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Kinder in einem alternden Land

Die Zeiten, wo man mit dem deutschen Frühromantiker Novalis noch sagen konnte, "Wo Kinder sind, ist ein goldenes Zeitalter", sind offenbar längst vorbei - oder gelten nur noch im Privatraum der Familie. Kinder sind, rein wirtschaftlich gesprochen, ein Armutsrisiko. Diesem Thema widmen sich immer mehr Bücher. Zwei Neuerscheinungen dazu hat Sandra Pfister gelesen.

Von Sandra Pfister |
    Huberta von Voss: " Ich will mit dem Buch zeigen, was es für Kinder bedeutet, arm in einem reichen Land zu sein. Darüber wissen wir aus meiner Sicht viel zu wenig, und der Kampf gegen Kinderarmut ist mittlerweile die größte Herausforderung, vor der wir gesamtgesellschaftlich in Deutschland stehen."

    Im Leben eines Kindes gibt es drei Tage, auf die es hinfiebert: Weihnachten, der erste Tag der Sommerferien und der Geburtstag.

    Was aber wird daraus, wenn Eltern den Geburtstag eines Kindes ganz einfach übergehen, so als sei der Montag einfach ein Montag und der Mittwoch ein x-beliebiger Tag der Woche? Wenn der einzige Erwachsene, der daran denkt, dass man nun endlich sechs oder zehn Jahre alt ist, die Klassenlehrerin ist? Wenn auf die Frage "Wie hast Du denn heute morgen gefeiert?" eine Lüge folgen muss, weil die Antwort "Gar nicht" eine Blamage gegenüber den Schulfreunden ist, die einen Geburtstagskuchen mit Kerzen bekommen, die Geschenke auspacken können, die Freunde einladen und sich ein Lieblingsessen wünschen dürfen? Oder wenn das einzige Geschenk, das man von anderen bekommt, vielleicht sogar auf dem Flohmarkt landet, weil die Eltern meinen, dass man es besser zu Geld machen solle?

    Die Berliner Journalistin Huberta von Voss hat ein Buch geschrieben, das unter die Haut geht. Ihr 220 Seiten starkes Buch zoomt die Kinder nah heran, die nicht bloß eine schwere Kindheit haben - sie haben überhaupt keine. Es mangelt ihnen am nötigsten. Am Pausenbrot. An Bindungen. An Vorbildern.

    "Was diese Kinder nicht brauchen, sind Stigmatisierungen. Und die Menschen machen es sich natürlich einfach, diese Kinder sind von außen betrachtet auch oft nicht so, wie man Kinder gerne sieht, nämlich einigermaßen strahlend, fröhlich, friedlich, freundlich, sondern auf den Schultern dieser Kinder liegen häufig so viele Probleme gleichzeitig, nicht nur die Arbeitslosigkeit der Eltern oder Gewalt im Elternhaus oder im Wohnumfeld oder Alkoholismus der Eltern, das ist in der Regel ein ganzer Mix von Problemen, und die Kinder sind davon überfordert und ziehen sich sehr stark in sich zurück oder sie randalieren, vielleicht auch, weil ihnen sonst niemand zuhört."

    Ehrenamtliche und Sozialarbeiter in Jugendtreffs und bei Tafeln versuchen, die Entbehrungen zu kompensieren - Tropfen auf heiße Steine, denn in Deutschland leben weit über drei Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Der jüngste OECD-Bericht vermeldet, 17 Prozent aller Kinder seien arm - eine dramatische Steigerung. Wer Voss' einfühlendes, leises Buch liest, wird angerührt. Voss hat eine Weile auf Augenhöhe der Kinder, ihrer Eltern und ehrenamtlicher Betreuer gelebt und macht deutlich: Die distanzierten Vokabeln "Prekariat", "bildungsfern", "vernachlässigt", die dienen oft nur dazu, uns das Elend von Leib zu halten. Hier rückt es uns auf die Pelle, zunächst mit dem Bambi-Effekt: Hungrige, vernachlässigte Grundschüler rühren uns an. Aber wenn aus ihnen 14-jährige werden, die ihre Mitschüler erpressen oder 17-jährige, die Autos knacken, dann findet unser Mitleid ein abruptes Ende, wirft Ulrike Meyer-Timpe ein, eine weitere Journalistin, die die Kinderarmut umtreibt:

    "Sobald die Kinder also die Pubertät erreichen, werden sie in der öffentlichen Wahrnehmung schlagartig vom Opfer zum Täter. Dabei liegen ihrem inakzeptablen Verhalten dieselben Lebensbedingungen zugrunde, die ihnen eben noch Mitgefühl bescherten - Armut und Chancenlosigkeit."

    Die Zeit-Autorin Ulrike Meyer-Timpe wählt ebenfalls die Nahaufnahme und teilweise sogar die gleichen Schauplätze, um dem Leser die Facetten der Kinderarmut nahe zu bringen. Aber erst einmal weist sie die Unterstellung zurück, alle armen Eltern vernachlässigten ihre Kinder. Die allermeisten Kinder aus armen Familien litten keinen Hunger und hätten fürsorgliche Eltern. Im Unterschied zu Huberta von Voss belässt Ulrike Meyer-Timpe es allerdings nicht bei den Sozialreportagen, sondern wechselt rasch auf die analytische Ebene.

