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Kinderbuch-Klassiker als Hörbuch-Highlights 2005

Der "Kleine König Kalle Wirsch" von Tilde Michels gehört zum ehernen Repertoire der Augsburger Puppenkiste. Die aufregende Unterweltgeschichte um einen Königskampf im Milieu der Erdmännchen erschien erstmals 1969 im Buch – lange bevor das Fantasien des Michael Ende zum Welterfolg wurde. Die Hörbuchvariante gehört zu den Highlights 2005, aber es warten noch vier weitere Klassiker.

Von Florian Felix Weyh | 24.12.2005
    "Dies ist eine Geschichte, die ich im Jahre 1938 meinen Schülern in Summerhill erzählt habe."

    Nein – so alt ist Harry Rowohlt, der ungekrönte deutsche Vorlesekönig und Meister subtiler Vortragskunst für Kinder und Erwachsene wahrlich nicht. Alexander Sutherland Neill spricht hier mit seiner Stimme, Begründer der antiautoritären Erziehung im legendären Internat Summerhill. 1971 schaffte es sein turbulenter Abenteuerroman "Die grüne Wolke" als erstes Kinderbuch auf die Spiegel-Bestsellerliste – zugleich war es auch das erste Buch, das der junge Übersetzer Harry Rowohlt aus dem Englischen übertrug.

    "Die Geschichte ist also ein bisschen veraltet und diese Geschichte ist ziemlich gewalttätig."

    Starker Tobak für den Heiligen Abend, aber natürlich ist die "Grüne Wolke" vornehmlich ein ironisches Vergnügen für Jung und Alt, doch friedlich – friedlich geht es darin wirklich nicht zu. Zum Schluss sind nämlich alle bis auf den Erzähler tot. Beginnen wir also lieber unseren Streifzug durch die Hörbuchproduktion des Jahres 2005 – mit Fokus auf die Klassiker der Kinderliteratur – in etwas harmloseren Gefilden, tief in der Erde, wo seltsame Wesen hausen, nämlich:

    "Fünf Erdmännchenvölker, sagte Kalle, bitte merkt euch die Namen und Jenny war froh, dass sie die Namen nicht auch aufsagen musste."

    Der "Kleine König Kalle Wirsch" von Tilde Michels gehört zum ehernen Repertoire der Augsburger Puppenkiste. Die aufregende Unterweltgeschichte um einen Königskampf im Milieu der Erdmännchen erschien erstmals 1969 im Buch – lange bevor das Fantasien des Michael Ende zum Welterfolg wurde. Die Autorin setzte freilich damals nicht nur auf adrenalinsteigernde Prüfungen und Kämpfe ihrer drei Protagonisten – die Kinder Max und Jenny und den von seinem Konkurrenten Zoppotrump gestürzten König Kalle Wirsch, sondern auch auf Klang- und Sprachwitz. Den bringt Wolfgang Völz, die berühmte Stimme des Käpt’n Blaubär, in der Hörbuchfassung bravourös zur Geltung, etwa bei den Eigennamen der Wirsche, Wolche, Gilche, Trumpe und Murke.

    "Als, ich heiße Kalle, wie ihr wisst … so, dass genügt fürs Erste!"

    Es soll uns nicht ganz genügen, denn die poetischen Seiten der Autorin dürfen nicht zu kurz kommen. In dieser versponnen-phantastischen Welt unterhalb der Erdkruste stoßen die Kinder mit ihrem Führer auf manch seltsames Phänomen. Etwa die Schattenquelle, um die herum Hunderte von luftigen, schwarzen Gestalten tanzen:

    "Sind das – sind das Gespenster?", wisperte Jenny… "

    "So, jetzt geht’s ans Vorlesen …"

    Nanu – das machen wir doch sowieso die ganze Zeit.

    "Ich bin gespannt, was wir entdeckt haben … "

    Kurze Pause, während sich Doktor Beutelbach noch etwas räuspert, um sich auf den großen lyrischen Vortrag vorzubereiten. Wenn es darum geht, "Vokale abzuklopfen" ist man unter Garantie bei James Krüss angekommen, was den poetischen Strang der Sendung noch etwas verlängert. "In Tante Julies Haus" auf Helgoland wird kräftig gereimt und alliteriert, dazu nämlich sind die Feriengäste eigens angereist. Besonders Dr. Beutelbach aus Bayern, der das Rrrr rollen kann wie ein Hofschauspieler zu Kaisers Zeiten:

    "Es kam der Tag im Strahlenglanze … wie heißt Ihr Gedicht?"

