiner selbst willen geliebt wird, von der Schule und anderen gefördert wird, um dann als Staatsbürger seine eigenen Rechte wahrzunehmen und ich denke diese beiden Bilder konkurrieren miteinander und sie werden häufig nicht einmal in Beziehung gesetzt."
Auf das erste Bild berufen sich unter anderem jene Sozialwissenschafter, die mit den Pisa-Studien für öffentliches Aufsehen sorgen. Bei ihnen steht die Effizienz der kindlichen Entwicklung im Mittelpunkt - und ihre Forschungsprojekte können sich einer großen finanziellen Unterstützung gewiss sein. Immerhin: Es geht um die Kompetenzen, die sich Kindern aneignen, die Abschlüsse, die sie erreichen. Es geht um Kinder als das Humankapital der Zukunft. Eine Sicht, die auch den Kinderalltag prägt, sagt Thomas Olk, Professor für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg:
"Das merken sie jeden Tag. Zum Beispiel wenn sie lieber draußen spielen würden und Hausaufgaben machen müssen. Insofern merken Kinder, dass ihr Leben durchdrungen ist von Erwartungen. Das ist auch normal. Aber die Gesellschaft, die solche Erwartungen an Kinder richtet, muss natürlich reflektieren, welche dieser Erwartungen legitim sind, wie diese Erwartungen ausgestaltet sind, damit Kinderleben noch Entfaltung ermöglicht, damit Wohlbefinden entsteht und nicht nur eine Instrumentalisierung für die Zukunft erfolgt."
Denn die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft - so betont Prof. Bertram - darf sich nicht nur auf die Wirtschaftskraft der Kinder stützen und nur nach deren Schulwissen und Abschlüssen fragen. Wohlbefinden der Kinder prägt auch wesentlich die Perspektive einer Gesellschaft. Das aber ist abhängig auch von ihrer Gesundheit, der Beziehungen zu den Eltern und Freunden, von den Risiken, denen sie auf der Straße oder daheim ausgesetzt sind, abhängig auch davon, ob sie in einer begüterten oder eine sozial benachteiligen, in einer sesshaften oder mobilen Familie aufwachsen. Die Kindheitsforscher erkunden, wie es um diese Bedingungen jenseits von sozial- oder gleichstellungspolitischen Erfordernissen an die Kindheit bestellt ist. Dabei geben ihnen heute bereits Kinder ab fünf Jahren in Befragungen Auskunft.
"Vor zehn Jahren wussten wir über die Kinder eigentlich nur, was die Mütter über die Kinder gedacht haben. Und es stellt sich zum Beispiel heraus, dass ein Drittel der Kinder die Lebenssituation in ihren Familien, deutlich anders sieht als die Mütter."
Christian Alt, Soziologe am Deutschen Jugendinstitut in München. Das von ihm betreute DJI-Kinderpanel zeigt: Auch Fünf- und Sechsjährige äußern sich zuverlässig zu Familie und Schule, Arbeitslosigkeit und Armut, Freizeit und Freundschaftsnetzen, vorausgesetzt man legt ihnen keine standardisierten Fragebögen vor. Vielmehr knüpften die Wissenschaftler mit ihren Fragen an die konkrete Lebenswelt der Kinder an. Auf diese Weise erfuhren sie Neues über die soziale und psychische Entwicklung von Kindern. Sie äußern heute früh ihre eigenen Vorstellungen vom Leben und suchen sie durchzusetzen, sind selbständiger und übernehmen Verantwortung für bestimmte Dinge.
"Wir haben Kinder immer so betrachtet, dass all ihre Tätigkeit von ihrer Herkunft her betrachtet wird. Wir konnten auch zeigen, dass die Entwicklung von Persönlichkeitsstrukturen mindestens genau so viel erklären kann wie die Herkunft, das heißt die soziale Struktur. Das heißt die Lebenswelt von Kindern wird gleichwertig aus Struktur und aus eigenen Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften determiniert."
Kindheit heute ist nach wie vor Familienkindheit. Verschiedene Studien belegen - sowohl für die Bildung, als auch das Wohlbefinden der Kinder sorgen vor allem die Eltern. Doch mit dem Ausbau zum einen der Kindertagesbetreuung auch für unter Dreijährige und zum anderen von Schulen zu Ganztagsschulen findet immer mehr Kinderalltag in Institutionen statt.