    Wenn es Babys sich aussuchen könnten, in was für eine Familie sie geboren werden, dann müsste man sie vor drei Konstellationen warnen: Nehmt keine allein lebende Mutter und keine, die bereits mehr als ein Kind hat, sonst droht Euch Armut. Vor allem aber: Sucht euch in Deutschland keine Familie aus, die zugewandert ist.

    Damit wandelt Meyer-Timpe ab, was einst "ein gewisser Professor aus Heidelberg", Paul Kirchhoff, gesagt hat: "Heute haben nur diejenigen Paare Kinder, die entweder nicht rechnen können oder nicht rechnen brauchen". Meyer-Timpe mogelt sich nicht um die ökonomischen Argumente in der Armutsdebatte herum, sie nutzt sie sogar als Vehikel, um von puren Barmherzigkeitsgesten wegzukommen: Wer die armen Kinder nicht fördere, belaste langfristig den Sozialstaat und verschwende Talente, die bei einer schrumpfenden Bevölkerung gebraucht würden.

    Manche empfinden eine solche Betrachtung von Kinderarmut als herzlos. Nur: Die Appelle an das Mitgefühl und die soziale Gerechtigkeit haben schon bislang wenig bewirkt. Daran wird sich auch künftig nichts ändern. Was dem Wachstum schadet, rückt auf der Prioritätenliste nach vorn. Deshalb ist es wichtig, jenseits des Mitgefühls auch die Folgen für die Ökonomie deutlich zu machen, wenn sich etwas ändern soll.

    Aber wird denn nicht schon viel getan? Die Kindertagesstätten ausgebaut, das Kindergeld erhöht? Geben wir nicht mehr Geld aus für arme Familien als die meisten OECD-Staaten? Ja, sagen beide Autorinnen, aber es hilft gerade denen nicht, die das höchste Armutsrisiko tragen: Alleinerziehenden Müttern und Familien, in denen die Frau nach der Babypause nicht mehr berufstätig waren. Arbeitslose Mütter beispielsweise haben vom Ausbau der frühkindlichen Betreuung gar nichts, weil sie in der Regel keinen Anspruch auf einen Kita-Platz haben. Und das Kindergeld komme bei den Ärmsten gar nicht an, moniert Meyer-Timpe:

    Hartz IV-Familien profitieren davon überhaupt nicht. Das Kindergeld wird ihnen sofort wieder von der Unterstützung abgezogen, egal, wie hoch es ist.

    Voss hält sich in ihrem Buch mit Lösungsvorschlägen merklich zurück. In einem der umstrittensten Punkte ist aber auch sie ganz klar:

    "So lange wir dieses System von Hartz IV haben, denke ich auch, dass die Regelsätze angehoben werden müssen, sie sind einfach zu niedrig. Ich habe selber vier Kinder von 18 Jahren bis zwei Monaten, und ich weiß in etwa, was Kinder auch in ihren unterschiedlichen Alterstufen kosten, die Regelsätze sind einfach zu gering, ich wäre völlig überfordert, selbst wenn ich den ganzen Tag rechnen müsste, damit die Bedürfnisse der Kinder zu bestreiten."

    Damit ergänzen sich die Bücher: Wer, von Voss aufgewühlt, Antworten sucht, findet bei Meyer-Timpe klare Lösungsvorschläge: Auch sie findet, dass der Hartz IV-Satz für Kinder neu berechnet werden muss. Und sie geht, strukturiert und analytisch, klar darüber hinaus: Arme Kinder an Problemschulen brauchen die besten Lehrer. Sie brauchen einen längeren gemeinsamen Unterricht - sonst werden sie bei der frühen Selektion in Klasse vier zu leicht aussortiert. Sie brauchen ganz gewiss keine Hauptschule, die soll abgeschafft werden. Sie brauchen, schreibt Meyer-Timpe weiter, die rhythmisierte Ganztagsschule, die die Überforderung der Eltern kompensiert. Und noch vieles mehr, das in diesen beiden lesenswerten und so gar nicht akademisch daherkommenden Büchern steht. Wer aber armen Kindern helfen will, der dürfe die Eltern weder vergessen noch stigmatisieren, ergänzt Huberta von Voss.

    "Erziehung ist nicht nur ein Recht, es ist auch eine Pflicht, über das im übrigen der Staat wacht. Wir müssen aber auch sehen, dass viele Eltern einfach zerbrochen sind an ihrer Mischung aus Langzeitarbeitslosigkeit, schlechten Zukunftschancen, weil sie keine Berufsausbildung haben oder keinen Schulabschluss, Alkoholismus, zerbrochene Paarbeziehungen etc., so dass wir die Situation nicht ändern, wenn wir uns hinstellen und sagen: Jetzt tut mal was für Eure Kinder, wenngleich das auch richtig ist, und nicht gleichzeitig diesen Eltern stärker helfen oder überhaupt versuchen, an sie ranzukommen."


    Das war eine Rezension von Sandra Pfister über die Bücher von Huberta von Voss, Arme Kinder, reiches Land - ein Bericht aus Deutschland, erschienen im Rowohlt-Verlag, 224 Seiten zu 14 Euro 90 und von Ulrike Meyer Timpe, Unsere armen Kinder, erschienen bei Pantheon, 208 Seiten für 12 Euro 95.