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Kindererziehung und Pflanzenkultivierung

Sein Name steht heute vor allem für die Kleingartenkultur in Deutschland, aber Daniel Gottlob Moritz Schreber war noch mehr: ein Mediziner, der das Turnen und die körperliche Betätigung in der Natur als bestes Heilmittel pries, und Autor vieler Erziehungsbücher, die eine besonders strenge Pädagogik vertraten. Vor 200 Jahren, am 15. Oktober 1808, wurde er geboren.

Von Andrea Westhoff | 15.10.2008
    Erfunden aber hat Schreber die Kleingartenkultur nicht. Erst 1864, drei Jahre nach seinem Tod, wurde der erste "Schreberverein" gegründet, und hier ging es zunächst mehr um innerstädtische Sport- und Spielplätze für Kinder. Das allerdings war durchaus in Schrebers Sinn: Er hatte immer die körperliche und seelische Verwahrlosung der Stadtjugend als Folge der Industrialisierung beklagt und Armengärten nach englischem Vorbild gefordert.

    Moritz Schreber, geboren am 15. Oktober 1808 in Leipzig, war selbst ein eher kränklicher Junge. Später als Arzt bemühte er sich, insbesondere die Kindergesundheit zu fördern, doch die probaten Mittel dazu fand er weniger in der klassischen Medizin. Vielmehr setzte er auf körperliche Ertüchtigung und auf Erziehung. Er gründete den ersten Turnverein Leipzigs, und eines seiner zahlreichen Erziehungsbücher heißt "Kallipädie", wörtlich: "die Kunst, schöne Kinder zu haben". Der vollständige Titel erklärt im Grunde schon die Prinzipien seiner Pädagogik :

    "Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel."

    Der Kultursoziologe Peter Warnecke sieht es so:

    "Schreber hatte so die Vorstellung, dass man Kinder wie Pflanzen aufziehen kann. Man müsste sie stützen, es gibt also auch schreckliche Bücher mit schrecklichen Abbildungen, wo er so Stützapparate gebaut hatte, für die Kinder, damit sie eine ordentliche Haltung bekommen, also Kinder wie Pflanzen, die man in Holzgerüste pressen muss.

    Es entsprach der Auffassung seiner Zeit, dass man Menschen durch Erziehung beliebig "formen" könne. Aber als Orthopäde ging Moritz Schreber noch einen Schritt weiter und konstruierte diverse Apparaturen für diesen Zweck: orthopädische Kinnbänder, um Fehlbissen vorzubeugen, spezielle Schulterriemen die das Kind im Bett in Rückenlage hielten und "Geradehalter", deren Funktionsweise er folgendermaßen erläuterte:

    "Eine Stange drückt gegen das Schlüsselbein und erzwingt eine gerade Sitzhaltung."

    Über eine hängende Vorrichtung zur Einübung des aufrechten Ganges schrieb er:

    "Mit einer Schulter-Rücken-Bandage wird die korrekte Aufrichtung erreicht – durch diesen Apparat kann eine maximale Aufrichtung über den Zug der Kopfklammern eingeübt werden.""

    Moritz Schreber betrieb seit 1847 in Leipzig eine private "orthopädische Heilanstalt" speziell für Kinder. In dem Haus befanden sich aber auch die Wohnräume seiner Familie – mit eigener Turnhalle und Garten. Für Schrebers eigene Kinder dürften seine Vorstellungen vom gesunden Leben eher nicht so idyllisch gewesen sein, denn seine Apparaturen und strengen Erziehungsmethoden wendete er zuerst und vor allem auch bei ihnen an. Von den damals üblichen körperlichen Züchtigungen hielt Schreber zwar nichts, aber er riet, den kindlichen Willen von Anfang an zu brechen, sämtliche sexuellen Gefühle rigoros zu unterbinden – notfalls wiederum mit speziellen "Apparaturen" – und alle Verfehlungen konsequent mit Liebesentzug zu bestrafen.

    "Die am Kind haftenden Folgen der Mängel und Fehler in der Erziehung sind als krankhafte Zustände zu betrachten."

    Diese Weisheit aus Schrebers Erziehungslehre scheint sich in fataler Weise gegen ihn gewendet zu haben: Drei seiner fünf Kinder wurden psychisch schwer krank.
    Am bekanntesten ist das Schicksal seines Sohnes Daniel Paul Schreber geworden: ein zunächst erfolgreicher Jurist, der aber schon früh an schwerer Paranoia litt und den größten Teil seines Leben in Irrenanstalten verbrachte. In seiner Autobiografie "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" beschrieb er minutiös seine Wahnvorstellungen. Diese Schilderungen benutzte Sigmund Freud für eine seiner exemplarischen Fallgeschichten, anhand derer er die psychoanalytische Theorie erklärte.

    So muss Daniel Gottlob Moritz Schreber als eine ambivalente Persönlichkeit betrachtet werden: nicht nur als Namenspatron für das kleine Glück im Großstadtdschungel, sondern auch als Vertreter einer "deformierenden" Erziehungslehre.