"Man könnte sagen, der Unterschied zwischen Familie und Institution zeichnet sich dadurch aus, das Familie ein bisschen ist, wie mit Aktien zu spielen. Man kann viel gewinnen. Man kann auch viel verlieren, und die Institution dagegen eigentlich das klassische Sparbuch ist. Die Institution, der Ausbau der betreuten Kindheit ist eine Gewährleistung auf durchschnittlichem Niveau, weil alle Kinder die gleiche Chance haben gleiche Dinge zu lernen."
Prof. Thomas Rauschenbach, der Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München. Deutlich zeigt beispielsweise der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland: Mädchen und Jungen profitieren davon, wenn sie neben der Familie in sehr guten Betreuungseinrichtungen die Möglichkeit haben, gemeinsam mit Gleichaltrigen die Welt zu entdecken. Doch längst nicht alle Einrichtungen sind gut und der Erwartungsdruck in ihnen ist hoch. Deshalb mahnen die Kindheitsforscher: Durch die Institutionalisierung verändert sich das Verhältnis von Kindern und Kindheit und Zeit - eine der Kategorien, durch die dieser Lebensabschnitt beschrieben wird. "Trödler der Menschheit" nannte der italienische Philosoph Giorgio Agamben Kinder. Nun aber besuchen sie zum einen früher und zugleich längere Zeit am Tag Kindergarten und Schule. Zum anderen sollen sie die Schule schneller durchlaufen. Kindheit verkürzt sich auf diese Weise, betont Sabine Andresen, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Bielefeld.
"Das hat Konsequenzen. Wenn man sagt, von Null bis 10, 11 Jahren kann man noch von Kindern sprechen, dann beginnt die Jugendphase. Das hat Konsequenzen insofern, als wir in einer Gesellschaft leben, in der Bildung von enormer Bedeutung ist und gerade auch frühe Bildungserfahrungen und Bildungsprozesse von enormer Bedeutung sind und wenn man dann nur einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung hat, kann man davon ausgehen, dass dieser dann mit besonderer Intensität erfahren wird."
Auf diese besondere Intensität müssen sich die Erwachsenen einlassen - die Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen und auch die Eltern. Sie begleiten die Kinder in ihren Entwicklungsprozessen, stellen ihnen Aufgaben, beantworten Fragen, geben Rückmeldungen - und schaffen so den Resonanzboden für die "Kultur des Aufwachsens", von der im zehnten Kinder- und Jugendbericht die Rede war. Dafür ist Zeit nötig.
"Und man hat gegenwärtig den Eindruck, dass es in der Bildungsdebatte darum geht, immer effektiver zu sein, ohne sich noch mal darauf zu besinnen, wie man eine Effektivität im Lernen herstellt."
"Mich treibt als Wissenschaftler am meisten um, dass wir zu wenig wissen über die Binnendifferenzierung unterschiedlicher Angebote. Nicht nur zu sagen, Kindergarten ist gut oder schlecht. Das ist mir zu pauschal. Sondern welche Variante eines Kindergartens ist besser als eine andere. An welcher Schraube muss ich wie drehen, damit es besser wird. Darüber wissen wir fast nichts. Und das sind Punkte, wo ich denke, das wird in keinem anderen Bereich so sein. Nehmen wir die Autoindustrie. Sie hat selbstverständlich eine Entwicklungsabteilung, die nicht die Aufgabe hat, heute Autos zu produzieren, sondern darüber nachdenkt, wie müssen die in fünf Jahren unter dem Gesichtspunkt Sicherheit und Verbrauch gemacht werden und wir leisten uns in Deutschland keine wissenschaftliche Entwicklungsabteilungen, die nicht tagtäglich von der Politik gejagt wird, sondern die in Ruhe darüber nachdenken können, was müssen wir wissen, damit wir in drei oder fünf oder sieben Jahren gut aufgestellt sind."
Mit dem DJI-Kinderpanel entdeckten die Wissenschaftler: Bereits mit 10, 11 Jahren verfügen Kinder heute über ein stabiles Selbstvertrauen. An Hand einer Reihe von sozialen und kognitiven Fähigkeiten können die Wissenschaftler prognostizieren, wie sich die Heranwachsenden als Jugendliche verhalten werden. Dafür ist die Familie wichtig. Doch zugleich fand Christian Alt heraus,
"dass Kinder durchaus in der Lage sind, in ihren sozialen Kontexten, in ihrer Peer- und Gleichaltrigenstruktur Sozialverhalten zu trainieren und sie sich immer selbstständiger machen von Familie. Das heißt sie bauen neben dem familialen Netzwerk ein Freundesnetzwerk auf und lernen in diesen Netzwerken soziale Kompetenzen weitaus häufiger und besser und intensiver als in der Familie."
