Kein Zweifel: Wir befinden uns in einer der alptraumhaften Geschichten von Georg Klein. Oder sollte man besser sagen: in den bedrückend labyrinthischen Erzählräumen dieses Autors, wo die herkömmlichsten Dinge und Regeln seltsam verfremdet, ja pervertiert erscheinen. Was kann das für ein unbegreifliches Team sein, das fraglos einen irrwitzig klingenden Auftrag annimmt und sich dazu in einem stillgelegten Hochhaus einsperren lässt?
Wir müssen unsere erste gemeinsame Nacht hier oben in der Cafeteria verbringen. Als es dämmrig und merklich kühler wurde, als wir begriffen, daß die Heizung nicht in Gang kommen wollte, beschlossen wir, in den unteren Stockwerken nach einem bequemeren Aufenthaltsraum zu suchen. Aber diese Entscheidung fiel zu spät. Im Haus brennt nur eine kümmerliche Notbeleuchtung: Kleine grüne Pfeile weisen auf allen Fluren einen Fluchtweg Richtung Treppenhaus. Keiner der Schalter, die wir drückten, setzte eine der Deckenlampen unter Strom. Zuletzt leuchtete uns Vita mit einer winzigen Taschenlampe durch das leer geräumte achte Stockwerk. [...] Als sie erlosch, tappten wir im Finstern und mussten den grünschimmernden Pfeilen folgen.
Wer die Bücher von Georg Klein aufschlägt, gerät in eine sonderbare Welt. Vergleichbares findet sich in der Gegenwartsliteratur so schnell kein zweites Mal. Die Schauplätze sind von absoluter Künstlichkeit und gleichwohl vollkommen konkret zusammengebaut aus durchaus geläufigen Bestandteilen. Die Figuren dagegen sind nur mit wenigen Strichen schemenhaft gezeichnet. Allenfalls als Typen, kaum jedoch als Charaktere und Persönlichkeiten treten sie in Erscheinung. Fast stehen sie dem Inventar der Schauplätze näher als empfindenden und handelnden Wesen. Menschliche Wärmegrade darf man von Georg Kleins eigentümlicher Erzählkunst nicht erwarten. Vielmehr liegt über allem eine düstere Atmosphäre des Unbehagens. Sie kann fast schon als Markenzeichen dieses Autors gelten.
Die Sonne scheint uns heißt sein dritter Roman. Darin hat er, als erfindungsreicher Szenenbildner, der er ist, den Schauplatz der Handlung extrem reduziert und so den Hermetismus, der seine Fabeln ohnehin charakterisiert, noch einmal gesteigert. Hier führt er uns nicht mehr in eine orientalische Phantasiestadt, wie in "Libidissi", er versetzt uns nicht in die heruntergekommenen Zonen der deutschen Hauptstadt, wie in "Barbar Rosa", sondern sperrt seine Protagonisten in ein verödetes Hochhaus auf dem Terrain eines sogenannten "Alten Salzhafens" an der Nordsee. Bitter alias Lemon, der als Protokollführer fungiert, beschreibt, wie das Team seine Aufgabe angehen will.
Jeder soll das Gebäude bis Mittag auf eigene Faust durchforschen. Wir wissen nicht einmal, wie groß das Artefakt ist, das Herr Cziffra ‘Sonne’ nannte, aber als Light uns beim Frühstück ein einzelgängerisches Suchen empfahl, ahmte er, bewusst oder unbewusst, die Handbewegung nach, mit der unser Chef, Sonne sagend, etwas Kuchentellergroßes in die Luft gemalt hatte. [...] Light schlug vor, jeder möge sich erst einmal ganz von seinem Instinkt leiten lassen und sich nicht auf den Rat der anderen stützen. Als es jedoch an den Aufbruch ging, zupfte er Vita verhohlen am Ärmel, und die beiden verschwanden als Paar hinter den Aufzugtüren.
Die Suche nach der Sonne ist, wie es Suchaufträge bei Klein immer sind, hauptsächlich ein Anlass für das Eintauchen in eine hybride Szenerie, in der sich realistische und phantastische, gegenwärtige, historische oder ganz entlegene Motive kreuzen. Das Hochhaus als Schauplatz hat es wahrlich in sich, trotz seiner mäßigen Fünfziger-Jahre-Dimensionen von zehn Stockwerken. Und das nicht nur weil das Team von Herrn Cziffra darin friert, hungert und sich bald in einen Überlebenskampf mit- und gegeneinander verstrickt. Das Gebäude ist geradezu ein Speicher narrativer Bedeutungen, es repräsentiert nichts Geringeres als ein vertikales Sinnbild der alten Bundesrepublik mitsamt ihrer Vor- und Nachgeschichte. Es hat seinen eigenen abgründigen Witz, wenn der Wirtschaftswunderbau im Volksmund als der "Steife Schnösel" bezeichnet wird.
