Ernst schauen sie von oben herab, als schauten sie aus dem Himmel, die Kinder in ihren schlichten Anstaltskitteln. Es sind Schwarzweiß-Fotografien, die von der Decke des großen Ausstellungsraumes im einstigen Halleschen Waisenhaus herunterhängen, und es sind Kinder von heute, die für die Waisenkinder von einst stehen. Viele der Ursachen, warum sie es wurden, sind aber noch immer aktuell: Sie wurden verlassen, ausgesetzt, vernachlässigt. Allein die Pest weist auf die Vergangenheit - für unsere Breiten. Die Aids-Epidemie im Süden Afrikas, die so viele Eltern hinwegrafft und so viele Kinder hinterlässt, schafft eine neue Dringlichkeit, sich massiv um das Waisenproblem zu kümmern.
Die Ausstellung "Kinder, Krätze, Karitas" beginnt zeitlich etwa dort, als die Pest grassierte, im Hochmittelalter. Da besaß die Karitas bereits eine fast tausendjährige Tradition. Daran änderte sich wenig, als später die Reformation in einigen Regionen Einzug hielt, Klöster geschlossen wurden und die Fürsorge dem neu organisierten Sozialwesen zufiel. Zu dieser Zeit war nämlich ein Teil der Waisenhäuser schon lange in kommunaler Hand. Zudem, so Claus Veltmann, einer der beiden hauseigenen Kuratoren der Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle:
"Evangelische Waisenhäuser wurden mit Legaten und Testamenten genauso reich bedacht, wie katholische Waisenhäuser, was ich sehr interessant finde."
Nicht minder interessant war, dass Neugründungen von Waisenhäusern in den protestantischen Gebieten spärlich waren. Vom 1549 gegründeten Lübecker, dem ersten nachreformatorischen Waisenhaus steht ein großes Modell ausgestellt.
"Das wird aber bewusst, wie es auch in der Gründungsurkunde heißt, aufgrund einer Hungersnot und Epidemie eingerichtet, wo durch den Tod der Eltern sehr viele Kinder verwaist hinterlassen worden sind. Und auch bei den späteren Gründungen, Augsburg fällt mir da ein, wird immer darauf verwiesen, dass eine Epidemie oder Hungersnot der Auslöser war und nicht eine reformatorische Frömmigkeit, die dazu geführt hat."
Der wirkliche, auch inhaltliche Einschnitt erfolgte durch den Calvinismus und seine Doktrin, sich um jedes Gemeindeglied intensiv zu kümmern. Beten, arbeiten und lernen wurde auf neue Weise zur Einheit. Am ausgeprägtesten erfolgte das in den reichen Niederlanden:
"In der Zeit um 1600 hat jede mittlere und größere Stadt mindestens ein Waisenhaus; Amsterdam hat um 1700 neun Waisenhäuser - die größte Zahl der Waisenhäuser in Europa."
Dem "Goldenen Zeitalter" der Niederlande ist ein ganzer Ausstellungssaal gewidmet, auch deshalb, weil sie unmittelbares Vorbild für Francke wurden, der sich alles abgeschaut und durchdacht habe, sagt Jochen Birkenmeier, der zweite Kurator:
"Er war ja Pfarrer hier und hatte gar keine Ahnung, wie man ein Waisenhaus aufbaut und betreibt. Und er hat sich angeschaut, wie die baulich angelegt sind, wie die Waisen gekleidet, wie sie versorgt werden, was man gegen Ungeziefer tut, wie man die Hygiene regelt. All das hat er abfragen lassen."
Und zwar von seinem Mitarbeiter Neubauer. Dazu hatte ihm Francke Dutzende Fragen in ein schmales Heft diktiert, die man in der Ausstellung nachlesen kann. Die Antworten finden sich im Waisenhaus selbst wieder, das ab 1698 entstand. Ein Haus wie kein anderes zu jener Zeit:
"Das liegt auch daran, dass er nicht nur ein reines Waisenhaus gründen wollte, sondern sein eigentliches Anliegen war, wie er es genannt hat, einen 'Pflanzgarten' anzulegen, also gottesfürchtige Menschen heranzubilden, die dann in alle Welt ausgesandt werden können, um die christliche Botschaft weiterzutragen. Und das Waisenhaus, diese Sozialversorgung, war ein Teil eines viel größeren Auftrages, den er sich vorgenommen hatte, nämlich die Welt insgesamt zu reformieren im christlichen Geiste."
