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Kinderschutz-Konferenz
Jesuit: Transformationsprozess der Kirche wird noch Jahre andauern

Der Schulleiter und Jesuit Klaus Mertes ist von dem römischen Treffen und von der Rede des Papstes enttäuscht. Franziskus habe Missbrauch als das Böse, das von außen komme, dargestellt. Das sei eine "totalitäre Strategie". Notwendige Veränderungen am Inneren der Kirche würden nicht angegangen.

Klaus Mertes im Gespräch mit Susanne Fritz |
Pater Klaus Mertes
Der Jesuitenpater Klaus Mertes ist enttäuscht von den Ergebnissen der Kinderschutz-Konferenz (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
Susanne Fritz: In Rom ist gestern das Spitzentreffen der katholischen Bischöfe zum Kinderschutz zu Ende gegangen. Das wichtigste Thema: der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Mit dem Treffen wollte der Papst das Bewusstsein der Bischöfe für das Problem des sexuellen Missbrauchs schärfen. Sein Ziel war es, die Bischöfe mit klaren Handlungsanleitungen in ihre Heimatländer zurückkehren zu lassen. Am Telefon spreche ich jetzt mit dem Jesuiten Klaus Mertes. Er machte 2010 - damals Direktor des Berliner Canisius-Kollegs - Missbrauchsfälle öffentlich und hat seitdem eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung von Missbrauch übernommen. Heute leitet er das Jesuiten-Kolleg Sankt Blasien. Guten Morgen, Herr Mertes.
Klaus Mertes: Guten Morgen!
Fritz: Viele Missbrauchsopfer und viele Gläubige sind wütend über den Ausgang des Treffens in Rom. Neun Jahre, nachdem Sie, Herr Mertes Missbrauchsfälle öffentlich gemacht haben, gibt es immer noch keine konkreten, rechtsverbindlichen Maßnahmen. Sind sie enttäuscht?
Mertes: Ja, meine Erwartungen waren nicht so hoch. Ich bin aber trotzdem enttäuscht. Weil das wenige, was ich für möglich gehalten hätte, nicht erreicht worden ist.
Fritz: Was ist denn das wenige, was Sie erwartet haben?
Mertes: Was zum Beispiel Kardinal Marx - und worüber ich eigentlich auch erfreut bin - in Rom eingebracht hat: nämlich so etwas wie eine unabhängige Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit für das Versagen von Klerikern und eben auch Amtsversagen von Bischöfen.
"Tief erschüttert von der Rede des Papstes"
Fritz: Also eine unabhängige Gerichtsbarkeit innerhalb der Kirche. Wie soll die denn aussehen, auch besetzt mit katholischen Würdenträgern?
Mertes: Nein, eben nicht. Und das ist ja auch in Rom angesprochen worden. Sie sollte eben nicht mit Klerikern besetzt sein, sondern mit Laien und die sollten zuständig sein für die kirchliche Gerichtsbarkeit, nicht etwa die staatliche Gerichtsbarkeit ersetzen. Das wäre natürlich ein Missverständnis.
Fritz: Jetzt haben in Rom die Bischöfe zusammengesessen mit dem Papst. Die Missbrauchsopfer haben kritisiert, dass in Rom die Verantwortlichen von Missbrauch, möglicherweise auch Täter, über sich selber zu Gericht sitzen. Wie glaubwürdig ist so ein Gipfel?
Mertes: Ja deswegen muss ja auf so einem Gipfel eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt werden, weil in einem monarchischen System eine strafrechtliche und disziplinarische Aufarbeitung gar nicht möglich ist und gar nicht funktionieren kann.
Fritz: Was muss darüber hinaus denn passieren? Unabhängige Gerichtsbarkeit, reicht das?
Mertes: Nein, das reicht nicht. Ich bin auch, muss ich sagen, letztlich ganz tief, ja, erschüttert über die gestrige Rede des Papstes. Sie macht ein ganz tiefes, ich würde sagen, ein geistliches Problem deutlich. Ein Kulturproblem. Wenn ich den Duktus der Rede, bei allen Aspekten, die man nennen könnte, dann zusammenfasse, würde ich sagen: Der Täter ist das absolute Böse. Das muss aus der Kirche rausgerissen werden, da muss man Prävention ganz engmaschig machen, damit in Zukunft das Böse nicht mehr in die Kirche eindringt. Und ich meine, an dieser Strategie, die schon Johannes Paul II., die Benedikt XVI. hatte, die ganz viele Kardinäle und Erzbischöfe im Vatikan und in dieser Weltkirche haben, ist mehr oder weniger alles falsch. Weil nämlich da der Eindruck entsteht, das Böse kommt von außen.
Zweitens ist es die Täterfixierung und man geht eben weg von dem Problem des Vertuschens und das ist das Problem der Bischöfe. Und nicht der Täter. Und drittens steckt dahinter eben dann die Vorstellung von der reinen und sauberen Kirche. Ich halte das einfach für eine totalitäre Strategie, die hat im letzten Jahrhundert gesellschaftlich schon genug Unheil angerichtet und wird kirchlich auch viel Unheil anrichten. Das ist alles - und das ist das Schreckliche - vielleicht sogar noch subjektiv gut gemeint, aber es geht in die falsche Richtung.
