Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv

Kindesmissbrauch in Bergisch Gladbach
Immer mehr Verdächtige in ganz Deutschland

Seit im Oktober Fälle von Kindesmissbrauch in Bergisch Gladbach bekannt wurden, haben die Ermittler Spuren zu weiteren möglichen Tätern in ganz Deutschland aufgedeckt. Die Kripo spricht von einer "erschreckend empathielosen Szene". Der Fall insgesamt gilt als größer als der Missbrauchsskandal von Lügde.

Von Moritz Küpper | 02.12.2019
Ein Haus in Alsdorf, NRW wird von der Polizei mit Unterstützung des THW durchsucht. Hier wurde ein Verdächtiger festgenommen und seine Wohnung durchsucht.
Massenhafter Missbrauch in NRW: Die Polizei durchsucht das Haus eines Verdächtigen in Alsdorf (picture alliance / dmp press / Dagmar Meyer-Roeger)
Es ist eine dieser typischen Wohnstraßen in Deutschland: Reihenhaus an Reihenhaus, die Autos stehen in den Einfahrten der zweigeschossigen Häuser – weiße Fassaden, zumeist dunkle Dächer –, gegenüber liegt ein Park, ein Spielplatz. Ein Ort, wie er sich wohl überall in Deutschland finden ließe.
Die Briefträgerin bringt an diesem Vormittag die Post per Fahrrad, doch an dem Haus mit der zweistelligen Hausnummer hält sie nicht, fährt – so scheint es – schnell vorbei. Es ist dieses Haus in Bergisch Gladbach, nahe Köln, in dem, im Oktober, ein Fall von Kindesmissbrauch publik wurde.
"Wer hat das nicht mitbekommen?"
Ein älterer Mann, Brille, dunkle Schiebermütze, braune Jacke, bleibt mit seinem Hund auf der Straße stehen:
"Wir haben da einen Kindergarten, wir haben da einen Kindergarten und da einen. Und wenn sie mit dem Hund spazieren gehen, kommen sie immer an den Kindergärten vorbei und wenn sie dann die kleinen Kinder sehen, dann muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, dann kommen einem die Tränen."
Täglich geht er hier – drei-, viermal – seine Runden. "Der Name Bergisch Gladbach, der ist jetzt irgendwo prägt der sich überall ein."
"Es ist deswegen irreführend, weil es jetzt in den Medien als 'Missbrauchsskandal aus Bergisch Gladbach' geschildert wird", sagt Ulrich Bremer, der leitende Oberstaatsanwalt aus Köln. Denn: Bergisch Gladbach war nur der Ausgangspunkt. "Aber von da aus führen eben ganz viele Spuren in andere Städte Deutschlands."
Opfer zwischen elf Monaten und 14 Jahren alt
In Nordrhein-Westfalen, Hessen, Berlin, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und nun auch Brandenburg, haben die Behörden – bis zum Wochenende – 31 Tatverdächtige identifiziert, 10 sitzen in Untersuchungshaft. Die Zahl der Opfer, zwischen 11 Monaten und 14 Jahre alt, liegt bei 21. Bisher.
"Es gibt Chatgruppen, wo es um Pornographie geht, die haben 1.800 Teilnehmer, alleine auf diesem Handy."
Es war dieser – eher nüchtern – vorgetragene Satz des Kölner Polizeipräsidenten Uwe Jacob zu Beginn der Ermittlungen, die schon im Oktober erahnen ließen, welche Dimension, welchen Umfang, dieser nun neue Fall hat. Unter Ermittlern, aber auch in Medien kursierten schnell Einschätzungen, wie die von Sven Schneider vom Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen: "Im Vergleich zu Lügde, wo wir ja überschaubare Anzahl an Tatverdächtigen haben, haben wir hier natürlich schon eine ganz andere Dimension."
Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung
Missbrauchsbeauftragter Rörig: "Sexuelle Gewalt ist das Grundrisiko für jede Kindheit in Deutschland"
Sexuelle Gewalt sei für tausende Mädchen und Jungen in Deutschland trauriger Alltag, sagte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, im Dlf. Die aufgedeckten Fälle stellten nur die Spitze des Eisbergs dar. Staat und Internet-Konzerne müssten mehr für den Kinderschutz tun.
Anfang des Jahres wurde der Fall Lügde publik, jener Kriminalfall, bei dem auf einem Campingplatz, wohl über ein Jahrzehnt, Kinder von drei nunmehr verurteilten Männern, schwer missbraucht wurden. Lügde rüttelte auf, Lügde wurde zu einem Schlagwort – und nun?
"Größer und anders", sagt Herbert Reul, Nordrhein-Westfalens Innenminister von der CDU. Reul hat die Verfolgung von sexuellem Kindesmissbrauch – als Reaktion auf Lügde – zu einem Schwerpunkt gemacht. Nun geht es um diese aktuellen Fälle: "Es ist, dass Missbrauch betrieben wird mit eigenen Kindern oder im eigenen Familienbereich und man dann auch noch weiter geht und austauscht mit anderen Familien. Und das ist schon eine andere Dimension. Von der Quantität und der Qualität."
Ermittlungen zentral in Köln geführt
Erstmals in der Geschichte der Polizei Nordrhein-Westfalens, werden die Ermittlungen zentral in Köln geführt, in einer sogenannten Terrorlage. Sprich: Rund um die Uhr wird ermittelt, sind rund 300 Polizisten im Einsatz. Zum Vergleich: Bei Lügde waren es maximal 80.
Für die Ermittler stellt sich nun zuerst die Frage: "Ist das ein alter Missbrauch? Auch schrecklich. Oder ist es möglicherweise noch ein Missbrauch, der aktuell noch anhält und wir dann mit Hochdruck ermitteln müssen, wo wohnt diese Person, die sich auf diesem Bild oder diesem Video als Missbraucher abbildet", sagt Dieter Schürmann, Landeskriminaldirektor im Innenministerium von Nordrhein-Westfalen, so etwas wie der oberste Kripo-Beamte. "Ja, es zeigt sich eine, selbst aus meiner Sicht, erschreckend empathielose, emotionslose Szene."
Die Ermittler stoßen auf Kinder-Dildos und -Reizwäsche: "Wir finden Hinweise auf technische Installationen in Kinderzimmern, die darauf ausgerichtet sind, diese Missbräuche aufzuzeichnen. Wir finden Gerätschaften, die zum Missbrauch mit benutzt werden und die zeigen, dass sich die Missbraucher, die Täter, ziemlich, ja, offenbar auch sehr routiniert und sehr wohlüberlegt auf diesen Missbrauch vorbereiten und ihn dann auch durchführen."

