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Kinder von den Sternen

Mit vor Erregung glänzenden Augen verfolgen die beiden Brüder den chinesischen Film im Fernsehen: Gerade wird ein Hals mit einem Säbelhieb durchtrennt, der Kopf fliegt davon und das Blut spritzt literweise aus dem Stumpf. In dem Moment springt mit einem markerschütternden Schrei noch ein Kämpfer in die Szene....

Gaby Mayr |
    Wie es weitergeht, erfahren die beiden Zwölfjährigen - zwei Drittel einer Drillingsgeburt - nicht mehr. Der dritte Bruder hat sich die Fernbedienung geschnappt und zappt in ein anderes Programm. Protest wagen die beiden nicht. Denn der Störenfried - der Protagonist der Geschichte - ist, obwohl zuletzt geboren, vor den beiden in die Höhe geschossen und jetzt größer und stärker. Widerstand scheint zwecklos.

    Ein alltäglicher Machtkampf unter Jungs - in Berlin oder Castrop-Rauxel, in Tokio oder Chikago? Nicht ganz. Die Szene spielt in Zentralafrika. Mit seinem Roman "Kinder von den Sternen", der gerade auf Deutsch erschienen ist, führt uns der Autor Emmanuel Dongala mitten hinein ins heutige Afrika. Dongala:

    "Dieser Junge steht für die Kinder, die heute in Afrika aufwachsen - mit Coca-Cola und Nikes. Sie sitzen vor dem Fernseher, kennen die Filme, surfen im Internet. Auf der anderen Seite gibt es nicht genug Lebensmittel und keine Straßen. Mit diesen Widersprüchen muss die neue Generation fertig werden."

    Matapari, der Jüngste der Drillinge, hatte von Anfang an eine Sonderrolle. Beinahe im Bauch seiner Mutter vergessen, erblickt er erst zwei Tage nach seinen Brüdern das Licht der Welt - just am 20.Jahrestag der Unabhängigkeit seines Heimatlandes und genau fünf Jahre nach der Machtergreifung durch den "Genossen Präsidenten" und dessen Politbüro. Der politträchtige Geburtstermin hat Matapari offenbar sensibilisiert für die Ereignisse außerhalb seiner Kinder- und Jugendwelt. Durch die Augen des Jungen lernen wir die Irrungen und Wirrungen in einem afrikanischen Staat am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts kennen, dessen Machthaber das Land nach Leninschem Vorbild in eine glorreiche Zukunft führen wollen und doch nur sich selber beweihräuchern und in die eigene Tasche wirtschaften. Bis es den Untertanen irgendwann reicht.

    Vor dem Hintergrund einer oft surrealistisch anmutenden, aber durchaus wirklichkeitsnahen Gesellschaftsskizze leben die Drillinge samt Familie und Nachbarschaft ihren afrikanischen Mittelschichtsalltag - mal schrill, mal versponnen, immer für eine Überraschung gut. Dazu Dangala:

    "Die Mutter ist eine gläubige Christin. Am Ende des Buches ist sie allerdings offener und nicht mehr so ergeben. Der Vater glaubt nicht an irgendeine Religion, sogar einige afrikanische Traditionen hält er für überflüssig. Er ist mit Leib und Seele Wissenschaftler. Onkel Boula-Boula ist ein Schlawiner, ein Gauner, dem man nicht trauen kann. Er ist erst Sozialist, später passt er sich den neuen Verhältnissen an: Ein Politiker, ein Opportunist."

    Dazu gesellt sich Tante Lolo, die ihre Haut mit chemischen Keulen bleicht und deren Sehnsucht nach Pariser Chic sie an die Seite von Boula-Boula treibt. Der libanesische Händler mit seinem Riesenangebot internationaler Konserven. Und Pater Bonifatius aus Europa mit dem Ebenholzkreuz vor der Brust, der unverdrossen Seelen retten will. Sie alle verstricken sich in immer neue Slapstick-Szenen. Auf diese Weise kommt sogar das Regime zu Fall: Dank Mama und Papa wird erst das örtliche Gefängnis gestürmt, anschießend muss der Diktator in der Hauptstadt abdanken. Der darauf folgende demokratische Wirbel mit seiner Unzahl eitler Parteigründer sorgt für neue Lachnummern.