Die Vorgeschichte der Republik steckt in seinem Fundament. In den Zwanziger Jahren stand auf diesen Grundmauern eines der Lichtspielhäuser von Siegfried Luchs, der die erste Kinokette in Europa betrieb. Bis dann das Tausendjährige Reich ausbrach und ein gewisser Ilja Gor, den Herr Cziffra als "genialen Scharlatan" in Erinnerung hat, seine Chancen wahrnahm.
Ilja Gor, aus dem in kalter Voraussicht rechtzeitig ein Gunter Gor geworden war, hatte Lux 11, das erste und letzte Lichtspielhaus des Salzhafens, günstig von Siegfried Luchs erworben. Dem Kinokönig hatte die Tarnkappe seines teutonischen Reckennamens nichts geholfen. Er war gezwungen gewesen, seinen gesamten Besitz binnen eines Vierteljahres zu veräußern.
Es gehört zu Georg Kleins stilistischen Kunstgriffen, allgemein gebräuchliche Begriffe zu vermeiden, zu umschreiben oder durch eigene Formulierungen zu ersetzen. So wird Bekanntes wieder verfremdet oder mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Die Konsumenten von alkoholfreiem oder Malz-Bier heißen hier "Falschbiertrinker". Die Waffen-SS verbirgt sich hinter der Bezeichnung "schwarzer Verein". Unter Umständen, wie im zitierten Fall, kann dieses Verfahren jedoch auch einen raunenden Anspielungston erzeugen, bei dem fraglich bleibt, ob dafür der Erzähler oder eine seiner Figuren einzustehen hat. Es gehört eben auch eine gewisse abgebrühte, manchmal fast degoutante Frivolität zu den virtuos gehandhabten und gleichwohl irritierenden Stilmitteln von Georg Klein.
Jedenfalls musste der jüdische Kinomagnat Siegfried Luchs seinen prachtvollen Lichtspielpalast unter dem Druck der Arisierung an Gunter Gor abgeben. Und der wiederum richtete darin ein Museum ein, in das allerdings nicht der Geist der Wissenschaft sondern eine Art von nationalsozialistischer Esoterik einzog. "Museum der Weltmirakel" wurde Haus genannt, und als der Krieg vorbei war, lagen auch die deutschen Weltwunder in Trümmern. Auf dem Fundament des Museums, das mal ein Kino war, erbaute schließlich Gabor Cziffra sein Wirtschaftswunderhochhaus. Das - historisch vielsagend - noch lange Zeit durch die Heizsysteme aus dem Dritten Reich versorgt wurde.
Alle drei Heizungen sind noch vorhanden. Der plumpe, robuste Allesfresser, der in den harten Kriegswintern das Museum frostfrei hielt, wärmte noch ein gutes Dutzend Friedensjahre zunächst mit Trümmerholz und dann erneut mit Ruhrkohle den hohen dünnhäutigen Turm. Die Ölheizung, aus Kostengründen angeschafft, war nur sparsam, solang ihr Stoff für einen Spottpreis angeliefert wurde [...] Als wir auf Gas umstiegen und das Gebäude einen hinreißend eleganten Außenkamin aus Edelstahl erhielt, paßte der schlanke dritte Brenner genau in die Lücke, die der Zufall zwischen seinen beiden Vorgängern gelassen hatte.
Immer wieder erweist sich Georg Klein als ein wahrer Hexenmeister der gewagten und dennoch sehr präzisen Bilderfindungen, des vielsagenden Klitterns und Kombinierens. Und zur Krönung taucht er alles in ein dämonisches Zwielicht, das jegliche Eindeutigkeit, sowohl die faktische als auch die ästhetische und moralische, auf höchst beklemmende Weise verschwimmen lässt.