Das sollte Franckes Elite; der größte Teil der rund 300 ärmeren Waisen sollte in die Lage versetzt werden, einen Handwerksberuf zu ergreifen oder überhaupt ein tüchtiges, Gott ergebenes Leben zu führen. Francke baute zwar zahlreiche Eigenbetriebe auf:
"Das war hier der Buchladen mit der Druckerei, das war die Apotheke mit einem internationalen Medikamentenversand, das waren verschiedene Handelsunternehmen - und auch Bestrebungen, autark zu sein. Man hat eine Papiermühle gehabt, man hat landwirtschaftliche Flächen gehabt - man hat versucht, sich selbst zu versorgen und das Übrige einzuwerben durch Spenden."
Aber, betont Jochen Birkenmeier, Francke sei es primär um Erziehung und Bildung, jedoch nicht um die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen gegangen. Das habe zwar in aller Welt Schule gemacht. Aber eben nicht überall:
"Interessant ist, dass gerade in der frühen Neuzeit Waisenhäuser kombiniert waren mit Zuchthäusern und Irrenhäusern. Das heißt, der gesamte 'Rest' der Gesellschaft, der nicht passte, wurde zusammengefasst in solche Korrektionsanstalten. Und das erklärt auch dieses negative Bild, was sich gehalten hat bis in die Gegenwart."
Doch auch dort seien die damals Verantwortlichen keine Monster gewesen, meint Claus Veltmann.
"Die haben in der damaligen Zeit für ihr Selbstverständnis schon gedacht, dass sie das Beste für die Kinder tun. Das war nur ein für die Kinder schreckliches Missverständnis, muss man sagen, denn eine Orientierung am Wohl des Kindes geht ja erst mit Rousseau los, mit der Aufklärung."
Mit der eine heftige Polemik einsetzte, die als Waisenhausstreit in die Sozialgeschichte einging. Viele Waisenhäuser, die hinter solchen wie dem von Francke begründeten zurückblieben, wurden wegen der schlechten Lebensbedingungen geschlossen. Fortan wurden Kinder öfter in Pflegefamilien gegeben, was in Deutschland inzwischen die Regel darstellt.
Womit die Geschichte der Waisenhäuser und die Auseinandersetzung um sie nicht endet. Leider auch deshalb, weil es in der neueren Geschichte immer wieder Rückschritte hinter die Aufklärung gab und gibt - in Deutschland gleich dreifach durch den Rassismus der nationalsozialistischen Anstalten sowie die Gewalt in Jugendwerkhöfen der DDR und Fürsorgeeinrichtungen der alten Bundesrepublik. Doch sei das zu komplex gewesen, um es in die Ausstellung einzubinden, sagt Veltmann:
"Da ist die Forschung noch so am Anfang, dass wir ins nicht in der Lage gesehen haben, das wiederzugeben und sozusagen kursorisch in einem kleinen Raum abzuhandeln."
Gegenwärtige Probleme werden in Expertenvorträgen behandelt, die die Jahresausstellung begleiten. Am Ende werden die Franckeschen Stiftungen selbst stehen, weniger, um die Traditionen zu erklären, sondern deren Fortsetzung. Die Waisen von heute, sagt Direktorin Penelope Willard, sind eher Sozialwaisen, Kinder aus sozial benachteiligten Familien,
"die eine andere Art der Ansprache und der Angebote brauchen. Das heißt, wir haben einen sogenannten kulturellen Kinderfreitisch eingerichtet, eine Mittagsversorgung für Kinder, für die es die einzige warme Mahlzeit seit Tagen ist und versuchen dort eine Art Familienatmosphäre zu vermitteln."
Ohne die Familie als solche "aushebeln" zu wollen. Ein Familienkompetenzzentrum soll präventive Arbeit leisten:
"Dass man früh anfängt und versucht - faktisch vom Babyalter an -, die Familien, die oft sehr jung und unerfahren sind, die selbst aus sozial benachteiligten Hintergründen kommen und einfach weitergeben, was sie selbst erlebt haben, also dass wir versuchen, da anzusetzen und da einfach helfen."
Das kann man durchaus auch als Antwort auf eine Idee ehemaliger Zöglinge des 1948 aufgelösten Waisenhauses verstehen, die etwas aus ihrem Leben gemacht und das Aufwachsen in den Franckeschen Stiftungen als eine positive Erfahrung begriffen haben. Richtet wieder ein Waisenhaus ein, war ihr Vorschlag, als die Franckeschen Stiftungen in den 90er Jahren vom Verfall gerettet wurden. Das werden wir nicht, lautete die Antwort.