Sich mit Freunden zu treffen, zu spielen und zu lernen, mit Gleichaltrigen etwas zu organisieren und zu erleben - dadurch konstruieren die Kinder ihre soziale Wirklichkeit selbst und entwickeln sich weiter - auch ohne dass Erwachsene sie dabei anleiten oder kontrollieren. Ganz im Gegenteil. Neben dem Rückzug mit einem Buch, vor dem Fernseher oder in einem geheimen Versteck erlauben auch die Freundesbeziehungen den Kindern noch einen Moment der Privatheit - eine weitere Kategorie, die Sabine Andresen prägend für Kindheit hält.
"Aristoteles - hat gesagt, man müsse die Qualität eines politischen Gemeinwesens auch daran messen, welche Arten von Freundschaften sie ermögliche. Ich meine, man kann diesen Nachsatz auch auf pädagogische Institutionen anwenden. Eine Schule, die als Ganztagsschule beispielsweise so gestaltet ist, dass es auch so etwas wie Freiräume gibt, um auch Freundschaft zu erfahren und auszuleben, auch Freiräume in der Freundesgruppe, der Gleichaltrigengruppe gute gemeinsame Lernerfahrungen zu machen, dann ist das ein weiterer Indikator, der sich vielleicht nicht immer messen lässt, der in einem Maße dazu beitragen kann, dass Kinder sich mit der Schule, mit der Einrichtung identifizieren, dass sie sich auch wohl fühlen und auch Frustrationen, die es immer auch geben wird, besser meistern."
Durch neue Formen der Erziehung und auch der Partizipation verstärkt sich die Selbständigkeit der Kinder. Dabei geht es nicht nur um das Lernen. Kinder übernehmen Aufgaben in ihren Familien, treten als Künstler auf oder gestalten ihre Umwelt. Sie sind ehrenamtlich in Vereinen tätig und sorgen für Kranke und Bedürftige. Bereits als Kinder bereichern sie die Gesellschaft. Doch das wird kaum wahrgenommen, meint Prof. Olk:
"Und hier brauchen wir mehr Wissen darüber, wie Kinder Schule als Arbeitsplatz erleben, welche Wünsche und Erwartungen sie haben. Aber auch welche Leistungen sie erbringen, um den Erwachsenen und der Gesellschaft deutlich zu machen, dass sie da bereits produktiv tätig sind."
Dabei unterscheidet sich die Qualität der Beziehungen, die Kinder in ihren Familien und an der Öffentlichkeit erleben deutlich voneinander. Zu Hause erfährt ein Großteil der Kinder vor allem aus der Mittel- und Oberschicht - ihr Elternhaus ist zum Verhandlungshaushalt geworden und ihr Wort zählt. Anders die Schule. Auch da besteht Forschungsbedarf.
"Kinder merken, wenn sie dann in öffentliche Einrichtungen, ins öffentliche Leben gehen, dass das dann aufhört. Da ist die Partizipation zu Ende. Hier ist zum Beispiel so ein Punkt, wo wir noch mehr untersuchen müssen, wie öffentliche Einrichtungen, Kindertageseinrichtungen und Schulen auch die Kommune mehr Partizipationsmöglichkeiten für Kinder schaffen kann und das ist keine Gnade, die ihnen Erwachsene gewähren, sondern ein Recht."
Von mehr Raum für Kinderfreundschaften und Mitwirkung würde vor allem eine Gruppe von Kindern profitieren, die erst seit zehn Jahren von Sozialwissenschaftler wahrgenommen wird: Arme Kinder in Deutschland. Sie sind nicht nur materiell benachteiligt, sondern auch in ihrem Bildungserwerb.
"Da werden die Weichen überhaupt nicht über die schulische Wissensvermittlung primär gestellt. Die Weichenstellung erfolgt in informellen Bildungszusammenhängen am Bildungsort Familie in nonformalen Bildungszusammenhängen."
Peter Büchner, emeritierter Professor für Soziologie der Erziehung an der Philipps-Universität Marburg.