    "Rosa Reinlicher" heißt es, doch noch mehr Rrrrs müssen im Moment nicht unser Trommefell benetzen. Die vielen Stimmen verraten es: "In Tante Julies Haus" ist kein asketisches Hörbuch, sondern ein Hörspiel, 1971 vom Bayrischen Rundfunk mit Berühmtheiten wie Lina Carstens und Gustl Bayrhammer produziert. Beim Hörbuchlabel Terzio hat man etliche Archivproduktionen des Senders ausfindig gemacht und auf CD neu ediert. Der verspielte Text von James Krüss funktioniert im Hörspiel besonders gut, weil er Vielstimmigkeit voraussetzt. Etwa wenn die Runde gemeinsam reimt:

    "Das Feld ist leer … blutleerer, flacher Laut zu sein."

    Wie ungerecht – aber nehmen wir den Vorwurf der Blutleere als Anlass zur Überleitung. Wäre jetzt nicht der geeignete Moment, um sich dem Schrecken der "Grünen Wolke" auszusetzen?

    "Wer hat den Käse zum Bahnhof gerollt?"

    Bitte?

    "Wer hat den Käse zum … "

    Ah, da meldet sich Frau Bartolotti – Berti Bartolotti, um genau zu sein. Sie ist in Sangesstimmung:

    "Doch dann wusste sie irgendwie den Text und auch die Melodie nicht mehr … und hackelt Gurkensalat."

    Berti Bartolotti ist ziemlich chaotisch, weshalb sie nicht so recht weiß, ob sie die riesige Konservendose wirklich bestellt hat, die ihr die Post ins Haus bringt. Ihre Leidenschaft für Gewinnspiele und Anzeigen macht es immerhin wahrscheinlich, dass es sich um keine Fehllieferung handelt, doch nun steht sie ziemlich perplex vor Konrad – dem Kind aus der Konservenbüchse, das sie mit ihrem Gesang aufzumuntern versuchte.

    "Der siebenjährige Junge, der laut Taufschein Konrad Bartolotti hieß …und jetzt braucht er Zuneigung"

    Auch dies ein dreißig Jahre altes Buch, Christine Nöstlinger hat es 1975 in prophetischer Vorwegnahme der Klon-Thematik geschrieben, doch ein Science Fiction wurde daraus zum Glück nicht. Sondern wie oft in Nöstlinger-Büchern eine humorvolle, warmherzige Geschichte über die Probleme des Miteinander-Auskommens, wenn man allzu verschieden ist. Denn während seine Ersatzmutter Betti eine unkonventionelle Exzentrikerin ist, wurde Konrad in der Fabrik serienmäßig als mustergültiges Vorzeigekind ohne Fehl und Tadel produziert. Zu Erwachsenen stets höflich, in der Schule ein Überflieger. Kein Wunder, wenn das nicht auf Begeisterung bei anderen Kindern stößt.

    "An jedem Wochentag wartete die Kitty … und Ziegenbock!"

    Die Virtuosin dieser Schimpfkanonade ist die Kabarettistin Sissi Perlinger – und dass an dieser Stelle geschimpft wird, hat auch seinen Sinn. Denn natürlich wurde Konrad falsch ausgeliefert, seine einzige Chance, nicht zurück in die Fabrik zu müssen, besteht im Nachweis, dass es sich bei ihm um kein angepasstes – ergo schimpfwortfreies – Musterexemplar von Kind handelt. Also übt seine Freundin mit ihm das richtige Verhalten ein:

    "Die Kitty saß mit dem Konrad am großen Tisch im Wohnzimmer … dann legte er auf."

    Zum Schluss – kein Buch ohne Happyend – flucht und schimpft sich Konrad in die Freiheit, bei Berti Bartolotti und ihren Freuden bleiben zu können. Aber ob das jetzt die richtige Einstimmung auf den Heiligen Abend ist? Dann können wir genausogut mit Harry Rowohlt weitermachen:

    "Eines in der "Grünen Wolke" ist neu … die "Grüne Wolke!"