Die Jahresausstellung ist bis 4. Oktober in den Franckeschen Stiftungen zu Halle zu sehen; die Fachvorträge werden bis Ende November fortgeführt.
Die Ausstellung "Kinder, Krätze, Karitas" beginnt zeitlich etwa dort, als die Pest grassierte, im Hochmittelalter. Da besaß die Karitas bereits eine fast tausendjährige Tradition. Daran änderte sich wenig, als später die Reformation in einigen Regionen Einzug hielt, Klöster geschlossen wurden und die Fürsorge dem neu organisierten Sozialwesen zufiel. Zu dieser Zeit war nämlich ein Teil der Waisenhäuser schon lange in kommunaler Hand. Zudem, so Claus Veltmann, einer der beiden hauseigenen Kuratoren der Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle:
"Evangelische Waisenhäuser wurden mit Legaten und Testamenten genauso reich bedacht, wie katholische Waisenhäuser, was ich sehr interessant finde."
Nicht minder interessant war, dass Neugründungen von Waisenhäusern in den protestantischen Gebieten spärlich waren. Vom 1549 gegründeten Lübecker, dem ersten nachreformatorischen Waisenhaus steht ein großes Modell ausgestellt.
"Das wird aber bewusst, wie es auch in der Gründungsurkunde heißt, aufgrund einer Hungersnot und Epidemie eingerichtet, wo durch den Tod der Eltern sehr viele Kinder verwaist hinterlassen worden sind. Und auch bei den späteren Gründungen, Augsburg fällt mir da ein, wird immer darauf verwiesen, dass eine Epidemie oder Hungersnot der Auslöser war und nicht eine reformatorische Frömmigkeit, die dazu geführt hat."
Der wirkliche, auch inhaltliche Einschnitt erfolgte durch den Calvinismus und seine Doktrin, sich um jedes Gemeindeglied intensiv zu kümmern. Beten, arbeiten und lernen wurde auf neue Weise zur Einheit. Am ausgeprägtesten erfolgte das in den reichen Niederlanden:
"In der Zeit um 1600 hat jede mittlere und größere Stadt mindestens ein Waisenhaus; Amsterdam hat um 1700 neun Waisenhäuser - die größte Zahl der Waisenhäuser in Europa."
Dem "Goldenen Zeitalter" der Niederlande ist ein ganzer Ausstellungssaal gewidmet, auch deshalb, weil sie unmittelbares Vorbild für Francke wurden, der sich alles abgeschaut und durchdacht habe, sagt Jochen Birkenmeier, der zweite Kurator:
"Er war ja Pfarrer hier und hatte gar keine Ahnung, wie man ein Waisenhaus aufbaut und betreibt. Und er hat sich angeschaut, wie die baulich angelegt sind, wie die Waisen gekleidet, wie sie versorgt werden, was man gegen Ungeziefer tut, wie man die Hygiene regelt. All das hat er abfragen lassen."
Und zwar von seinem Mitarbeiter Neubauer. Dazu hatte ihm Francke Dutzende Fragen in ein schmales Heft diktiert, die man in der Ausstellung nachlesen kann. Die Antworten finden sich im Waisenhaus selbst wieder, das ab 1698 entstand. Ein Haus wie kein anderes zu jener Zeit:
"Das liegt auch daran, dass er nicht nur ein reines Waisenhaus gründen wollte, sondern sein eigentliches Anliegen war, wie er es genannt hat, einen 'Pflanzgarten' anzulegen, also gottesfürchtige Menschen heranzubilden, die dann in alle Welt ausgesandt werden können, um die christliche Botschaft weiterzutragen. Und das Waisenhaus, diese Sozialversorgung, war ein Teil eines viel größeren Auftrages, den er sich vorgenommen hatte, nämlich die Welt insgesamt zu reformieren im christlichen Geiste."
Das sollte Franckes Elite; der größte Teil der rund 300 ärmeren Waisen sollte in die Lage versetzt werden, einen Handwerksberuf zu ergreifen oder überhaupt ein tüchtiges, Gott ergebenes Leben zu führen. Francke baute zwar zahlreiche Eigenbetriebe auf:
"Das war hier der Buchladen mit der Druckerei, das war die Apotheke mit einem internationalen Medikamentenversand, das waren verschiedene Handelsunternehmen - und auch Bestrebungen, autark zu sein. Man hat eine Papiermühle gehabt, man hat landwirtschaftliche Flächen gehabt - man hat versucht, sich selbst zu versorgen und das Übrige einzuwerben durch Spenden."
