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Kindesmissbrauch
"Frauen sind in der Lage, Mädchen und Jungen zu missbrauchen"

Beim Thema Kindesmissbrauch stehen Frauen deutlich seltener im Fokus als Männer. Ein verhängnisvoller Fehler, wie der Fall Staufen zeigt. Täterinnen gebe es viel häufiger als angenommen, sagte die Psychologin Julia von Weiler vom Kinderschutzverein Innocence in Danger im Dlf.

Julia von Weiler im Gespräch mit Peter Sawicki | 07.08.2018
    Ein junges Mädchen steht am Ende eines dunklen Flures.
    Kindesmissbrauch: Frauen werden als Täterin oft kategorisch ausgeschlossen. (dpa / Nicolas Armer)
    Peter Sawicki: Vor der Sendung haben wir mit Julia von Weiler gesprochen. Sie ist Psychologin und leitet den Kinderschutzverein Innocence in Danger. Die erste Frage an sie war, ob auch Frauen zu Täterinnen werden können?
    Julia von Weiler: Ja, Frauen sind in der Lage, Mädchen und Jungen zu missbrauchen. Ich hab mir in Vorbereitung für dieses Interview noch mal die Ergebnisse einer Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums angeschaut, der Mikado-Studie, und dort berichten 46,4 Prozent der betroffenen Jungs, von einer Frau missbraucht worden zu sein, und immerhin 10,5 Prozent der betroffenen Mädchen, von einer Frau missbraucht worden zu sein. Das heißt, Frauen als Täterinnen kommen viel häufiger vor, als wir uns alle vorstellen wollen. Und die Tatsache, dass wir das so sehr verleugnen und verdrängen, diese Tatsache schützt am Ende vor allen Dingen die Täterinnen und schwächt die Opfer.
    "Der erste Mythos ist, Frauen sind sexuell nicht aggressiv"
    Sawicki: Wie erklären Sie sich, dass dieser Aspekt offenbar so unterschätzt wird?
    von Weiler: Ich glaube, das hat mit ganz vielen Mythen zu tun. Der erste Mythos ist, Frauen sind sexuell nicht aggressiv. Und Frauen können ja nicht penetrieren. Und jede Frau ist eine potenzielle Mutter, und Mütter tun so was nicht. Wenn wir uns den Bereich Kindesmisshandlung anschauen, also schlagende Gewalt gegen Kinder oder emotionale Vernachlässigung oder psychische Gewalt gegen Kinder, dann sprechen wir sehr selbstverständlich davon, dass das natürlich auch Mütter tun. Aber wenn es um den sexuellen Gewaltaspekt geht, also um den Moment, in dem die sexuelle Handlung benutzt wird, um Macht und Dominanz auszuüben, verdrängen wir so ein bisschen, dass Frauen dazu auch sehr wohl in der Lage sein können.
    Sawicki: Gibt es also eine Art Mutter-Mythos, der in der Öffentlichkeit vorhanden ist?
    von Weiler: Ich würde sagen, ja. Es gibt eine Art Mutter-Mythos und einen Mythos der sexuell nicht aggressiven Frau, und den Mythos der nicht so Macht ausübenden Frau, wie wir sie aber eigentlich natürlich längst sehen.
    "Frauen werden quasi nie angezeigt"
    Sawicki: Kann man statistisch erfassen, wie viele Frauen verurteilte Straftäterinnen sind?
    von Weiler: Ich glaube, dass das gegen null läuft. Mir ist tatsächlich aktuell kein anderer Fall außer der Fall in Staufen bekannt – was nichts heißt. Da würde sich sicher lohnen, einen Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik zu werfen. Wir wissen aber eben, dass Frauen als Täterinnen quasi nie angezeigt werden, was unter anderem damit zu tun hat, dass Betroffene ganz hohe Hürden überwinden müssen, bevor sie sich überhaupt jemandem mitteilen können. Das hat zum einen wiederum mit einem Mythos zu tun: Wenn ein Junge von einer Frau missbraucht wird, dann wird das gesellschaftlich, besonders, wenn das so ein präpubertärer Junge ist, dann wird das irgendwie subsummiert unter, ach, der wurde in die Liebe eingeführt oder irgend so ein Quatsch. Und wenn Mädchen von Frauen missbraucht werden, teilen sie das sehr häufig überhaupt gar niemandem mit, weil sie das Gefühl haben, okay, das glaubt mir jetzt spätestens keiner mehr.
    Und wir als Gesellschaft müssen anfangen, sehr selbstverständlich auch über dieses Thema zu sprechen, um die Türen für die Betroffenen aufzumachen, damit sie uns das mitteilen können. Wenn ich als betroffenes Mädchen oder Junge das Gefühl habe, wenn ich das jetzt erzähle, dann guckt die mich an und fragt mich, was ich mir denn sonst noch für Märchen ausgedacht habe, dann werde ich das natürlich nicht berichten. Wenn ich aber zum Beispiel in Präventionsworkshops oder in Aufklärungsworkshops sehr selbstverständlich immer höre, dass die Menschen von Männern und Frauen als Tätern und Täterinnen sprechen, die sexuelle Handlungen an Kindern vornehmen, dann entwickelt sich vielleicht so eine Art von Selbstverständnis, das es mir ermöglicht, mich dann auch jemandem mitzuteilen.