Das Problem nicht erkannt
Fritz: Das heißt also, die Bischöfe und der Papst haben das Übel nicht an der Wurzel gepackt auf der Konferenz.
Mertes: Ich würde sogar weitergehen: Es gibt ja Bischöfe, die es an der Wurzel erkennen. Aber das Problem ist, ich erkenne an der Rede, dass sie das Übel an der Wurzel noch nicht erkannt haben. Da ist das Problem. Sie haben eben eine andere Definition des Problems als die, die ich für die richtige halte: nämlich, dass es ein Problem ist, das aus dem Inneren der Kirche kommt und mit systemischen und strukturellen und kulturellen Aspekten im Leben der Weltkirche hat.
Fritz: Werden Sie mal konkret. Was ist denn das Problem im System der katholischen Kirche?
Mertes: Ja, erstmal die Vorstellung, die Kirche ist etwas Reines, das Böse kommt von außen, man muss es rausreißen. Und dann ist die Kirche wieder rein. Und damit geht der Blick nach außen, in eine Verteidigungsposition gegen dem Bösen und man erkennt nicht, dass es von innen her kommt. Zweitens dieses Von-innen-her-kommen hat mit Strukturen, mit systemischen Dingen zu tun. Das hat ja die MHG-Studie sehr deutlich gemacht. Das sind Probleme mit der katholischen Sexualmoral und ihrem grundlegend problematischen Verhältnis zur Sexualität, insbesondere auch zur Homosexualität. Das ist die Frage nach der männerbündischen Struktur des Klerus, in der die Weitergabe der geistlichen Macht an Männlichkeit gebunden ist. Das sind die Schlüsselfragen, um die es geht und aus denen entsteht das Problem. Nicht von außen.
Neue Reformation?
Fritz: Machtstrukturen haben Sie genannt, das Verhältnis zur Sexualität in der katholischen Kirche, Amtsverständnis womöglich auch. Das sind natürlich alles Themen, die nicht auf der Konferenz zur Sprache gekommen sind. Braucht die katholische Kirche ein neues Zeitalter der Reformation?
Mertes: Ich glaube, so sagt mir meine Intuition, wir befinden uns in einer Art Zeitalter der Reformation. In einem ganz tiefen Umbruchsprozess, in dem die ganze überkommende Struktur der katholischen Kirche, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt gehabt hat in der Zuspitzung auf das Papstamt, als die Lichtgestalt, die oben ist, in eine ganz tiefe Krise hineinkommt und ich glaube, dass der Prozess, in dem wir stehen, ein ganz tiefer Transformationsprozess ist, der über Jahre noch dauern wird. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht schon konkrete Schritte gibt, die man jetzt machen kann.
"Wie wird ein Bischof eigentlich Bischof?"
Fritz: Welche wären das zum Beispiel?
Mertes: Ja das wäre eben zum Beispiel, die Einführung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, Disziplinargerichtsbarkeit in der Kirche. Da sind ja auch einige Vorschläge gemacht worden in Rom. Die sind allerdings sozusagen, nicht in der nötigen Wucht getan. Sie werden eher angekündigt als vollzogen. Das Zweite, was man eben auch machen könnte, wäre eben auch ansetzen, das Grundproblem des Verhältnis der Kirche zur Sexualität anzugehen, indem man die kirchliche Lehre zur Sexualität und insbesondere zur Homosexualität, die in allen Berichten als ein Schlüsselthema benannt wird, endlich mal angeht. Das sind Dinge, mit denen man auf jeden Fall jetzt schon anfangen könnte.
Und das Dritte wäre, ganz wichtig, erstmal die Frage. Wie wird denn überhaupt ein Bischof Bischof. Wie wird der denn gewählt, was sind denn das für Verfahren? Welche Möglichkeiten der Partizipation haben Gemeinden vor Ort im Verhältnis zu ihren Pfarrern und Pfarrerbesetzungen? Das sind alles Dinge, die man anfangen kann, übrigens auch auf der nationalen Ebene, ohne damit eine Nationalkirche propagieren zu wollen, wie es die Reformverweigerer dann immer unterstellen.
"Neue Rechtskultur"
Fritz: Also Sie haben das Amtsverständnis angesprochen. Braucht die katholische Kirche mehr Demokratie, in der die Stimmen der Laien, auch der Frauen, ein größeres Gewicht haben?
Mertes: Demokratie ja, aber ich ziehe den Begriff des Rechtsstaates vor, also der Rechtsstaatlichkeit. Sie braucht eine andere Rechtskultur und in diesem Kontext dieser neuen Rechtskultur durchaus auch mehr Mitbestimmungsrechte. Natürlich kann sich das nicht beziehen auf die Lehre. Also man kann nicht demokratisch darüber abstimmen, ob Jesus Gottes Sohn war oder nicht. Darum geht es nicht. Aber es geht um die Fragen, die Machtverteilung in der Kirche betreffen. Da finde ich, muss eine Rechtskultur her und im Rahmen dieser Rechtskultur dann auch Partizipationsrechte im Sinne der Demokratie in einem ganz allgemeinen Sinne.
