Freitag, 17. Mai 2024

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King of the World. Der Aufstieg des Cassius Clay oder die Geburt des Muhammad Ali

Er besaß Charisma und er besitzt es immer noch. Denn offensichtlich verfügt Muhammad Ali, der berühmteste und größte Boxer des 20. Jahrhunderts, auch über jene Würde und Größe, die allein es ermöglichen, die charismatische Wirkung einer Person über deren körperlichen Verfall hinweg zu bewahren. "Jahre nach seinen sportlichen Siegen, nach seinen Kämpfen gegen Sonny Liston, Floyd Patterson oder Joe Frazier erlebte der dreimalige Boxweltmeister im Schwergewicht Muhammad Ali einen einzigartigen und unvergleichglichen Triumph. Es wer der Moment, als er 1996 in Atlanta das olympische Feuer entzündete. Drei Milliarden Menschen konnten am Fernseher sehen, welche Mühe es dem' von der Krankheit Parkinson gezeichneten Ex-Boxer machte, die schwere Fackel überhaupt zu halten, den Arm auszustrecken und die paar Schritte nach vorne zum Becken zu gehen, wie stark seine Hände dabei zitterten. Wer das sah, hielt den Atem an; nicht nur aus mitfühlender Angst, daß der Kranke es nicht schaffen könnte, das Feuer anzuzünden und ohne Zwischenfall die Tribüne zu verlassen, sondern auch aus Ergriffenheit über einen Moment, der unerwartet und überraschend war und vollkommen richtig erschien. Plötzlich wußte man, daß kein anderer amerikanischer Sportler es mit der Legende, der Laufbahn und dem Leben Muhammad Alis aufnehmen konnte.

Ursula März | 05.07.2000
    Von seinem ersten öffentlichen Boxkampf Anfang der 60er Jahre an präsentierte er sich als Inbild des Unkonventionellen, Unorthodoxen, Assymetrischen. Von Anfang an war an Cassius Clay alles anders als gewohnt. Er machte seine Gegner mit seiner körperlichen Leichtigkeit, mit seinem unentwegten Herumtänzeln im Uhrzeigersinn im Ring verrückt. Er war ein erstklassiger Entertainer und allein durch seine Kaspereien, seine Aussprüche, unglaublichen Angebereien und spontanen Stabreime auch bei den Menschen ein bekannter Name, die vom Boxsport und von Boxern keine Ahnung hatten. Aber Alis unterhaltsam Selbstinszenierungen waren nur Element eines Selbstentwurfs, der im Kern die kämpferische Idendität des Sportlers als schwarzer Amerikaner betraf. Dabei verstand Muhammad Ali keinen Spaß. Er verabscheute jede Form der Anpassung an die Weißen, er verabscheute auch die friedliche Politik der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King. Seine Vorstellung von Souveränität und Unabhängigkeit verkörperten vielmehr die Ideale von Black Power und sein Engagement für die "Nation of Islam", einer schwarzen, islamistischen, stark sektiererischen Gruppe, entsprang ursprünglich mindestens so sehr politischen wie religiösen Impulsen, und vermutlich auch psychologischen. Cassius Clay erfand einen Boxstil, den es vor ihm nicht gegeben hatte, er erfand einen bis dahin unbekannten Selbstdarstellungsstil und er gab sich einen neuen Namen: Aus Cassius Clay wurde Muhammad Ali. Intuitiv wußte er, daß nur die Methoden der Selbsterfindung die Möglichkeit schufen, den Antagonismust "böser Neger/braver Neger" zu überwinden, die das rassistische Denken bis dahin beherrschten und sich im Boxsport kristallisiert abbildeten. Und Cassius Clay besaß ein genaues Gespür für die Epoche, in der er antrat - für den Vorschein der Revolte. Als er Anfang der 60er Jahre nach seinem Olympiasieg ins Profilager der Schwergewichtsklasse wechselte, war dort alles noch beim Alten. Die Favoriten auf die Weltmeisterschaft hießen Floyd Patterson, er stellte den guten Neger dar, der höflich, gefühlvoll und angepaßt war, den Gegenpart übernahm Sonny Liston, einer ehemaliger Krimineller und Haftinsasse. Die sozialgeschichtliche Skizze dieser Situation ist der Ausgangspunkt des großen und umfangreichen Buches von David Remnick über Muhammad Ali. Remnick, Chefredakteur des NEW YORKER , nennt seinen Text zu Recht nicht Biographie. Denn er konzentriert sich zeitlich und thematisch auf die Phase der Unruhe und der Metamorphose in Alis Leben, verkürzt jedoch die Kindheit und die spätere Abstiegszeit des Boxers.

    "King of the World", dieses atemberaubende Buch eines Reporters, -ist in gewisser Weise viel mehr als eine Biographie. Es ist ein Epos. Es besitzt ein unerschöpfliches Reservoir an Rand- und Nebenfiguren, selbst die Berufsgeschichte eines Fotographen, der Muhammad Ali bei einem Weltmeisterschaftskampf im Ring ablichtete, hat Remnick akribisch recherchiert. Es besitzt die Figur eines Helden und einen großen historischen Konflikts. Remnick erzählt mit der schier endlosen Geduld des klassischen Epikers in weiten konzentrischen Kreisen um seinen Helden herum, den er erst in der Mitte des Buches zu seinem ersten Weltmeisterschaftskampf antreten läßt. Die wunderbare Mischung aus Dokumentarismus und Epik beherrscht wohl tatsächlich niemand so gut wie amerikanische Autoren, auch nicht die Mischung aus solider Sachlichkeit und dezenter romantischer Verehrung. Daß David Remnick seinen Helden verehrt, ist klar. Aber er ist ein.hochintelligenter Verehrer. Man merkt es daran, daß er erst gar nicht den Versuch unternimmt, das Rätsel, das jedes persönliche Charisma behält, interpretatorisch lüften zu wollen. Und man merkt es daran, daß er die Kernthese seines Buches aus dem Mund eines anderen kommen läßt. Viele Jahre, nachdem Muhammad Ali ihn besiegt hatte, sagte Floyd Patterson über ihn: "Ich war Boxen, er war Geschichte."