Noch wird der Bildungsort Familie von der sozialwissenschaftlichen Forschung kaum beachtet. US-Amerikanische Studien fanden heraus: Kinder aus benachteiligten Familien erleben zu Hause oft einen anderen Erziehungsstil als er in öffentlichen Bildungs-, Erziehungs- und auch Gesundheitseinrichtungen üblich ist. Die Familien scheitern daran und werden in ihren Defiziten gesehen, weil die Passung fehlt. In der Tat erwerben Kinder aus bildungsnahen und aufstrebenden Familien bei Gesprächen am Esstisch, bei Wochenendunternehmungen und Urlauben sowie in Vereinen und Musikschulen eine selbstbewusste Bildungshaltung, die sie nach Anerkennung und Einfluss streben lässt. Kinder aus bildungsfernen Familien hingegen erleben Schule eher als ein notweniges Übel, das sie ängstlich vermeiden. An diesem Punkt brauchen sie Unterstützung.
"Wir müssen Gelegenheiten schaffen, damit Kinder, die diesen Bildungshabitus nicht entwickeln konnten im Rahmen von informellen Bildungsprozessen am Bildungsort Familie. Für diese Kinder müssen Gelegenheitsstrukturen geschaffen werden, Möglichkeiten angeboten werden quasi kompensatorisch, diesen Bildungshabitus zu entwickeln und nach meinem Verständnis ist das nur möglich in heterogenen Lerngruppen."
Angesichts der Polarisierung in unserer Gesellschaft differenziert sich auch Kindheit in Deutschland immer weiter aus. Kinder wachsen in Großstädten oder auf dem Lande, in armen oder reichen Familien auf, sind still oder hyperaktiv. Sie bringen verschiedene Ressourcen mit, die sich nicht nur mit ihrer Leseleistung messen lassen. Statt von einem Einheitskind auszugehen, bemühen sich die Kindheitsforscher genauer wahrzunehmen, was ein Kind in einem bestimmten Milieu oder auch seiner jeweiligen Region braucht, um seine eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen selbständig zu entwickeln. Deutlicher als bisher sollten diese Unterschiede auch von der Politik und im Alltag beachtet werden, damit tatsächlich jedes Kind gleiche Chancen bekommen kann.
Hans Bertram, Professor für Mikrosoziologie an der Humboldt Universität Berlin.
"Das andere Bild des Kinder ist das Bild, dass von seinen Eltern um seiner selbst willen geliebt wird, von der Schule und anderen gefördert wird, um dann als Staatsbürger seine eigenen Rechte wahrzunehmen und ich denke diese beiden Bilder konkurrieren miteinander und sie werden häufig nicht einmal in Beziehung gesetzt."
Auf das erste Bild berufen sich unter anderem jene Sozialwissenschafter, die mit den Pisa-Studien für öffentliches Aufsehen sorgen. Bei ihnen steht die Effizienz der kindlichen Entwicklung im Mittelpunkt - und ihre Forschungsprojekte können sich einer großen finanziellen Unterstützung gewiss sein. Immerhin: Es geht um die Kompetenzen, die sich Kindern aneignen, die Abschlüsse, die sie erreichen. Es geht um Kinder als das Humankapital der Zukunft. Eine Sicht, die auch den Kinderalltag prägt, sagt Thomas Olk, Professor für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg:
"Das merken sie jeden Tag. Zum Beispiel wenn sie lieber draußen spielen würden und Hausaufgaben machen müssen. Insofern merken Kinder, dass ihr Leben durchdrungen ist von Erwartungen. Das ist auch normal. Aber die Gesellschaft, die solche Erwartungen an Kinder richtet, muss natürlich reflektieren, welche dieser Erwartungen legitim sind, wie diese Erwartungen ausgestaltet sind, damit Kinderleben noch Entfaltung ermöglicht, damit Wohlbefinden entsteht und nicht nur eine Instrumentalisierung für die Zukunft erfolgt."
Denn die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft - so betont Prof. Bertram - darf sich nicht nur auf die Wirtschaftskraft der Kinder stützen und nur nach deren Schulwissen und Abschlüssen fragen. Wohlbefinden der Kinder prägt auch wesentlich die Perspektive einer Gesellschaft. Das aber ist abhängig auch von ihrer Gesundheit, der Beziehungen zu den Eltern und Freunden, von den Risiken, denen sie auf der Straße oder daheim ausgesetzt sind, abhängig auch davon, ob sie in einer begüterten oder eine sozial benachteiligen, in einer sesshaften oder mobilen Familie aufwachsen. Die Kindheitsforscher erkunden, wie es um diese Bedingungen jenseits von sozial- oder gleichstellungspolitischen Erfordernissen an die Kindheit bestellt ist. Dabei geben ihnen heute bereits Kinder ab fünf Jahren in Befragungen Auskunft.