Ganz besonders schlecht steht es in Kleins hermetischen Handlungsräumen um eines der teuersten Güter unserer Zivilgesellschaft, nämlich um die Würde des Menschen. Man kann gar nicht genug betonen, welch eminenten Grad von Verfinsterung dieser Autor in die jüngste deutsche Literatur zurückgebracht hat. Klein gilt als aparter Stilist und erfindungsreicher Baumeister skurril-beklemmender, real-phantastischer Erzählwelten. Wie sehr er sich dabei aber gleichzeitig als Abrissunternehmer humanistischer, aufklärerischer und emanzipatorischer Kategorien betätigt, das ist noch viel bemerkenswerter.
Der stets durchaus muntere, klaglose Erzählton hebt diesen Umstand eher noch mit kalter Ironie hervor, als dass er ihn mildert. Bereits der Titel des Romans entpuppt sich nach wenigen Seiten als der schiere Hohn. Denn von der Sonne, der lebensspendenden Gottheit alter und dem Fortschrittssymbol moderner Kulturen, wird das armselige Team der Sonnensucher in den kalten, düsteren Gängen des Hochhauses mitnichten beschienen. Wenn der Protokollführer Bitter alias Lemon trotzdem wiederholt den Satz Die Sonne scheint uns in seine Kladde einträgt, dann entspricht das den Demutsbeweisen, mit denen Untertanen vor ihren Herrschern, Führern und Diktatoren in die Knie zu gehen pflegen. Alle Mitglieder des Teams stehen von vornherein in Abhängigkeit vom großen Chef und Patriarchen Gabor Cziffra. Es bleibt ihnen gar nichts übrig, als selbst den absurdesten Auftrag anzunehmen. Und der Autor veranschaulicht ihre peinliche Notlage bis ins Körperliche hinein.
Er wusste, das signalisierte mir eine einzige zarte Andeutung, um die misslichen Umstände, unter denen ich mich mehr schlecht als recht durchschlug. Ja, Gabor Cziffras Offerte war so genau auf meine Zwanglage zugeschnitten, daß er mir auch kurz und bündig hätte kommen können. Selbst Grobheit und verletzender Spott hätten mich nicht dazu gebracht, sein lukratives Angebot auszuschlagen. Jedoch schienen das Rohe und das Gemeine nicht Sache des alten Herrn zu sein. Also überließ ich mich dem Singsang seiner Telefonstimme, und weil die Erläuterungen meines zukünftigen Chefs kein Ende nehemen wollten und weil mein Harndrang schon vor dem Anruf groß gewesen war, widerstand ich nur mühsam der Versuchung [...] in eine der leeren Eineinhalb-Liter-Bitter-Lemon-Flaschen zu urinieren, von denen sich immer mindestens vier oder fünf auf und vor meinem Nachtkästchen angesammelt haben.
Es gehört zu den interessantesten Merkwürdigkeiten in Kleins Texten, dass er der Gesellschaft mündiger Bürger, für die wir uns alle halten, ausgerechnet derartige Formen des Untertanentums und der Unfreiheit entgegenhält. Wobei es sich natürlich um modernisierte - um nicht zu sagen: postmodernisierte - Untertanen handelt. Bei aller Vieldeutigkeit, mit der dieser Autor sein absichtsvolles Spiel treibt, lässt sich doch behaupten: Sein zentrales Thema ist die Wiederkehr archaischer, antiquierter, reaktionärer Verhältnisse von Macht und Unterwerfung unter den Bedingungen des deregulierten Kapitalismus. Die heruntergekommenen Stadtlandschaften, in denen sich seine Figuren durchschlagen, sind reinste anti-utopische Social Fiction über den Verfall und die Verelendung des öffentlichen Raumes. Seine Figuren sind notleidend, sei es durch den Zusammenbruch ganzer Systeme oder durch Formen umfassender ökonomischer Rezession. Und auf der anderen Seite stehen die obrigkeitlichen Chefs und Machthaber, die ihre Untergebenen nach den neuesten Erkenntnissen der Business-Trainer bewirtschaften: Sie erheben nicht nur Anspruch auf die Arbeitskraft, sondern auf die gesamten sozialen und psychischen Ressourcen des flexibilisierten Menschen.
Klein ist Jahrgang 1953. Er kennt die emanzipatorischen Ideale die sich nach ’68 ausbreiteten genau und er versteht es vorzüglich, sie kaltlächelnd und mit größter Selbstverständlichkeit auf dem von ihm erzählerisch heraufbeschworenen Boden pervertierter Verhältnisse zerschellen zu lassen.