    Da wären wir also in der Welt von 1938, genauer im Internat Summerhill, das den Besuch des Millionärs Pyecraft erhält – Kapitän und Abenteuerreisender im Besitz eines veritablen Luftschiffs. Weil ein paar der Kinder samt Internatsleiter Neill damit einen Höhenrekord brechen wollen, als sich eine grüne Giftwolke über der gesamten Erde ausbreitet, ergibt sich die klassische Robinson-Crusoe-Lage: Die Zivilisation ist perdü, alle Menschen sind versteinert, jetzt muss man sich selbst helfen. Besonders schwierig wird das in Situationen, in denen die acht Kinder auf sich alleine gestellt handeln müssen, weil die beiden Erwachsenen zeitweise abgängig sind. So auch auf folgender Seefahrt:

    "Die Flut kam und machte das Schiff wieder flott … abends gingen sie in Barcelona vor Anker."

    Das ist, zugegeben, keine der besonders brutalen und blutrünstigen Szenen des Buches, in dem sämtliche Trivialmythen der 30er-Jahre geplündert werden, vom Gangsterkrieg in Chikago bis zum Tarzan-Dschungelabenteuer. Auf dem Papier bekommt die permanente Abfolge von Sensationen leicht etwas Ermüdendes, doch wenn Harry Rowohlt eine Geschichte vorträgt, hört man immer gerne zu, schafft er es doch, für erwachsene Zuhörer die Ironie zu betonen, für kindliche die Spannung. Zudem atmet der Text das Klima der unmittelbaren Vorkriegszeit in Europa, ist also für aufmerksame Zuhörer historisch aufschlussreich, und – notabene – eines der seltenen Kinderbücher ohne Happyend. Das freilich kann unser letzter Klassiker in Hörbuchform auch für sich in Anspruch nehmen:

    "Der Hirbel schrie noch immer … warnen müssen vor ihm."

    Diese Produktion unterscheidet sich in mehrfache Hinsicht von den vorangegangenen: Erstens liest hier der Autor Peter Härtling selbst – und das auf eine getragene, langsame Weise, wie es im Takt der schnellen Mediengesellschaft nun noch selten vorkommt. Zweitens ist die Geschichte über das behinderte, verlassene und verstoßene Heimkind "Hirbel" von 1973 ein zutiefst trauriges Buch:

    "Etwas ist in dem Kind, was gut ist."

    Dieses Gute, ein unnachahmliches Talent zum Singen, hebt den Hirbel aus der Masse der Übersehenen und Verlorenen hinaus, und einmal flackert sogar eine Erlösungshoffnung auf:

    "Hirbel kämpfte eifrig um die Aufnahme in die Kinderschar des Doktors."

    Doch auch diese durch verzweifelte Täuschung erschlichene Hoffnung bleibt vergeblich: Hirbel verschwindet schließlich im anonymen Krankenhaussystem. Dass dieses Buch seit über 30 Jahren zum Dauerseller der modernen Kinderliteratur geworden ist, beweist, wie wichtig solche Themen für Kinder mit ihren großen, mitfühlenden Herzen sind. Welcher Tag wäre besser dafür geeignet, ein paar Minuten lang aller Hirbels dieser Welt zu gedenken als der heutige? Denn nicht alle Literatur setzt auf Spaß und Spiel.

    BESPROCHENE UND VERWENDETE CDS

    Peter Härtling: "Das war der Hirbel"
    Gelesen vom Autor (ungekürzt)
    2 CD Beltz & Gelberg 2005

    James Krüss: "In Tante Julies Haus"
    Hörspiel mit Lina Carstens, Gustl Bayrhammer
    2 CD Terzio 2005

    Tilde Michels: "Kleiner König Kalle Wirsch"
    Gelesen von Wolfgang Völz
    3 CD Hörcompany 2005
    Alexander Sutherland Neill: "Die grüne Wolke"
    Gelesen von Harry Rowohlt (ungekürzt)
    4 CD Kein & Aber Records 2005

    Christine Nöstlinger: "Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse"
    Gelesen von Sissi Perlinger (gekürzt)
    2 CD Hörverlag 2005