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Kinder vor dem Bildschirm

Manche Werbung, zum Beispiel zur Zeit eine ganzseitige des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, stellt Kinder indirekt als Störfaktor dar. Über einem Foto fröhlich musizierender Kinder steht an eine Schultafel geschrieben "Die Schulzeit ist die schönste Zeit im Leben. Jetzt auch für Eltern." So richtig schön scheint das Leben für die Werbetexter und ihre Auftraggeber erst dann zu sein, wenn die Kinder irgendwo anders versorgt sind. Ob sie wohl selber Kinder haben? Sicher, manche Eltern sind auch überfordert und greifen gern auf Betreuungsmechanismen zurück, von denen sie nicht ahnen, wie schädlich sie sein können. Zum Beispiel den elektronischen Schnuller Fernsehen. Der Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Psychiatrie, Manfred Spitzer, hat die Wirkungen elektronischer Medien auf die Gehirnentwicklung von Kindern untersucht.

Rezension: Uschi Geiling | 04.07.2005
    Vor dem Hintergrund der neuesten Ergebnisse der Gehirnforschung fordert Manfred Spitzer schnelles Handeln. Sein Buch: "Vorsicht Bildschirm" versucht zu belegen, was wir schon länger vermuten: Bildschirmmedien können Kinder dick, krank und gewalttätig machen. Die Zusammenhänge und Konsequenzen wurden noch nie so alarmierend dargestellt. Dick und krank deshalb, weil der über einen längeren Zeitraum anhaltende Bewegungsmangel zu Übergewicht führt; zudem belegen Studien, dass Vielseher ihre Essgewohnheiten ändern - hin zu fetten oder süßen Snacks. Die Kinder nehmen so mehr Energie auf, als sie verbrennen und werden immer dicker, unbeweglicher - und einsam. Dumm werden sie auch, weil Fernsehen in jungen Jahren die Entwicklung des Gehirns und dessen Vermögen, Realitätserfahrungen zu strukturieren, nachteilig beeinflusst, Zitat:

    " Bildschirme liefern eine flache, verarmte Realität, insbesondere dann, wenn der Benutzer die Welt noch nicht kennt und Objekte oder Szenen beim Betrachten eines Bildschirms eben gerade nicht dauernd aufgrund von Vorerfahrungen ergänzen kann. Daher sind Bildschirme für kleine Kinder eher schädlich - unabhängig vom gerade dargebotenen Inhalt - wegen der Form der durch sie gelieferten Erfahrungen."

    Warum deutsche im Vergleich zu anderen europäischen Kindern im PISA-Test so schlecht im Lesen abgeschnitten haben, kann durchaus auch auf eine überhöhte Dosis "Fernsehen" zurückgeführt werden. Das hat die Würzburger Untersuchung des Psychologen Marco Ennemoser ergeben.

    " Fernsehen hat ungünstige Auswirkungen auf das Erlernen des Lesens. Dieser Effekt ist dosisabhängig und zeigt sich nicht erst bei drei oder vier Stunden, sondern bereits bei zwei Stunden Fernsehen täglich in aller Deutlichkeit. Es ist also nicht egal, ob man im Kindergarten- oder Grundschulalter 15 oder 120 Minuten täglich fernsieht."

    Fernsehen im Vorschulalter führt nicht nur zu schlechten Leistungen im Lesen, sondern auch im Schreiben. Dies lässt sich zwar nicht in der ersten Klasse, aber sehr wohl nach zwei Schuljahren deutlich nachweisen. Deshalb empfiehlt der Autor, den Fernsehkonsum sehr gut im Auge zu behalten und gegebenenfalls rigoros zu kontrollieren. Spitzer, Vater von fünf Kindern, hat inzwischen den eigenen Fernseher konsequenterweise abgeschafft.

    Der Problemkomplex Gewalt und Medien gehört zu den am besten untersuchten Themen; doch werden die gravierenden Auswirkungen immer noch nicht ernst genug genommen. Kinder unter acht Jahren werden von Gewalt in den Medien, also den Wirkungen von Fernsehen und Computerspielen, geschädigt, weil sie noch Schwierigkeiten haben, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Gewalt, die trainiert und belohnt wird, macht ebenfalls abhängig. Spitzer schreibt:

    " Mediengewalt "verstärkt Aggressivität und antisoziales Verhalten, verstärkt aber auch Ängste, selbst Opfer von Gewalttaten zu werden. Zudem desensibilisiert Gewalt in den Medien die Jugendlichen gegenüber realer Gewalt und Gewaltopfern. Schließlich führt Gewalt in den Medien zu einem verstärkten Appetit auf mehr Gewalt ... auch im realen Leben.""