Kleins Welten sind Tretmühlen, bevölkert von untertänigen Erfolgssklaven im Dienste obskurer Systeme. Herr Cziffra, in dessen Namen phonetisch die Chiffre anklingt, ist der Exponent einer verschleierten, gleichsam chiffrierten Machtausübung, die als kapitale Verfügungsmacht immens ist und dennoch in so bieder-diskretem Gewand auftritt wie ein Aufsichtsratsvorsitzender. Wie andere Arbeitgeber auch, überwacht er sein Personal. Seine Abhörzentrale wird mit dem anheimelnden Namen "Kümmerkasten" bezeichnet.
Mit hundert starren Mikrophonen und einer Wandelwanze horcht Gabor Cziffra hinüber in die zehn Etagen.
Jetzt ist es endlich Nacht geworden. Unverfälschte Nacht, mit einer Dunkelheit, in die sich auch die jugendlich scharfen Linsen meiner Mannschaft fügen müssen. Ohne Lampe tapsen mir zwei meiner Knäblein durch die Fundamente. Kräftig platschend lässt Vita keine Sickerpfütze aus, während Kamerad Light sogar im Finstern versteht, vorausblickend zu wirken.
Von seinem Kümmerkasten aus kümmert sich "Onkelchen Gabor", wie er sich nennt, um seine Team-Mitglieder und verfolgt als Regisseur und Beobachter das irrwitzige Spiel, das er mit ihnen angezettelt hat. Entfernte Ähnlichkeiten mit Big Brother sind nicht ausgeschlossen, denn mit aktuellen und historischen Anspielungen ist bei Georg Klein immer zu rechnen. Neben zahlreichen Bezugnahmen auf das Dritte Reich finden sich etliche mitunter sehr amüsante Seitenhiebe auf allerneueste Erscheinungen des öffentlichen Lebens.
Die Amerikanisierung der Populärkultur wird glossiert. Die Reform der Bundesanstalt für Arbeit erhält die böse Würdigung als "Umwälzanlage der Aussichtslosigkeit". Die Krise der Geisteswissenschaften zeigt sich am Beispiel des Kunsthistorikers Light, der sich als Firmengeschichtsschreiber verdingen muss. Der Fall des ehemaligen Pornodarstellers Vita illustriert, wie angesichts der allgegenwärtigen Deregulierung von Arbeitsmarkt und Moral auch die Sex-Arbeit neue Akzeptanz erfährt. Sogar die Überalterung der Gesellschaft wird thematisiert, wenn anonyme Morddrohungen gegen "faltige Sackgesichter" und "Runzelparasiten" die Runde machen.
Was es mit der gesuchten Sonne auf sich hat, bleibt bis zum Schluss mehrdeutig, doch eines der in Frage kommenden Objekte hat unverkennbare Ähnlichkeiten mit der keltischen "Himmelsscheibe von Nebra", deren Fund unlängst Aufsehen erregte.
Überhaupt die Mehrdeutigkeit! Georg Klein ist ein Meister darin, Themen, Motive, Zitate oder Fakten aufzugreifen und verwandelt in seinen eigenen Erzählkontext einzubauen, mal verfremdend, mal mystifizierend. Er schreibe, so sagte er einmal, über eine Zeit des Übergangs. Dieser Übergang ist in der Mehr-, ja Vieldeutigkeit seiner Fabeln Form geworden. Es ist geradezu atemberaubend, wie viel Erzählmaterial dabei ins Spiel kommt.
Etliche Neben- und Hintergrundfiguren bereichern die Szene mit ihren prägnanten Geschichten. Dazu gehören Frau Mutschereit, die Vermieterin des bedürftigen Bitter alias Lemon oder Arno, der letzte Überlebende der deutschen U-Boot-Flotte, außerdem der Apotheker Heinlein, bei dem nicht ausgeschlossen ist, daß er Kriegsverbrechen beging. Und es treten auf der von Cziffra geförderte Anwalt Boxfeld sowie der Heimatpfleger der Stadt, der den "Steifen Schnösel" der Nachwelt erhalten möchte. Ganz zu schweigen von einem geheimnisvollen Mörder, der mit archaischer Brutalität unter der Kriegsgeneration eine späte und blutige Entnazifizierung betreibt.