    "Lernen, gut hinzuhören, wenn sich Kinder an uns wenden"
    Sawicki: Wie schwer ist es tatsächlich dann, dieses offensichtliche Tabuthema jetzt wirklich aufzubrechen und sozusagen auch potenzielle Straftäterinnen von außen besser zu erkennen?
    von Weiler: Wichtig ist, dass wir uns selbst in die Lage versetzen, das glauben zu können. Das Gemeine ist ja, dass sexuelle Gewalt an Kindern erschüttert Urvertrauen in Menschen. Und jetzt ist eben das Urvertrauen in den Mythos Mutter erschüttert worden, und damit müssen wir jetzt klar kommen. Was wir aber gern tun, wenn unser Vertrauen erschüttert wurde, dann sagen wir, ach, das war jetzt irgendwie so ein Ausreißer, das war so ein Einzelfall, ach Quatsch, also nicht in meiner Nachbarschaft, nicht in meiner Straße, nicht in meiner Schule. Das hilft nur überhaupt nichts. Wir wissen, sexueller Missbrauch an Kindern findet täglich statt in Deutschland. Wir wissen, Männer und Frauen missbrauchen Kinder täglich in Deutschland. Und nur, weil uns das so schwer ist, hören die damit nicht auf. Das bedeutet, wir müssen uns in die Lage versetzen, diese Gedanken zu denken. Und wir müssen ansprechbar werden für Kinder in Not, und wir müssen lernen, gut hinzuhören, wenn sich Kinder an uns wenden. Und ganz besonders wichtig ist aber dann, dass wir wissen, an wen wir uns wenden können, wenn wir vermuten, ein Kind wird missbraucht.
    Frauen als Täterinnen nicht kategorisch ausschließen
    Sawicki: Wie kann das in der Praxis aussehen? Wie müsste man da beispielsweise bei Ermittlungen, wenn es Verdachtsfälle gibt, vielleicht anders vorgehen?
    von Weiler: Man darf die Frau einfach nicht von vornherein ausschließen als Täterin oder Mittäterin.
    Sawicki: Also weibliche Vertrauenspersonen im Umfeld eines Kindes potenziell.
    von Weiler: Genau, darf man nicht grundsätzlich ausschließen als eine Täterin oder Mittäterin. Ich war im Mai zu Besuch im Canadian Center for Child Protection, die dort eine große Veranstaltung gemacht haben über drei Tage mit über 600 Strafverfolgern und Sozialarbeitern. Und dort hat ein Strafverfolger ganz eindrücklich erzählt von Fällen, in denen Frauen die Täterinnen waren. Und er hat gesagt, und jedes Mal aufs Neue waren wir überrascht, obwohl wir es inzwischen doch eigentlich hätten besser wissen müssen. Das bedeutet also, wenn ich vermute, ein Kind wird missbraucht, dann muss ich mir überlegen, wer könnte alles in Frage kommen als Täter oder auch Täterin. Und dann muss ich sehr offen sein in meinen Überlegungen. Ich darf natürlich nicht rumrennen und irgendwie wild irgendwelche Leute verdächtigen und sagen, jetzt sind es bestimmt immer die Mütter die ganze Zeit. Das geht auch nicht. Aber ich darf sie eben auch genauso wenig kategorisch von vornherein ausschließen.
    Blinde Flecken schützen Täter und Täterinnen
    Sawicki: Und wenn wir uns jetzt auf den Fall Staufen noch mal beziehen und die Mutter in dem Fall des Kindes, des missbrauchten, hat ja die längste Strafe erhalten, zwölfeinhalb Jahre. Glauben Sie, dass das jetzt ein Umdenken bewirken kann?
    von Weiler: Ich würde das hoffen. Ich glaube, dass der Fall in Staufen so viele grauenvolle Details in sich birgt, und zwar sowohl grauenvolle Details an Tathergang, an Missbrauchshandlungen, die an diesem Jungen vollzogen worden sind. Das ist das eine Grauen. Das andere Grauen ist das behördliche Versagen an so vielen Stellen, dass einem wirklich ganz schwindelig wird. Und meine Befürchtung ist, dass man das wirklich als so eine Besonderheit abtut und sagt, ach nein, das kommt wirklich so selten vor, da müssen wir uns jetzt nicht Sorgen machen, dass das auch in Brandenburg oder in Mecklenburg-Vorpommern oder in Niedersachsen oder in Nordrhein-Westfalen stattfinden könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Ich hoffe sehr, dass wir diesen Horror nehmen und daraus eine Lehre ziehen, nämlich die, dass blinde Flecken am Ende immer nur Täter und Täterinnen schützen und die Opfer schwächen. Das bedeutet also, wir alle als Gesellschaft, aber vor allen Dingen natürlich die Fachleute, die mit solchen Fällen betraut sind, müssen diese blinden Flecken lüften und müssen lernen, ganz genau hinzuschauen.
    Fachleute müssen umdenken
    Sawicki: Das wollte ich gerade noch mal fragen. Sind dann Fachleute in dem Fall am meisten gefordert, da umzudenken?
    von Weiler: Absolut. Ich kann von einer Nachbarin oder einer Lehrerin oder einem Lehrer nicht erwarten, dass die alle Eventualitäten in Betracht ziehen. Das wäre wirklich zu viel verlangt. Wenn sich eine solche Person dann aber, weil sie sich Sorgen macht, an das Jugendamt wendet oder an eine Beratungsstelle oder an die Strafverfolgungsbehörden, dann muss ich schon davon ausgehen dürfen bitte, dass diese Fachleute dann wissen, wie sie mit einem solchen Fall umzugehen haben, und dass diese Fachleute eben so wenige blinde Flecken wie überhaupt nur menschlich möglich an den Tag legen, und dass sie sehr offen sich anschauen, ob ein Kind in einer solchen Situation gefährdet ist – ja, nein, vielleicht – , und ob als Täter oder als Täterin, Mann und/oder Frau in Frage kommen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.