Aber, betont Jochen Birkenmeier, Francke sei es primär um Erziehung und Bildung, jedoch nicht um die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen gegangen. Das habe zwar in aller Welt Schule gemacht. Aber eben nicht überall:
"Interessant ist, dass gerade in der frühen Neuzeit Waisenhäuser kombiniert waren mit Zuchthäusern und Irrenhäusern. Das heißt, der gesamte 'Rest' der Gesellschaft, der nicht passte, wurde zusammengefasst in solche Korrektionsanstalten. Und das erklärt auch dieses negative Bild, was sich gehalten hat bis in die Gegenwart."
Doch auch dort seien die damals Verantwortlichen keine Monster gewesen, meint Claus Veltmann.
"Die haben in der damaligen Zeit für ihr Selbstverständnis schon gedacht, dass sie das Beste für die Kinder tun. Das war nur ein für die Kinder schreckliches Missverständnis, muss man sagen, denn eine Orientierung am Wohl des Kindes geht ja erst mit Rousseau los, mit der Aufklärung."
Mit der eine heftige Polemik einsetzte, die als Waisenhausstreit in die Sozialgeschichte einging. Viele Waisenhäuser, die hinter solchen wie dem von Francke begründeten zurückblieben, wurden wegen der schlechten Lebensbedingungen geschlossen. Fortan wurden Kinder öfter in Pflegefamilien gegeben, was in Deutschland inzwischen die Regel darstellt.
Womit die Geschichte der Waisenhäuser und die Auseinandersetzung um sie nicht endet. Leider auch deshalb, weil es in der neueren Geschichte immer wieder Rückschritte hinter die Aufklärung gab und gibt - in Deutschland gleich dreifach durch den Rassismus der nationalsozialistischen Anstalten sowie die Gewalt in Jugendwerkhöfen der DDR und Fürsorgeeinrichtungen der alten Bundesrepublik. Doch sei das zu komplex gewesen, um es in die Ausstellung einzubinden, sagt Veltmann:
"Da ist die Forschung noch so am Anfang, dass wir ins nicht in der Lage gesehen haben, das wiederzugeben und sozusagen kursorisch in einem kleinen Raum abzuhandeln."
Gegenwärtige Probleme werden in Expertenvorträgen behandelt, die die Jahresausstellung begleiten. Am Ende werden die Franckeschen Stiftungen selbst stehen, weniger, um die Traditionen zu erklären, sondern deren Fortsetzung. Die Waisen von heute, sagt Direktorin Penelope Willard, sind eher Sozialwaisen, Kinder aus sozial benachteiligten Familien,
"die eine andere Art der Ansprache und der Angebote brauchen. Das heißt, wir haben einen sogenannten kulturellen Kinderfreitisch eingerichtet, eine Mittagsversorgung für Kinder, für die es die einzige warme Mahlzeit seit Tagen ist und versuchen dort eine Art Familienatmosphäre zu vermitteln."
Ohne die Familie als solche "aushebeln" zu wollen. Ein Familienkompetenzzentrum soll präventive Arbeit leisten:
"Dass man früh anfängt und versucht - faktisch vom Babyalter an -, die Familien, die oft sehr jung und unerfahren sind, die selbst aus sozial benachteiligten Hintergründen kommen und einfach weitergeben, was sie selbst erlebt haben, also dass wir versuchen, da anzusetzen und da einfach helfen."
Das kann man durchaus auch als Antwort auf eine Idee ehemaliger Zöglinge des 1948 aufgelösten Waisenhauses verstehen, die etwas aus ihrem Leben gemacht und das Aufwachsen in den Franckeschen Stiftungen als eine positive Erfahrung begriffen haben. Richtet wieder ein Waisenhaus ein, war ihr Vorschlag, als die Franckeschen Stiftungen in den 90er Jahren vom Verfall gerettet wurden. Das werden wir nicht, lautete die Antwort.
Die Jahresausstellung ist bis 4. Oktober in den Franckeschen Stiftungen zu Halle zu sehen; die Fachvorträge werden bis Ende November fortgeführt.