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Kindersoldaten in Uganda

Der polnische Journalist Wojciech Jagielski reiste zu den Kindersoldaten in Norduganda und sammelte Interviews, die er dann in drei Hauptfiguren bündelte. Dabei zeigt sich Jagielski als sensibler Reporter, der sich dem Drama der Kinderseele behutsam nähert, ohne jedoch den Leser zu schonen.

Von Martin Zähringer | 01.07.2010
    Als der polnische Auslandskorrespondent Wojciech Jagielski im Jahr 2006 über die Präsidentschaftswahlen in Uganda berichten soll, nutzt er die Gelegenheit für eine besondere Recherche. Jagielski will wissen, was es mit den Kindersoldaten in Norduganda und der LRA, also der berüchtigten Lord's Resistance Army auf sich hat. Dazu fährt er für zwei Monate in die Provinzhauptstadt Gulu. Dort ziehen tausende Kinder der Umgebung nachts in die Innenstadt, um dem gewaltsamen Zugriff durch die Partisanen zu entgehen. Diese Partisanen töten die Dörfler im Acholi-Land und entführen ihre Kinder, um sie zu Sklaven und Soldaten in der LRA zu machen. Jagielski will in Gulu ehemalige Kindersoldaten über ihr Schicksal befragen, doch bald bekommt er Skrupel. Vor ihm stehen Minderjährige, entführt im Alter von acht bis 14 Jahren, die man oft schon in der Nacht ihrer Entführung zu einem Mord gezwungen hatte. Manchmal mussten sie ihre eigenen Eltern oder Geschwister töten, und im Busch wurden sie dann jahrelang zu den übelsten Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung aufgehetzt. In Gulu bekommen die amnestierten Rückkehrer eine erste psychologische Betreuung, und durch die Vermittlung der Sozialpsychologin Nora kommt Jagielski in Kontakt mit dem 13 Jahre alten Ex-Partisanen Samuel:

    Immer unwirklicher schien mir das, was Samuel noch vor kurzem gewesen sein sollte. Es fiel mir auch deshalb schwer, mit dem Jungen zu reden, weil es mir weniger darum ging, was er erlebt, gesehen oder getan hatte – ich wollte verstehen, ja fühlen können, wie er damals war.

    Dieses Verstehen wollen ist das Leitmotiv im psychologischen und ersten Teil des Buches. Jagielski zeigt sich als sensibler Reporter, der sich dem Drama der Kinderseele behutsam nähert, ohne jedoch den Leser zu schonen. Die brutalen Details werden in aller Ausführlichkeit geschildert. Im zweiten Teil geht es um die Geschichte der Lord’s Resistance Army, die grenzüberschreitend im Acholi-Land operiert. Irgendwo am Anfang dieser Bewegung steht der Stammeskonflikt zwischen den Acholi, zu denen Joseph Kony gehört, und der Ethnie der Hima des Staatspräsidenten Museveni, und damit rückt der Autor ein zentrales Thema in den Blick: die Frage der Macht. Museveni lässt seit 1986 nicht mehr von ihr ab, und fast ebenso lang bekämpft ihn der selbsternannte Messias Joseph Kony. Doch auch Kony unterliegt dem Bann der Macht. Er wandelt sich vom charismatischen Rebellen zur atavistischen Figur des Tyrannen im Dschungel, zum allmächtigen Herrscher über ein Kinderheer und die wehrlose Zivilbevölkerung des Acholi-Landes. Im dritten Teil seines Buches erforscht Jagielski eine weitere Dimension afrikanischer Macht. Es ist der spirituelle Teil, der Teil der afrikanischen Geister. Joseph Kony verdankt ihnen offensichtlich viel. Ein Zitat aus der Akte der entführten Kinderbraut Nancy:

    "Alle wissen, dass Joseph Kony den Geistern dient und fast immer von einem von ihnen besessen ist. Man weiß jedoch nie, ob sich gerade ein guter oder ein böser Geist in ihm befindet. Wenn ein guter Geist ihn besetzt hielt, war er freundlich, gut gelaunt, scherzte mit uns so, dass man ihn fast hätte lieben können. Es konnte allerdings jederzeit ein ganz anderer, böser Geist in ihn hineinfahren, dann wurde er ein ganz anderer Mensch, bei dessen Anblick man Angst bekam."

