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Kinderprodukte machen Kinder dick

Ungefähr jedes sechste Kind ist zu dick. Die Verantwortung nicht allein auf die Eltern schieben, fordert Foodwatch und lenkt den Fokus auf die Ernährungsindustrie. Bei den Kinderprodukten handele es sich zum überwiegenden Teil um Junk Food - selbst bei den Bioprodukten.

Anne Markwardt im Gespräch mit Jule Reimer | 13.03.2012
    Jule Reimer: Seit den 80er-Jahren haben Deutschlands Kinder Speck zugelegt, die Zahl der Übergewichtigen soll sich verdoppelt haben – ungefähr jedes sechste Kind ist demnach zu dick. Zu wenig Bewegung gilt als eine Ursache, die Verbraucherorganisation Foodwatch findet jedoch noch einen anderen Schuldigen, nämlich die Ernährungsindustrie. Sie trage eine erhebliche Mitverantwortung an der gewachsenen Zahl übergewichtiger Kinder.

    Vor dieser Sendung fragte ich Anne Markwardt von Foodwatch, wie die Organisation zu dieser Behauptung überhaupt kommt?

    Anne Markwardt: Wir haben uns einfach mal angeguckt, welche Lebensmittel bietet die Lebensmittelindustrie Kindern eigentlich an, welche vermarktet sie direkt an Kinder, bezeichnet als Kinderprodukte, und prägt damit ja auch ganz gezielt die Ernährungsgewohnheiten von Kindern, und bei diesen Produkten handelte es sich zu drei Viertel um sogenanntes Junk Food, also um teilweise hoch verarbeitete, kalorienreiche Produkte, Süßwaren, Chips, Fast Food und eben auch jede Menge Produkte, die so erst mal gar nicht als Süßwaren zu erkennen sind, sondern gesund daher kommen wie zum Beispiel 100 Prozent des Sortiments der Kellogg's Kinderfrühstücksflocken.

    Reimer: Aber es sind doch die Eltern, die einkaufen gehen und die die Lebensmittel letztendlich auswählen. Wieso können Sie dann die Industrie verantwortlich machen?

    Markwardt: Natürlich haben die Eltern eine Verantwortung für das, was ihre Kinder essen, aber das heißt eben nicht, dass die Lebensmittelindustrie keine Verantwortung hat. Und es ist ja nicht einfach nur irgendwie ein Angebot, sondern diese Lebensmittel, diese Produkte werden mit sehr ausgeklügelten, teilweise sehr perfiden Methoden an die Kinder herangetragen, also ihnen tatsächlich angediehen, die Kinder kaufen ja teilweise auch von ihrem Taschengeld selbst solche Produkte. Ich glaube, wir müssen aufhören, allein den Eltern den Schwarzen Peter für Fehlernährung zuzuschieben, denn vielfach versucht die Industrie ja, an den Eltern vorbei die Kinder zu prägen. Wir wissen das aus Werbekonzepten, aus Marketingkonzepten.

    Reimer: Das heißt, Sie werfen der Industrie auch irreführende Werbung vor? Ist das überhaupt möglich, mit irreführenden Aussagen zu werben?

    Markwardt: Das gehört auf jeden Fall dazu. Wenn wir uns die ganzen Frühstücksflocken angucken bei Kellogg's, bei Nestlé ist das auch der Fall, auch im Biosegment und bei den Handelsunternehmen, da wird teilweise mit gutem Getreide, mit Vollkorn geworben, bei anderen Produkten mit der Extraportion Milch, wir kennen das alle mit den Vitaminen bei "Nimm zwei", oder auch Vitamine in der Wurst. Hier wird Eltern eben auch vorgegaukelt, dass es sich um gesunde, ausgewogene Produkte handelt. Das sind sie in den allermeisten Fällen aber einfach nicht.

    Das sind alles Möglichkeiten für die Industrie, übrigens tatsächlich ganz legal, noch innerhalb des gesetzlichen Rahmens, Eltern zu täuschen und Kinder ganz gezielt auch mit manipulativer Werbung anzusprechen, denn die durchschauen ja diese Strategie mit den Sportstars, mit den Comicstars letztendlich nicht. Da hat das Wasser, das ich meinem Kind vielleicht geben will als kalorienarmes, auch schmackhaftes Getränk, dann eben viel schlechtere Chancen gegen so eine Capri-Sonne, die mit Piraten und Spiel und Gewinnspiel und was auch immer daherkommt.

    Reimer: Die Industrie engagiert sich auf der anderen Seite auch an Schulen, das ist doch dann auch wiederum lobenswert.

    Markwardt: Die Industrie versucht mit aller Macht nicht zur Verantwortung gezogen zu werden für diese Produkte, die sie herstellt, und eine Strategie ist, sich besonders verantwortungsvoll und engagiert zu geben, indem man Sportveranstaltungen sponsert, oder eben Bildungsmaterialien verteilt an den Schulen. Jetzt muss man ganz klar sagen, das ist nicht die Verantwortung der Lebensmittelindustrie. Den Kindern beizubringen, wie man sich gesund ernährt, für genügend Bewegung zu sorgen, das ist die Verantwortung der Eltern und auch der Schulen, aber nicht der Industrie. Das sind Ablenkungsmanöver, mit denen sie eben auch – wir wissen das auch aus anderen Ländern – immer wieder politische Regulierung verhindert hat, weil sie damit ja im Grunde sagen kann, wir engagieren uns schon, wir brauchen keine anderen Regeln. Und man muss auch dazu sagen, dass die Unternehmen diese Materialien in Schulen oder bei Sportveranstaltungen ja noch als zusätzliche Werbefläche benutzen. Es werden ja Kinder in einem Umfeld angesprochen, das auch noch besonders glaubwürdig ist, da vermittelt das dann der Lehrer, oder das sind dann eben die positiven Gemeinschaftserlebnisse beim Sport, wo die Werbung auftaucht.

    Reimer: Sie hatten Bioprodukte erwähnt. Sieht es da besser aus?

    Markwardt: Bei den Bioprodukten sieht es leider nur geringfügig besser aus. Während wir insgesamt etwa 73 Prozent Junk Food haben, sind es bei den Biolebensmitteln 58 Prozent. Auch in den Biosupermärkten gibt es in der Quengelzone an der Kasse Süßwaren, auch Biofrühstücksflocken werben mit Comicfiguren, enthalten jede Menge Zucker. Also es ist nicht so, dass das Biosiegel ein Garant für ein gutes, gesundes Kinderprodukt ist – leider.

    Reimer: Wollen Sie jetzt hübsche bunte Müsliverpackungen mit Comicfiguren verboten sehen?

    Markwardt: Eine Maßnahme, die angebracht ist – und da herrscht auch internationale Einigkeit -, ist, tatsächlich das Marketing für ungesunde Produkte einzuschränken. Kinder dürfen einfach mit Marketing, das direkt an sie gerichtet ist, für solche Produkte nicht mehr angesprochen werden – in der Tat.

    Reimer: Auch die Lebensmittelindustrie trägt Verantwortung für die wachsende Zahl übergewichtiger Kinder. Das Gespräch mit Anne Markwardt von Foodwatch haben wir aufgezeichnet.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.