Arno ist nun ein knappes Jahr hinüber. Er war das erste offizielle Opfer jenes Keulenmanns, der unserer Polizei noch immer Rätsel aufgibt. Bis jetzt vermag sie nicht einmal zu beweisen, daß es sich um einen männlichen Täter handelt. Allein die Wucht des schädelbrechenden Schlags und die Brutalität, mit der der Unbekannte nach dem tödlichen zu weiteren Hieben ausholt, lassen Untersuchungsbehörden wie Medien annehmen, der Mörder sei ein Mann.
Kleins Figuren bewegen sich in einer kalten, durch kafkaeske Obrigkeiten organisierten Welt mit harten Regeln und Gesetzen, denen keiner entkommt. Der Autor selbst jedoch beherrscht es vorzüglich seinen Fabeln mit atemberaubender Einfallskraft immer noch einen weiteren Dreh von Bedeutung und Ausdeutbarkeit hinzuzufügen. Im Sinne der Alptraumlogik, die seinem Erzählen eignet, ist das ein effizientes Steigerungsmittel.
Gelegentlich allerdings geraten sich im metaphorisch-parabolischen, zuweilen surrealen Gedränge der in schneller Folge wechselnden Szenen die Bilder und Einfälle gegenseitig in die Quere. Kleins Romane besitzen im Detail mehr Anschaulichkeit als insgesamt. Sie beginnen mit fesselnden Konstellationen, doch ihre Durchführung auf der Handlungsebene zerfasert zum Ende hin sichtlich.
Es ist ja wahrlich eine phantastische Geschichte, wenn ein avantgardistischer Kinopalast der zwanziger Jahre durch Arisierung in die Hände eines kulturpolitischen Nazi-Scharlatans gelangt und schließlich auf demselben Grundriss ein Wirtschaftswunderbau entsteht, der nun als ausgestorbenes Relikt des bundesrepublikanischen Wiederaufbaus zum anrüchigen Schauplatz neo-kapitalistischer Big-Brother-Spiele wird, bei denen zugleich noch das Thema der Vergangenheitsbewältigung breiten Raum erhält. Da kann es schon passieren, daß sich die aufeinandergestapelten Bedeutungsebenen gegenseitig erdrücken. Dadurch entgleitet dem gewiß meisterlichen Erzählaufwand seine Aussagekraft manchmal ins Ungewisse.
Klein ist ein Manierist sondergleichen und seine Handlungskonstruktion betreibt er offenbar eisern nach konzeptuellen Kriterien. Er mag nicht aufhören, bevor er nicht das Letzte herausgeholt und alle offenen Ränder zugeschrieben hat. Da dieser hochbewußte Autor sich aber wohl auch darüber im Klaren ist, gewährt er wenigstens einer seiner Figuren den Ausbruch aus der hermetischen Fabel.
Kinderchen, Kinderchen. Was mussten meine frisch geputzten Augen eben sehen: Light sprengte den Zaun und hüpfte auf seinen besternten Gummilatschen nach draußen. Glücklich, wer so, durch eine Lücke der Verhältnisse, in die Zukunft springt. Er trug die Sonne und alle Planeten um den Hals und hatte doch nichts Besseres zu tun, als unserem jungen Heimatpfleger einen Schrecken einzujagen. Die Keule hielt er ihm vor die Nase, den Schraubenzieher drückte er ihm an die Kehle und fauchte ihm ins Gesicht: "Du weißt von nichts! Sonst bist du tot!"
Doch zurück zu den Qualitäten des Romans, die weit schwerer wiegen als die Zumutungen, durch welche die Lektüre gegen Ende zur philologischen Herausforderung tendiert. Georg Kleins Roman Die Sonne scheint uns sollte man keinesfalls verpassen. Was dieser Autor wagt, ist kühn, hochintelligent und von sonderbarstem Reiz. Und immerhin kommt zum Schluss ganz unkompliziert heraus, wie es mit dem Hochhaus der alten Bundesrepublik weiter geht: Der "Steife Schnösel" wird abgerissen und der Kinopalast aus den Zwanziger Jahren erlebt seine Wiederherstellung im Zuge der Gedächtnispolitik.