    Die Geister sind in der Kultur der Acholi allgegenwärtig. Zumindest vermittelt dies Jagielskis abergläubischer Kollege Jackson vom Provinzradio in Gulu, der ihn auf seinen Recherchereisen begleitet. Der Acholi Jackson hatte sich von Anfang an des polnischen Reporters angenommen und versucht, ihm die afrikanische Sicht der Dinge nahezubringen. Er führt Jagielski auch zu einem Mato Oput, einem Versöhnungsritual, dem sich Täter und Opfer nach einem Gewaltverbrechen unterziehen müssen, um die Ordnung der Geisterwelt wiederherzustellen. Jagielski erkennt hier einen großen Konflikt: Es würde zwar Abertausende solcher Rituale brauchen, um die Geister der von den Partisanen Ermordeten zu besänftigen, doch offensichtlich bedarf man dieser Instanzen der Acholi-Kosmologie. Ein Friedensabkommen auf dieser Ebene verhindert jedoch der Internationale Gerichtshof in Den Haag: Der klagt Kony wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit an und hat einen Haftbefehl erlassen. Diesen Konflikt führt uns Jagielski mit viel Gespür und Respekt für die afrikanischen Realitäten vor Augen, und mit seiner an konkreten Schicksalen orientierten Erzählweise ermöglicht er einen unmittelbaren Zugang zur Tragödie der Kindersoldaten. Erreicht wird diese Unmittelbarkeit durch eine kluge Vermischung von Fakt und Fiktion. Jagielski erklärt seine Methode in einer Vorbemerkung so:

    Dies ist eine wahre Geschichte, so wirklich wie das Städtchen Gulu, in dem sie spielt. Echt sind auch die Hauptfiguren; der von Geistern besessene Joseph Kony, der alte Severino, Kenneth Banya, der König der Acholi, ihre Stammesoberhäupter, die Priester, Soldaten und auch die Kinder, die von den Geistern nachts in grausame und unbarmherzige Partisanen verwandelt werden.
    Die Figuren Nora, Samuel und Jackson wurden für diese Erzählung aus einigen wirklichen Personen zusammengesetzt.


    Wie sie zusammengesetzt sind, erklärte Jagielski bei der Buchpremiere in Berlin. Der Figur des Ex-Partisanen Samuel etwa liegen Aussagen vierzehn befragter Kinder zugrunde. Über weitere Quellen gibt es im Buch keine Informationen. Den üblichen Gepflogenheiten eines journalistischen Sachbuches kommt dieses Werk also nicht nach, auch wenn auf dem Cover steht: "Eine Reportage". Auf meine Frage, ob es sich infolgedessen um eine literarische Reportage handelt, antwortet Jagielski folgendermaßen:

    "Eher nicht, nein, ich würde lieber nicht die Bezeichnung 'Literarische Reportage' verwenden. Denn die Reportage ist eine journalistische Textgattung, wogegen das Adjektiv 'literarisch' eine bestimmte Art des Fiktiven erwarten lässt, das im Journalismus fehl am Platz wäre. Ich möchte mein Buch lieber so bezeichnen, wie es ein polnischer Literaturkritiker tat, nämlich als 'Dokumentarische Erzählung'."

    Wenn man also die bereits zitierte Vorbemerkung aus dem Buch heranzieht, ergibt sich folgende Situation: Gegenstand der dokumentarischen Ebene ist die Uganda-Tragödie. Hier hat der Autor zahlreiche neue Aspekte eingebracht, wenn auch die politische Analyse der Auseinandersetzung zwischen der Zentralregierung in Kampala und Joseph Kony im Acholi-Land weiterhin Fragen offen lässt. Die für dieses Buch zentrale Thematik der Kindersoldaten jedoch kommt umso klarer heraus, und das liegt gerade an Jagielskis Kunstfiguren Samuel, Nora und Jackson. Denn diese führen den Leser an die schwer erträglichen Wahrheiten der ugandischen Tragödie heran. Die Fiktion verknüpft hier also die Fakten zu einer nahegehenden und zugleich informativen dokumentarischen Erzählung. Diese besonders für den geistigen Austausch zwischen Europa und Afrika wichtige und ergiebige Gattung ist derzeit leider in Verruf geraten, weil ihr Großmeister Ryszard Kapuscinski die Ebenen von Fakten und Fiktionen offensichtlich zu freizügig gehandhabt hat. Das darf aber nicht zu dem Schluss führen, dass die dokumentarische Erzählung der polnischen Schule nichts taugt. Im Gegenteil. Wojciech Jagielski zeigt mit seiner Vorbemerkung, wie einfach die Verhältnisse manchmal zu klären sind.

    Wojciech Jagielski: "Wanderer der Nacht. Eine Reportage"
    Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Transit Verlag 2010, 269 Seiten. 18,80 Euro