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Kinder und Kultur

Nein, hier handelt es sich nicht um eine unkontrolliert durcheinander singende Horde Schüler, hier handelt es sich um nichts Geringeres als die Einfühlung in die Figuren der Oper 'La Traviata’ von Giuseppe Verdi. Die Schüler der 9c der Fichtenberg Oberschule in Berlin Steglitz sind für einen Vormittag in die Staatsoper Unter den Linden gekommen, um Violetta Valerie, Flora Bervoix und Alfredo Germont näher kennen zu lernen.

Von Elisabeth Nehring | 04.06.2006
    Wahrnehmungsübungen, rhythmisches Klatschen, Singen von Namen und charakteristischen Statements der Figuren, Schreiten, Schleichen oder Stolzieren, Verkleiden und Vorführen - mit viel körperlichem Einsatz und heraus gekitzeltem Spieltrieb weckt Musiktheaterpädagoge Rainer Brinkmann das Interesse an der – von Schülern oft als altmodisch empfundenen – Kunstform.

    "Wir versuchen die Spieler in die Oper einsteigen zu lassen, so dass sie eben nicht diesen Zugang von Außen haben wie es ein Opernführer vermitteln würde, sondern wirklich von Innen heraus das Werk kennen lernen. Das bedeutet, die Schüler werden sich einfühlen in die Figuren, werden ihre inneren Wünsche, Hoffnungen, Beziehungen, usw. kennen lernen und selber als Figur agieren. "

    Rainer Brinkmann versteht diese regelmäßig angebotenen vierstündigen Workshops als 'Anregung’, sich mehr mit dem Musiktheater zu beschäftigen, ja, sich gar selbst einmal in die Oper zu trauen. Haben Schüler und Lehrer erst einmal Feuer gefangen, können sie sich in der Staatsoper zu einem größeren Projekt anmelden, der Erarbeitung einer eigenen Aufführung. Solche Produktionen werden von der Initiative TUSCH vermittelt, 'Theater und Schule’. Das 1998 gegründete Bündnis setzt auf zweijährige Partnerschaften zwischen je einer Berliner Oberschule und einem Theater. Dabei entstehen, je nach 'Art des Hauses’ Musik- und Opern-Projekte, Theater- oder Tanzstücke. Renate Breitig hat TUSCH gegründet.
    "Die Theater haben natürlich ein großes Interesse, dass der besondere Stil des Hauses, die besondere Handschrift des Hauses auch erkennbar wird in dem, was sie mit den Schülern und Schülerinnen erarbeiten. Und wenn sie dann die Produktionen sehen, z.B. von der Volksbühne, dann merken sie, ohne dass sie es vorher wissen, aha, das ist Volksbühnenhandschrift. Mit all der Heftigkeit, mit all der Verrücktheit, mit dem Geschrei, der Freude, auch dies Bühnenbild am Ende zu zerstören, ist das etwas, das die Handschrift eines Theaters trägt. Und so konnte man bei der Produktion der Staatsoper auch ganz deutlich die Handschrift des Hauses erkennen. "

    Da sich an TUSCH die meisten Opernhäuser und Theater der Stadt beteiligen, entsteht durch die unterschiedlichen Zusammenarbeiten im Schultheater ein Spiegel der Berliner Theaterlandschaft. Die Vorzüge der längerfristig angelegten Partnerschaften gegenüber kurzlebigeren Projekten sind offensichtlich: erst ein vertieftes Wissen um Inhalt und künstlerische Form fördert eine wirkliche ästhetische Bildung; außerdem sind die Schüler an der Erarbeitung der Inszenierungen selbst beteiligt und kriegen nicht ein fertiges 'Regie’-Konzept übergestülpt. Darüber hinaus entwickeln sich häufig intensive Kontakte zu Sängern, Schauspielern oder Tänzern, was die Jugendlichen wiederum motiviert, sich die bekannten Künstler auch auf der Bühne einmal anzusehen.

    "Die Kernidee ist ja eben, 'sein’ Theater zu haben, ein Theater ist ja nicht nur eine Produktionsstätte, das ist ja auch ein Ort mit Atmosphäre, mit Ambiente, mit bestimmten Schauspielern, mit einer bestimmten Architektur auch und der liegt in einem bestimmten Stadtteil. Also das ist etwas, das auch eine Identität schafft für die Jugendlichen, wenn sie 'ihr’ Theater kennen. Das ist ja auch der Sinn der Sache, in dieser großen, viel zu komplexen und heterogenen Stadt etwas zu haben was das eigene ist. "

    Zur Ergänzung und Erweiterung des Musikunterrichts an den Schulen präsentieren auch die Berliner Philharmoniker eine ganze Reihe von Angeboten: angefangen von Besichtigungen des Hauses und kurzen Werkeinführungen über Besuche von Generalproben, dem Erleben des Arbeitstages eines Musikers sowie einem Kompositionswettbewerb bis zu längerfristig angelegten musikalischen Projekten.

    Ein ganz anders angelegtes Unternehmen ist die 'Tanzzeit – Tanz in den Schulen’. Die Choreographin Livia Patrizi hat es mit viel Engagement und Hartnäckigkeit durchgesetzt, dass für vorerst ein Jahr an über zwanzig Berliner Grundschulen einmal wöchentlich Tanzunterricht von Choreographen vermittelt wird. Die Begeisterung auf beiden Seiten – der Schulen und der Künstler – ist riesig über dieses Modell, das ganz besonders auf Nachhaltigkeit setzt. Renate Breitig sieht es gar als Gegenentwurf zu den viel gelobten und beschworenen Groß-Projekten Roystoon Maldoons, der zusammen mit den Berliner Philharmonikern und hunderten von Schülern einmal jährlich ein Tanzstück erarbeitet.

    "Es ist ja ein bisschen in so einen Event-Charakter hineingerutscht, was wir eigentlich als Pädagogen eigentlich überhaupt nicht wollen. Wir wollen eine Nachhaltigkeit, wir wollen wirklich, dass Kinder in Prozesse sich einlassen können und diese Prozesse sind körperlich, sozialer und künstlerischer Art. "

    Welches Projekt eine Schule auswählt und ob überhaupt, bleibt ihrer Prioritätensetzung, ihrem Zeitmanagement und, da die meisten, aber nicht alle Aktivitäten für die Schulen umsonst sind, auch ihrem Budget überlassen. Ein halbes Jahr TanzZeit z.B. kostet eine Schule rund 1400 Euro. Engagierte Musiklehrer schwärmen von der Vielzahl der unterschiedlichsten Angebote, mit denen sie ihren Unterricht ergänzen können. Und das tut dringend Not, denn besonders in der Oberschule ist Musik nur mehr ein marginalisiertes Fach, das ab dem Sommer und der achten Klasse statt zwei nur noch eine Stunde pro Woche unterrichtet wird. Und das auch nur ein halbes Jahr lang, das andere halbe Jahr ist Kunstunterricht an der Reihe. Der immer weiter fortschreitenden Reduzierung von Musik und Kunst in den Schulen steht ein Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses gegenüber, das den Senat aufgefordert hat, ein ressortübergreifendes Rahmenkonzept zur 'Kulturellen Bildung’ zu entwickeln, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Die Kultur als zentralen, eigenen Wert bereits für junge Menschen scheint die Politik erst langsam wahrzunehmen. Ob und welche Voraussetzungen sie dafür schafft, bleibt abzuwarten.