Georg Klein
Die Sonne scheint uns
Rowohlt Verlag, 219 S., EUR 17,90
Wir müssen unsere erste gemeinsame Nacht hier oben in der Cafeteria verbringen. Als es dämmrig und merklich kühler wurde, als wir begriffen, daß die Heizung nicht in Gang kommen wollte, beschlossen wir, in den unteren Stockwerken nach einem bequemeren Aufenthaltsraum zu suchen. Aber diese Entscheidung fiel zu spät. Im Haus brennt nur eine kümmerliche Notbeleuchtung: Kleine grüne Pfeile weisen auf allen Fluren einen Fluchtweg Richtung Treppenhaus. Keiner der Schalter, die wir drückten, setzte eine der Deckenlampen unter Strom. Zuletzt leuchtete uns Vita mit einer winzigen Taschenlampe durch das leer geräumte achte Stockwerk. [...] Als sie erlosch, tappten wir im Finstern und mussten den grünschimmernden Pfeilen folgen.
Wer die Bücher von Georg Klein aufschlägt, gerät in eine sonderbare Welt. Vergleichbares findet sich in der Gegenwartsliteratur so schnell kein zweites Mal. Die Schauplätze sind von absoluter Künstlichkeit und gleichwohl vollkommen konkret zusammengebaut aus durchaus geläufigen Bestandteilen. Die Figuren dagegen sind nur mit wenigen Strichen schemenhaft gezeichnet. Allenfalls als Typen, kaum jedoch als Charaktere und Persönlichkeiten treten sie in Erscheinung. Fast stehen sie dem Inventar der Schauplätze näher als empfindenden und handelnden Wesen. Menschliche Wärmegrade darf man von Georg Kleins eigentümlicher Erzählkunst nicht erwarten. Vielmehr liegt über allem eine düstere Atmosphäre des Unbehagens. Sie kann fast schon als Markenzeichen dieses Autors gelten.
Die Sonne scheint uns heißt sein dritter Roman. Darin hat er, als erfindungsreicher Szenenbildner, der er ist, den Schauplatz der Handlung extrem reduziert und so den Hermetismus, der seine Fabeln ohnehin charakterisiert, noch einmal gesteigert. Hier führt er uns nicht mehr in eine orientalische Phantasiestadt, wie in "Libidissi", er versetzt uns nicht in die heruntergekommenen Zonen der deutschen Hauptstadt, wie in "Barbar Rosa", sondern sperrt seine Protagonisten in ein verödetes Hochhaus auf dem Terrain eines sogenannten "Alten Salzhafens" an der Nordsee. Bitter alias Lemon, der als Protokollführer fungiert, beschreibt, wie das Team seine Aufgabe angehen will.
Jeder soll das Gebäude bis Mittag auf eigene Faust durchforschen. Wir wissen nicht einmal, wie groß das Artefakt ist, das Herr Cziffra ‘Sonne’ nannte, aber als Light uns beim Frühstück ein einzelgängerisches Suchen empfahl, ahmte er, bewusst oder unbewusst, die Handbewegung nach, mit der unser Chef, Sonne sagend, etwas Kuchentellergroßes in die Luft gemalt hatte. [...] Light schlug vor, jeder möge sich erst einmal ganz von seinem Instinkt leiten lassen und sich nicht auf den Rat der anderen stützen. Als es jedoch an den Aufbruch ging, zupfte er Vita verhohlen am Ärmel, und die beiden verschwanden als Paar hinter den Aufzugtüren.
Die Suche nach der Sonne ist, wie es Suchaufträge bei Klein immer sind, hauptsächlich ein Anlass für das Eintauchen in eine hybride Szenerie, in der sich realistische und phantastische, gegenwärtige, historische oder ganz entlegene Motive kreuzen. Das Hochhaus als Schauplatz hat es wahrlich in sich, trotz seiner mäßigen Fünfziger-Jahre-Dimensionen von zehn Stockwerken. Und das nicht nur weil das Team von Herrn Cziffra darin friert, hungert und sich bald in einen Überlebenskampf mit- und gegeneinander verstrickt. Das Gebäude ist geradezu ein Speicher narrativer Bedeutungen, es repräsentiert nichts Geringeres als ein vertikales Sinnbild der alten Bundesrepublik mitsamt ihrer Vor- und Nachgeschichte. Es hat seinen eigenen abgründigen Witz, wenn der Wirtschaftswunderbau im Volksmund als der "Steife Schnösel" bezeichnet wird.
Die Vorgeschichte der Republik steckt in seinem Fundament. In den Zwanziger Jahren stand auf diesen Grundmauern eines der Lichtspielhäuser von Siegfried Luchs, der die erste Kinokette in Europa betrieb. Bis dann das Tausendjährige Reich ausbrach und ein gewisser Ilja Gor, den Herr Cziffra als "genialen Scharlatan" in Erinnerung hat, seine Chancen wahrnahm.