    Der Autor, Hirnforscher und Neurologe sowie Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm untermauert seine Argumente mit einer Reihe neuer Untersuchungen. Diese sind verständlich aufbereitet, ebenso wie die Informationen über die Gehirnentwicklung. Wer Kindern frühe Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Wahrnehmungsfähigkeit nimmt, kann diesen Fehler nie mehr gutmachen. Mit seinem kämpferischen Buch will Spitzer Eltern und Pädagogen, Politiker, Ärzte, Medienmacher und Erfinder von Computerspielen aufrütteln. Auch will er das Privatfernsehen für die von ihm verursachten gesellschaftlichen Folgen haftbar machen - zugunsten der öffentlich-rechtlichen Medien. Letztere sollen sich auf pro-soziale Programme konzentrieren.
    Auch Katrin Müller-Walde widmet sich den Phasen, in denen das Gehirn seine Fähigkeiten ausbildet: Das "Lesefenster" schließt sich zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr, dann aber für immer! Danach lernen Jugendliche nicht mehr, mit Texten qualifiziert umzugehen. Wer in diesem Alter nicht die Lust am Lesen bekommt, wird zu den Verlieren des Bildungssystems gehören. Denn spätestens seit PISA gehören Sprach- und Lesekompetenz nicht umsonst zu den Schlüsselqualifikationen für die Zukunft und die künftige Arbeitswelt - ganz abgesehen vom Wert für die eigene Persönlichkeitsentwicklung.

    Nach neuesten Erkenntnissen werden die Verlierer vor allem männlich sein. Warum? Weil Lesen heute unter den männlichen Jugendlichen als "weibisch" gilt, sagen Leseforscher, und die in der Schule angebotene Literatur als langweilig und "out of the world" empfunden wird. Insgesamt gesehen sind es vor allem historisch gewachsene Vorurteile gegenüber Literatur, soziologische Zwänge, mediale Einflüsse und psychologische Gegebenheiten, die die männliche Leseunlust verursachen. Aber man weiß inzwischen noch mehr: So sind bei Mädchen und Frauen fürs Sprechen beide Gehirnhälften aktiv, bei Jungen und Männern hingegen nur die rechte oder linke Hälfte. Zwar sind die Ursachen für das unterschiedliche Leseverhalten von Jungen und Mädchen noch nicht vollkommen erforscht, doch die Wissensgesellschaft wird dem Faktor Geschlecht mehr Bedeutung schenken müssen. Müller-Walde fordert daher:

    " Jungen fördern - Mädchen sind schon stark genug."

    Die Autorin legt damit das erste Buch mit einem geschlechtspezifischen Ansatz zum Thema Lesen vor. Zweitens wendet sie sich gegen die alte Verknüpfung des Lesens "guter Bücher" mit dem Bildungsanspruch. Das "gute" Buch wurde immer dem "unterhaltsamen" Buch als pädagogisch wertvoll vorgezogen. Trotzdem haben bekanntlich die Geschichten von Pippi Langstrumpf und Lederstrumpf Kinder oft erst zu richtigen Leseratten werden lassen. Müller-Walde wörtlich:

    " Nicht Wünschenswertes aus der Sicht tradierter Maßstäbe schien mir im ersten Schritt erstrebenswert, sondern Machbares, ohne das "gute Buch" aus dem Zielhorizont zu verlieren. Wie war das? 'Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen'? Ich behaupte das Gegenteil: Erst kommt die Lust, dann die Bildung."


    Am Schluss ihres Buches hat die Autorin mit Jungen 50 Lektüretipps für Jungen ausgesucht, von ihnen bewerten lassen und zum "begeisternden" Lesen zusammengestellt. Je nach Altersgruppe können Jungen so das für sie "spannende" Buch finden.

    Und wie ist das mit Mathe? In diesem Fach sollen Jungen angeblich besser sein als Mädchen. Angelika Schlotmann ist dem Mathe-Thema nachgegangen. Ihr Fazit: Von Rechenschwäche sind viele Kinder betroffen; viele rechenschwache Kinder quälen sich ihr ganzes Schulleben, obwohl sie in anderen Fächern gute Leistungen erbringen. Ein Grund ist die so genannte Dyskalkulie. Das ist eine ausgeprägte Lernstörung im Bereich der Mathematik, die sich sowohl in mangelndem Zahlen- und Zahlraumverständnis als auch in weit unterdurchschnittlichen Rechenfähigkeiten zeigt. Auch intensives Training führt meist nicht zu wirklichen Verbesserungen. Vier Prozent der Kinder sind davon betroffen. Eltern, die ihrem Kind bei den Mathe-Hausaufgaben helfen wollen, verzweifeln; viel Zeit und Geduld sind oft umsonst. Doch diese scheinbar unlösbaren Probleme lassen sich lösen: Das verspricht die Psychologin in ihrem betont praxisorientierten Buch.

    Manfred Spitzer
    Vorsicht Bildschirm. Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft, Klett
    Verlag, Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig, 2005

    Katrin Müller-Walde
    Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern können, Campus
    Verlag, Frankfurt/New York, 2005

    Angelika Schlotmann
    Warum Kinder an Mathe scheitern.
    Wie man Rechenschwäche wirklich heilt. Supperverlag, Hirschberg/Bergstraße, 2005