"Vor zehn Jahren wussten wir über die Kinder eigentlich nur, was die Mütter über die Kinder gedacht haben. Und es stellt sich zum Beispiel heraus, dass ein Drittel der Kinder die Lebenssituation in ihren Familien, deutlich anders sieht als die Mütter."
Christian Alt, Soziologe am Deutschen Jugendinstitut in München. Das von ihm betreute DJI-Kinderpanel zeigt: Auch Fünf- und Sechsjährige äußern sich zuverlässig zu Familie und Schule, Arbeitslosigkeit und Armut, Freizeit und Freundschaftsnetzen, vorausgesetzt man legt ihnen keine standardisierten Fragebögen vor. Vielmehr knüpften die Wissenschaftler mit ihren Fragen an die konkrete Lebenswelt der Kinder an. Auf diese Weise erfuhren sie Neues über die soziale und psychische Entwicklung von Kindern. Sie äußern heute früh ihre eigenen Vorstellungen vom Leben und suchen sie durchzusetzen, sind selbständiger und übernehmen Verantwortung für bestimmte Dinge.
"Wir haben Kinder immer so betrachtet, dass all ihre Tätigkeit von ihrer Herkunft her betrachtet wird. Wir konnten auch zeigen, dass die Entwicklung von Persönlichkeitsstrukturen mindestens genau so viel erklären kann wie die Herkunft, das heißt die soziale Struktur. Das heißt die Lebenswelt von Kindern wird gleichwertig aus Struktur und aus eigenen Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften determiniert."
Kindheit heute ist nach wie vor Familienkindheit. Verschiedene Studien belegen - sowohl für die Bildung, als auch das Wohlbefinden der Kinder sorgen vor allem die Eltern. Doch mit dem Ausbau zum einen der Kindertagesbetreuung auch für unter Dreijährige und zum anderen von Schulen zu Ganztagsschulen findet immer mehr Kinderalltag in Institutionen statt.
"Man könnte sagen, der Unterschied zwischen Familie und Institution zeichnet sich dadurch aus, das Familie ein bisschen ist, wie mit Aktien zu spielen. Man kann viel gewinnen. Man kann auch viel verlieren, und die Institution dagegen eigentlich das klassische Sparbuch ist. Die Institution, der Ausbau der betreuten Kindheit ist eine Gewährleistung auf durchschnittlichem Niveau, weil alle Kinder die gleiche Chance haben gleiche Dinge zu lernen."
Prof. Thomas Rauschenbach, der Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München. Deutlich zeigt beispielsweise der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland: Mädchen und Jungen profitieren davon, wenn sie neben der Familie in sehr guten Betreuungseinrichtungen die Möglichkeit haben, gemeinsam mit Gleichaltrigen die Welt zu entdecken. Doch längst nicht alle Einrichtungen sind gut und der Erwartungsdruck in ihnen ist hoch. Deshalb mahnen die Kindheitsforscher: Durch die Institutionalisierung verändert sich das Verhältnis von Kindern und Kindheit und Zeit - eine der Kategorien, durch die dieser Lebensabschnitt beschrieben wird. "Trödler der Menschheit" nannte der italienische Philosoph Giorgio Agamben Kinder. Nun aber besuchen sie zum einen früher und zugleich längere Zeit am Tag Kindergarten und Schule. Zum anderen sollen sie die Schule schneller durchlaufen. Kindheit verkürzt sich auf diese Weise, betont Sabine Andresen, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Bielefeld.
"Das hat Konsequenzen. Wenn man sagt, von Null bis 10, 11 Jahren kann man noch von Kindern sprechen, dann beginnt die Jugendphase. Das hat Konsequenzen insofern, als wir in einer Gesellschaft leben, in der Bildung von enormer Bedeutung ist und gerade auch frühe Bildungserfahrungen und Bildungsprozesse von enormer Bedeutung sind und wenn man dann nur einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung hat, kann man davon ausgehen, dass dieser dann mit besonderer Intensität erfahren wird."