    Emmanuel Dongala hat einen politischen Roman à la Africaine geschrieben: Das heißt, das Buch ist unterhaltsam. Dongala:

    "Ich maße mir nicht an, ein Sprecher des Volkes, eine moralische Instanz zu sein. Ich schreibe so, dass es Spaß macht zu lesen, dass man lachen kann. Hinter dem Vergnügen liegt ein bisschen Wirklichkeit. Dann fragt man sich: Warum lache ich, wo die Geschichte doch so traurig ist - und beginnt nachzudenken."

    Tatsächlich sind die Verhältnisse bedrückend in Dongalas Heimatland Kongo/Brazzaville. Jahrelang herrschte Bürgerkrieg. Inzwischen schweigen die Waffen, aber die Lage ist nach wie vor labil. 1998 verließ der mittlerweile fast sechzigjährige Autor mit seiner Familie das Land:

    "Ich habe mein Land nicht verlassen, weil ich politisch verfolgt wurde oder weil ich nicht sagen konnte, was ich wollte. Nein. Ich habe die ganze Zeit in meiner Heimat gelebt. Ich habe einen Band Kurzgeschichten geschrieben unter dem Titel Jazz und Palmwein. Das Buch war zehn Jahre lang verboten, und meine Freunde wurden vom Geheimdienst vorgeladen. Ich habe das Land verlassen, um meine körperliche Unversehrtheit zu erhalten. Es herrschte Chaos, Bürgerkrieg. Viele Leute wurden getötet - von Milizen oder von verirrten Kugeln. Ich wollte nicht nutzlos sterben. Wenn ich sterben sollte, wollte ich wenigstens für etwas Sinnvolles sterben und nicht von einer umherirrenden Kugel getötet werden."

    US-amerikanische Schriftstellerkollegen verhalfen dem PEN-Präsidenten von Kongo/Brazzaville zu einer Aufenthaltserlaubnis in den USA. Dort unterrichtet der gelernte Naturwissenschaftler jetzt an der Universität afrikanische Literatur und Chemie.

    Mit seiner Heimat hält Emmanuel Dongala Kontakt so weit es die desolate Lage zulässt. Viele Schriftstellerkollegen haben wie er das Land verlassen. Der Exodus macht Dongala traurig - sind es doch nach seiner Meinung vor allem die Künstlerinnen und Künstler, die der nachwachsenden Generation eine Orientierung geben können. Und die ist dringend nötig. Als Beispiel für die Entwurzelung der junger Leute in Afrika nennt er die beiden guineischen Kinder, die als blinde Passagiere an Bord einer Maschine der belgischen Luftverkehrsgesellschaft SABENA nach Europa flogen. In Brüssel fand man sie: tot, erfroren. Bei sich trugen sie einen Zettel, auf dem sie die "Verantwortlichen von Europa" um Hilfe bitten. Dazu Dongala:

    "Das hat mich sehr erschreckt. Denn es bedeutet, dass der Traum dieser Kinder, all ihr Verlangen, sich nach außen richtete, weg von Afrika. Niemand zeigte ihnen, dass man auch in Afrika Sterne sehen kann, dass auch in Afrika Blumen blühen und die Sonne scheint. Nur Künstler, Schriftsteller, Maler können diesen Menschen einen Traum geben. Verstehen sie mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass Afrika nicht Wirtschaftsfachleute, Ingenieure und Naturwissenschaftler braucht. Ich bin selber Naturwissenschaftler. Aber das genügt nicht. Es gibt da eine andere Dimension der Seele, des Träumens, die verloren ist und die wir dieser Generation geben müssen - und das können nur Künstler und Schriftsteller tun."