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Kinder - Opfer der Rosenkriege

Nach einer Trennung oder Scheidung streiten die Eltern im Normalfall: um das Sorgerecht oder den Umgang mit dem Kind. Die meisten finden eine Lösung. Aber fünf bis zehn Prozent der Väter und Mütter tragen ihren Konflikt jahrelang aus.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 26.08.2010
    Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in München hat sich in der Studie "Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft" der Frage gewidmet, was die sogenannten "Hochkonfliktfamilien" charakterisiert – und wie ihnen geholfen werden kann.

    "Wenn ich vom Briefkasten komme und völlig verärgert einen Briefumschlag vom gegnerischen Anwalt aufgerissen habe, wenn ich grad auf dem Anrufbeantworter gesehen habe, dass (der Vater oder) die Mutter schon wieder wegen irgendwas angerufen hat, was ich nicht will, dann kann ich nicht in der nächsten Sekunde einfühlsam auf mein Kind eingehen."

    Jörg Fichtner kennt viele Eltern, die nach der Trennung oder Scheidung nicht aufhören können zu streiten – um das Sorgerecht oder darum, wer wann das Kind sieht. Der psychologische Sachverständige erstellt Gutachten über die Konfliktfälle, die vor Gericht landen. Beim Deutschen Jugendinstitut in München hat er die Studie "Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft" geleitet.

    Rund 200.000 Kinder erleben jedes Jahr in Deutschland, dass die Beziehung ihrer Eltern auseinanderbricht. Von diesen müssen ungefähr 10.000 die ausufernden Streitigkeiten ihrer Väter und Mütter ertragen. Jahrelang, denn der Gang zum Jugendamt, zu einer Beratungsstelle, vors Gericht scheint zu keiner Lösung zu führen.

    Anders als im angloamerikanischen Raum weiß man in Deutschland bislang wenig über sogenannte Hochkonfliktfamilien. Den beteiligten Richtern, Anwälten und Verfahrensbeiständen, den Mitarbeitern von Jugendämtern und Beratungsstellen attestiert die Studie eine "erhebliche Verunsicherung im Umgang mit diesen Familien". Das Deutsche Jugendinstitut hat diese Fachleute, aber auch betroffene Familien befragt, Gerichtsakten gewälzt und internationale Literatur ausgewertet:

    "Wir haben drei deutliche Unterschiede zwischen sogenannten hochkonflikthaften Eltern und nicht so hochkonflikthaften gefunden. Das eine ist, dass die deutlich weniger offen für neue Erfahrungen waren. Das ist eine allgemeine Persönlichkeitsvariable, hat jetzt nichts unmittelbar mit dem Beratungsprozess zu tun, erschwert aber natürlich eine sinnvolle Beratung und erschwert, dass die mit dem Ex-Partner noch mal neue Erfahrungen machen, die vielleicht besser sind als die alten."

    Außerdem zeigen sich hochstrittige Eltern nicht so "verträglich" wie andere geschiedene Paare. Sie können sich weniger in andere Menschen einfühlen und verfangen sich in ihren Argumenten – außerstande, die Situation zu verändern. Die Probleme mit dem ehemaligen Partner übertragen sie auf ihre Beziehung zum Kind. Und auch Hilfe von außen wissen sie nur schlecht zu nutzen.

    Eltern im Dauerstreit sind nicht psychisch krank, zeigt die Studie. Das überraschendste Ergebnis ist nach Ansicht des Verhaltenstherapeuten Jörg Fichtner vielmehr ihre Hilflosigkeit:

    "Diese Eltern initiieren ja ganz viel Gerichtsverfahren und gehen da in die Beratung, involvieren dort das Jugendamt, ziehen hier einen Sachverständigen bei, wenn das Gericht das dann auch genehmigt. Also die tun unheimlich viel, aber was dahinter steckt, ist eigentlich, dass sie sich als sehr wenig wirksam in dieser Beziehung zu dem anderen Elternteil empfinden, von dem sie sich ja schließlich getrennt haben und über die Kinder verbunden bleiben."

    Den erbitterten Kampf um das Kind führen Mütter und Väter quer durch die Gesellschaft. Das bestätigt Gregor Profitlich nach acht Jahren Berufspraxis als Familienrichter in Berlin:

    "Da ist nicht eine bestimmte Schicht vor gefeit. Ich hab fast schon das Gefühl, dass die Fälle schwieriger und andauernd problematisch bleiben mit Eltern, die jedenfalls in der Lage sind, sich richtig auszudrücken, die vielleicht auch wirklich eine akademische Ausbildung hinter sich haben, und trotzdem nicht abschalten können, nicht wieder auf den Boden der Tatsachen und der Zwänge, in denen sie auch leben, zurückkehren können. Bei eher einfachen Verhältnissen haben wir häufiger noch das Erlebnis, dass man die Eltern mit einer gewissen Autorität des Gerichts und vielleicht auch des Jugendamtes einfangen kann."