Auf diese besondere Intensität müssen sich die Erwachsenen einlassen - die Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen und auch die Eltern. Sie begleiten die Kinder in ihren Entwicklungsprozessen, stellen ihnen Aufgaben, beantworten Fragen, geben Rückmeldungen - und schaffen so den Resonanzboden für die "Kultur des Aufwachsens", von der im zehnten Kinder- und Jugendbericht die Rede war. Dafür ist Zeit nötig.
"Und man hat gegenwärtig den Eindruck, dass es in der Bildungsdebatte darum geht, immer effektiver zu sein, ohne sich noch mal darauf zu besinnen, wie man eine Effektivität im Lernen herstellt."
"Mich treibt als Wissenschaftler am meisten um, dass wir zu wenig wissen über die Binnendifferenzierung unterschiedlicher Angebote. Nicht nur zu sagen, Kindergarten ist gut oder schlecht. Das ist mir zu pauschal. Sondern welche Variante eines Kindergartens ist besser als eine andere. An welcher Schraube muss ich wie drehen, damit es besser wird. Darüber wissen wir fast nichts. Und das sind Punkte, wo ich denke, das wird in keinem anderen Bereich so sein. Nehmen wir die Autoindustrie. Sie hat selbstverständlich eine Entwicklungsabteilung, die nicht die Aufgabe hat, heute Autos zu produzieren, sondern darüber nachdenkt, wie müssen die in fünf Jahren unter dem Gesichtspunkt Sicherheit und Verbrauch gemacht werden und wir leisten uns in Deutschland keine wissenschaftliche Entwicklungsabteilungen, die nicht tagtäglich von der Politik gejagt wird, sondern die in Ruhe darüber nachdenken können, was müssen wir wissen, damit wir in drei oder fünf oder sieben Jahren gut aufgestellt sind."
Mit dem DJI-Kinderpanel entdeckten die Wissenschaftler: Bereits mit 10, 11 Jahren verfügen Kinder heute über ein stabiles Selbstvertrauen. An Hand einer Reihe von sozialen und kognitiven Fähigkeiten können die Wissenschaftler prognostizieren, wie sich die Heranwachsenden als Jugendliche verhalten werden. Dafür ist die Familie wichtig. Doch zugleich fand Christian Alt heraus,
"dass Kinder durchaus in der Lage sind, in ihren sozialen Kontexten, in ihrer Peer- und Gleichaltrigenstruktur Sozialverhalten zu trainieren und sie sich immer selbstständiger machen von Familie. Das heißt sie bauen neben dem familialen Netzwerk ein Freundesnetzwerk auf und lernen in diesen Netzwerken soziale Kompetenzen weitaus häufiger und besser und intensiver als in der Familie."
Sich mit Freunden zu treffen, zu spielen und zu lernen, mit Gleichaltrigen etwas zu organisieren und zu erleben - dadurch konstruieren die Kinder ihre soziale Wirklichkeit selbst und entwickeln sich weiter - auch ohne dass Erwachsene sie dabei anleiten oder kontrollieren. Ganz im Gegenteil. Neben dem Rückzug mit einem Buch, vor dem Fernseher oder in einem geheimen Versteck erlauben auch die Freundesbeziehungen den Kindern noch einen Moment der Privatheit - eine weitere Kategorie, die Sabine Andresen prägend für Kindheit hält.
"Aristoteles - hat gesagt, man müsse die Qualität eines politischen Gemeinwesens auch daran messen, welche Arten von Freundschaften sie ermögliche. Ich meine, man kann diesen Nachsatz auch auf pädagogische Institutionen anwenden. Eine Schule, die als Ganztagsschule beispielsweise so gestaltet ist, dass es auch so etwas wie Freiräume gibt, um auch Freundschaft zu erfahren und auszuleben, auch Freiräume in der Freundesgruppe, der Gleichaltrigengruppe gute gemeinsame Lernerfahrungen zu machen, dann ist das ein weiterer Indikator, der sich vielleicht nicht immer messen lässt, der in einem Maße dazu beitragen kann, dass Kinder sich mit der Schule, mit der Einrichtung identifizieren, dass sie sich auch wohl fühlen und auch Frustrationen, die es immer auch geben wird, besser meistern."