Wie lange die Kölner Polizei in diesem großen Umfang ermitteln kann, ist unklar. Denn: Anderswo wird Arbeit zurückgestellt. Momentan ermitteln die Kölner für die ganze Republik, das weiß auch Oberstaatsanwalt Bremer: "Das Internet sprengt hier auch alle Landesgrenzen und vielleicht müsste man darüber auch mal nachdenken eine zentrale Stelle zu schaffen, die bundesweit solche Verfahren an sich zieht."
Wie beispielsweise in Staatsschutz-Angelegenheiten. NRWs Innenminister Herbert Reul will das Thema Kindesmissbrauch in dieser Woche bei der Innenminister-Konferenz zur Sprache bringen.
Ulrich Bremer, der zuständige Staatsanwalt für den Missbrauchsfall in Bergisch Gladbach spricht während einer Pressekonferenz 
Ulrich Bremer, der zuständige Staatsanwalt für den Missbrauchsfall in Bergisch Gladbach, während einer Pressekonferenz (picture alliance / dpa / Marius Becker)
Mit dem Fahrrad auf der Autobahn auf Täterjagd
"Als ich das gelesen habe, war meine Rechnung mehrere hundert Opfer." Ursula Enders sitzt einem Raum in der Kölner Südstadt. In der Ecke steht Kinderspielzeug, bunte Plakate hängen an der Wand. Auf den Stühlen sitzt man tief, fast auf dem Boden – sozusagen auf Kindeshöhe. Seit mehr als vier Jahrzehnten kümmert sich Enders, die Gründerin von "Zartbitter", einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, um Kinder: "Mir ist völlig klar, dass über das, was die Polizei jetzt wahrnimmt, in den nächsten Jahren, mehrere tausend Opfer auch identifiziert haben werden bundesweit."
Wer sich länger mit Enders unterhält, bekommt einen Einblick in ihre Arbeit, lernt, wo es Versäumnisse gibt, was sich verändert – auch und gerade nach Missbrauchsfall Lügde: "Vor 20 Jahren haben wir gesagt: Die Polizei ist so hinterher, dass es wirkt, als ob die Polizei mit dem Fahrrad auf der Autobahn auf Täterjagd geht. Die Polizei hat aufgeholt, aber die Jugendhilfe sitzt noch auf dem Dreirad."
Es bräuchte Interventionsteams, die – ähnlich wie bei Terror-Anschlägen – sofort helfen könnten. Es fehle – auch in den aktuellen Fällen – an Therapie-Plätze, daran, sich an den Bedürfnissen der Opfer auszurichten: "Viele Kinder, die Opfer sexualisierte Gewalt geworden sind, die können am Anfang nicht regelmäßig die Termine wahrnehmen, die schnuppern und bleiben weg und kommen und gehen. Und die niedergelassenen Praxen, die können das nicht abrechnen, dann ist der Therapie-Platz weg."
Zudem müsse mehr in Prävention investiert werden. "Zartbitter" biete Kita- und Schulbesuche an, hat Theaterstücke im Angebot, die sensibilisieren sollen. "Ich bin im Augenblick in so weit optimistisch, weil Politik zum ersten Mal wieder zuhört."
Zuhören ist das Wichtigste
Das Wichtigste aber sei, zuzuhören – und zwar den Kindern: "Mädchen und Jungen, die über eigene sexuelle Gewalterfahrungen sprechen, machen am Anfang immer Andeutungen und erzählen alltägliche sexuelle Belästigungen. Und dann testen sie, wie die Erwachsen reagieren", berichtet Enders. Lautet die Antwort dann: Nimm das nicht so ernst, geh einfach weg - dann würden die Kinder still. "Sind es aber Erwachsene, die sagen: Hör mal, Du hast mir das erzählt, das ist überhaupt nicht okay. Dann erzählen sie weiter." Und zwar über Fälle, über Missbrauch, wie in Lügde, Bergisch Gladbach und anderswo.