    Den Eltern, die sich bei der Anhörung für eine Lösung sperren, verordnet Profitlich häufig eine Beratung. Sie zeigten sich als "emotional extrem eingeschränkt". Bei ihren Kindern bemerke er einen "auffälligen Leidensdruck".

    Peter Dietrich bringt es auf den Punkt: Die Kinder in Hochkonfliktfamilien leben in einem permanenten "Ausnahmezustand". Der Psychologe leitet die Familienberatungsstelle des an der Studie beteiligten Instituts für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung der Uni Potsdam:

    "Die Familien, die wir im Blick haben, respektive die Kinder, die dazugehören, erleben die Konflikte auch nach einer Trennung ungebremst und manchmal sogar noch härter und deutlicher weiter. Es kommt also zu keiner Entlastung für diese Kinder, sondern sie werden jahrelang in diese Konflikte mit einbezogen.
    Es gibt also für die Kinder keinen positiven Outcome nach einer Trennung oder Scheidung, wie es für die anderen Kinder normal ist: Das Leben wird dann wieder ruhiger, die Mütter oder Väter stabilisieren sich ja auch nach einer Trennung oder Scheidung – unterschiedlich schnell, aber sie tun es."

    Die befragten Kinder nahmen die elterlichen Konflikte sehr deutlich wahr – und reagierten meist in zwei extremen Formen. Jörg Fichtner:

    "Ein paar von diesen Kindern haben sehr deutlich überdurchschnittliche Belastungen angegeben, auch in einem Bereich, wo sie durchaus behandlungswürdig sind, und die anderen Kinder haben sich als überdurchschnittlich unbelastet in diesem Testverfahren dargestellt. Wo aus unserer Sicht davon auszugehen ist, dass die sich versuchen, überstark an die Situation anzupassen, die eigenen Belastungen gar nicht mehr mitbekommen und irgendwie versuchen, sich stärker darzustellen, als sie tatsächlich sind."

    Fichtner plädiert dafür, dass Jugendämter und Richter, Therapeuten und Verfahrensbeistände die Wünsche der Kinder stärker berücksichtigen und mit den Eltern darüber reden. Auch müsse geklärt werden, inwiefern sie Hilfe bräuchten.

    Die Rechtsprechung hat mit dem neuen Familienverfahrensrecht vom 1. September 2009 reagiert. Danach sollen die Gerichte Scheidungs- oder Trennungsfälle vorrangig bearbeiten und beratende Institutionen besser eingebunden werden – damit der elterliche Konflikt sich nicht verfestigt, sondern schnell gelöst werden kann.

    "Das ist auch angesichts des kindlichen Zeitverständnisses, was ja ein anderes ist als der Erwachsenen, eine sehr sinnvolle und auch sehr notwendige Maßnahme. Hinzu kommt, dass Eltern nach dieser neuen Rechtslage tatsächlich beauflagt werden können, Beratung in Anspruch zu nehmen oder sich über Mediation zu informieren. Es wäre gut, wenn die Richter manche Anordnung zur Beratung für die Eltern begleiten würden mit der Aussage: Und Ihr Kind stellen Sie dort bitte auch mal vor",

    sagt Peter Dietrich.

    Die Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass die Eltern sich zunächst für eine Einzeltherapie oder -beratung aufgeschlossener zeigen – und sich erst später gemeinsam an einen Tisch setzen sollten. Inwiefern aber das Kind in den elterlichen Klärungsprozess einbezogen werden soll, scheint noch umstritten.

    Für den Familienrichter Profitlich ist das ein "schwieriges Thema" - auch wenn er davon überzeugt ist, sich in komplizierten Fällen einen Eindruck vom Kind verschaffen zu müssen:

    "Die Kinder geraten ja ganz häufig in einen sehr heftigen Loyalitätskonflikt zwischen ihren Eltern. Die spüren ja, dass da was droht und dass gegebenenfalls auch etwas von ihnen erwartet wird. Und haben es sowieso schwer in diesen schwierigen Zeiten, beiden Eltern es immer recht zu machen irgendwo noch ihr Verhältnis zu retten auch zu dem Elternteil vielleicht, den sie nicht so sehr sehen.
    Und wenn man die nun jederzeit und ganz frühzeitig immer ins Gericht zitiert, um mit ihnen zu reden, dann kann man ihnen noch so beteuern, dass es nicht darum geht, dass sie jetzt das Verfahren entscheiden oder dass man macht, was sie sagen – die spüren den Druck und haben ihn wahrscheinlich auch von ihren Eltern mitgekriegt."