Fritz: Es wurde auch immer wieder das autoritäre System der Kirche kritisiert. Was muss sich in den Köpfen der katholischen Gläubigen ändern, um Missbrauch, Machtmissbrauch auch, in der Kirche zu verhindern?
Mertes: Es ändert sich ja ganz viel, zur Zeit, durch die Krise. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Hierarchie führt dazu, dass sich in den Köpfen immer mehr Menschen verabschieden von der Vorstellung, dass das Heil der Kirche daran hängt, dass an der Spitze Lichtgestalten stehen.
Fritz: Und diese Lichtgestalten, ja, wie kann man anders damit umgehen? Wie stellen Sie sich das in der Zukunft vor?
Mertes: Ja, eine unabhängige Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit setzt ja voraus, dass eben auch Kleriker und insbesondere auch Bischöfe - ja sogar auch Päpste - sich einer Rechtsordnung unterstellen müssen, weil davon auszugehen ist, dass eben auch sie fehlbare Menschen sind und deswegen eben auch nicht nur Fehler machen, sondern vielleicht eben auch - wie es ja getan ist - in den schlimmsten Fällen auch aktiv strafvereitelnd tätig sind, um Täter vor der staatlichen Gerichtsbarkeit zu schützen. Da muss dann auch eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit her, die dann sagen kann, so du bist jetzt eben nicht mehr Bischof, Punkt. Und der Gedanke einer Verwaltungsgerichtsbarkeit setzt ja voraus, den Gedanken einer Fehlbarkeit auch auf der Ebene der Hierarchie. Und das ist es, was sich mentalitätsmäßig ändern muss.
"Päpstliches Geheimnis öffnen"
Fritz: Wir haben jetzt viel über Prävention gesprochen. Ein anderes Thema ist Aufarbeitung und Aufklärung. Die katholische Kirche hat bislang immer noch nicht umfassend ihre Archive geöffnet. Auch für die Missbrauchsstudie der katholischen Bischofskonferenz, die Sie vorhin angesprochen hatten, hatten die Wissenschaftler nur teilweise Einsicht in die Akten. Inwiefern kann man das noch so hinnehmen?
Mertes: Gut, hier sind ja die Persönlichkeitsschutzrechte der Personen, übrigens auch von Opfern, zu wahren. Das ist das eine. Ich glaube aber schon, dass es Wege gegeben hätte, eben die Akten zu öffnen. Und sie eben nicht zu anonymisieren für eine wissenschaftliche Studie. Ganz oben auf der Forderungsliste, dass das päpstliche Geheimnis geöffnet wird, das heißt auch, dass die päpstlichen und die vatikanischen Archive endlich geöffnet werden. Das ist auch möglich. Und es ist auch möglich, in einer Weise, dass die Persönlichkeitsschutzrechte der Betroffenen zugleich gewahrt werden. Das hängt daran, an der Frage, wer die Verantwortung für die Veröffentlichung der Ergebnisse übernimmt und dann auch die Verantwortung für die Namen, um die es geht.
Fritz Leider ist das bisher aber nicht erfolgt. Muss denn, wenn sich wirklich da jetzt nichts bewegt, die internationale Staatengemeinschaft einschreiten?
Mertes: Ich weiß es nicht ... ich glaube, dass die internationale Staatengemeinschaft hier ja, wenn sie tätig werden kann, muss sie das ja tun aufgrund eines Anfangverdachtes, den muss sie dann formulieren. Ich bin der Meinung, dass unabhängig davon die Kirche selbst dafür sorgen muss, dass es zu einer unabhängigen Untersuchung kommt, die auch tatsächlich diesen Namen verdient.
"Strategische Geduld macht Hoffnung"
Fritz: Die katholische Kirche befindet sich weltweit in einer tiefen Krisen. Wie optimistisch sind Sie, Herr Mertes, dass die Kirche da noch mal rauskommt?
Mertes: Wenn man kirchlich ist, wie ich es bin, und mit Leib und Seele katholisch, dann weiß man, Veränderungsprozesse in der katholischen Kirche - 1,2 Milliarden Menschen weltweit, ganz viele verschiedene Kulturen - dauern richtig lange. Und deswegen verbindet sich bei mir das Gefühl der Wut über das, was alles unterlassen wird und nicht getan wird, mit der Entschiedenheit zu strategischer Geduld und in diesem Sinne habe ich große Hoffnung.
Fritz: Vielen Dank für das Gespräch. Das war Klaus Mertes. Jesuitenpater und Direktor des Jesuiten-Kollegs Sankt Blasien. Er hatte 2010 Missbrauchsfälle am Berliner Canisius Kolleg öffentlich gemacht!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.