Durch neue Formen der Erziehung und auch der Partizipation verstärkt sich die Selbständigkeit der Kinder. Dabei geht es nicht nur um das Lernen. Kinder übernehmen Aufgaben in ihren Familien, treten als Künstler auf oder gestalten ihre Umwelt. Sie sind ehrenamtlich in Vereinen tätig und sorgen für Kranke und Bedürftige. Bereits als Kinder bereichern sie die Gesellschaft. Doch das wird kaum wahrgenommen, meint Prof. Olk:
"Und hier brauchen wir mehr Wissen darüber, wie Kinder Schule als Arbeitsplatz erleben, welche Wünsche und Erwartungen sie haben. Aber auch welche Leistungen sie erbringen, um den Erwachsenen und der Gesellschaft deutlich zu machen, dass sie da bereits produktiv tätig sind."
Dabei unterscheidet sich die Qualität der Beziehungen, die Kinder in ihren Familien und an der Öffentlichkeit erleben deutlich voneinander. Zu Hause erfährt ein Großteil der Kinder vor allem aus der Mittel- und Oberschicht - ihr Elternhaus ist zum Verhandlungshaushalt geworden und ihr Wort zählt. Anders die Schule. Auch da besteht Forschungsbedarf.
"Kinder merken, wenn sie dann in öffentliche Einrichtungen, ins öffentliche Leben gehen, dass das dann aufhört. Da ist die Partizipation zu Ende. Hier ist zum Beispiel so ein Punkt, wo wir noch mehr untersuchen müssen, wie öffentliche Einrichtungen, Kindertageseinrichtungen und Schulen auch die Kommune mehr Partizipationsmöglichkeiten für Kinder schaffen kann und das ist keine Gnade, die ihnen Erwachsene gewähren, sondern ein Recht."
Von mehr Raum für Kinderfreundschaften und Mitwirkung würde vor allem eine Gruppe von Kindern profitieren, die erst seit zehn Jahren von Sozialwissenschaftler wahrgenommen wird: Arme Kinder in Deutschland. Sie sind nicht nur materiell benachteiligt, sondern auch in ihrem Bildungserwerb.
"Da werden die Weichen überhaupt nicht über die schulische Wissensvermittlung primär gestellt. Die Weichenstellung erfolgt in informellen Bildungszusammenhängen am Bildungsort Familie in nonformalen Bildungszusammenhängen."
Peter Büchner, emeritierter Professor für Soziologie der Erziehung an der Philipps-Universität Marburg.
Noch wird der Bildungsort Familie von der sozialwissenschaftlichen Forschung kaum beachtet. US-Amerikanische Studien fanden heraus: Kinder aus benachteiligten Familien erleben zu Hause oft einen anderen Erziehungsstil als er in öffentlichen Bildungs-, Erziehungs- und auch Gesundheitseinrichtungen üblich ist. Die Familien scheitern daran und werden in ihren Defiziten gesehen, weil die Passung fehlt. In der Tat erwerben Kinder aus bildungsnahen und aufstrebenden Familien bei Gesprächen am Esstisch, bei Wochenendunternehmungen und Urlauben sowie in Vereinen und Musikschulen eine selbstbewusste Bildungshaltung, die sie nach Anerkennung und Einfluss streben lässt. Kinder aus bildungsfernen Familien hingegen erleben Schule eher als ein notweniges Übel, das sie ängstlich vermeiden. An diesem Punkt brauchen sie Unterstützung.
"Wir müssen Gelegenheiten schaffen, damit Kinder, die diesen Bildungshabitus nicht entwickeln konnten im Rahmen von informellen Bildungsprozessen am Bildungsort Familie. Für diese Kinder müssen Gelegenheitsstrukturen geschaffen werden, Möglichkeiten angeboten werden quasi kompensatorisch, diesen Bildungshabitus zu entwickeln und nach meinem Verständnis ist das nur möglich in heterogenen Lerngruppen."
Angesichts der Polarisierung in unserer Gesellschaft differenziert sich auch Kindheit in Deutschland immer weiter aus. Kinder wachsen in Großstädten oder auf dem Lande, in armen oder reichen Familien auf, sind still oder hyperaktiv. Sie bringen verschiedene Ressourcen mit, die sich nicht nur mit ihrer Leseleistung messen lassen. Statt von einem Einheitskind auszugehen, bemühen sich die Kindheitsforscher genauer wahrzunehmen, was ein Kind in einem bestimmten Milieu oder auch seiner jeweiligen Region braucht, um seine eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen selbständig zu entwickeln. Deutlicher als bisher sollten diese Unterschiede auch von der Politik und im Alltag beachtet werden, damit tatsächlich jedes Kind gleiche Chancen bekommen kann.