Ilja Gor, aus dem in kalter Voraussicht rechtzeitig ein Gunter Gor geworden war, hatte Lux 11, das erste und letzte Lichtspielhaus des Salzhafens, günstig von Siegfried Luchs erworben. Dem Kinokönig hatte die Tarnkappe seines teutonischen Reckennamens nichts geholfen. Er war gezwungen gewesen, seinen gesamten Besitz binnen eines Vierteljahres zu veräußern.
Es gehört zu Georg Kleins stilistischen Kunstgriffen, allgemein gebräuchliche Begriffe zu vermeiden, zu umschreiben oder durch eigene Formulierungen zu ersetzen. So wird Bekanntes wieder verfremdet oder mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Die Konsumenten von alkoholfreiem oder Malz-Bier heißen hier "Falschbiertrinker". Die Waffen-SS verbirgt sich hinter der Bezeichnung "schwarzer Verein". Unter Umständen, wie im zitierten Fall, kann dieses Verfahren jedoch auch einen raunenden Anspielungston erzeugen, bei dem fraglich bleibt, ob dafür der Erzähler oder eine seiner Figuren einzustehen hat. Es gehört eben auch eine gewisse abgebrühte, manchmal fast degoutante Frivolität zu den virtuos gehandhabten und gleichwohl irritierenden Stilmitteln von Georg Klein.
Jedenfalls musste der jüdische Kinomagnat Siegfried Luchs seinen prachtvollen Lichtspielpalast unter dem Druck der Arisierung an Gunter Gor abgeben. Und der wiederum richtete darin ein Museum ein, in das allerdings nicht der Geist der Wissenschaft sondern eine Art von nationalsozialistischer Esoterik einzog. "Museum der Weltmirakel" wurde Haus genannt, und als der Krieg vorbei war, lagen auch die deutschen Weltwunder in Trümmern. Auf dem Fundament des Museums, das mal ein Kino war, erbaute schließlich Gabor Cziffra sein Wirtschaftswunderhochhaus. Das - historisch vielsagend - noch lange Zeit durch die Heizsysteme aus dem Dritten Reich versorgt wurde.
Alle drei Heizungen sind noch vorhanden. Der plumpe, robuste Allesfresser, der in den harten Kriegswintern das Museum frostfrei hielt, wärmte noch ein gutes Dutzend Friedensjahre zunächst mit Trümmerholz und dann erneut mit Ruhrkohle den hohen dünnhäutigen Turm. Die Ölheizung, aus Kostengründen angeschafft, war nur sparsam, solang ihr Stoff für einen Spottpreis angeliefert wurde [...] Als wir auf Gas umstiegen und das Gebäude einen hinreißend eleganten Außenkamin aus Edelstahl erhielt, paßte der schlanke dritte Brenner genau in die Lücke, die der Zufall zwischen seinen beiden Vorgängern gelassen hatte.
Immer wieder erweist sich Georg Klein als ein wahrer Hexenmeister der gewagten und dennoch sehr präzisen Bilderfindungen, des vielsagenden Klitterns und Kombinierens. Und zur Krönung taucht er alles in ein dämonisches Zwielicht, das jegliche Eindeutigkeit, sowohl die faktische als auch die ästhetische und moralische, auf höchst beklemmende Weise verschwimmen lässt.
Ganz besonders schlecht steht es in Kleins hermetischen Handlungsräumen um eines der teuersten Güter unserer Zivilgesellschaft, nämlich um die Würde des Menschen. Man kann gar nicht genug betonen, welch eminenten Grad von Verfinsterung dieser Autor in die jüngste deutsche Literatur zurückgebracht hat. Klein gilt als aparter Stilist und erfindungsreicher Baumeister skurril-beklemmender, real-phantastischer Erzählwelten. Wie sehr er sich dabei aber gleichzeitig als Abrissunternehmer humanistischer, aufklärerischer und emanzipatorischer Kategorien betätigt, das ist noch viel bemerkenswerter.
Der stets durchaus muntere, klaglose Erzählton hebt diesen Umstand eher noch mit kalter Ironie hervor, als dass er ihn mildert. Bereits der Titel des Romans entpuppt sich nach wenigen Seiten als der schiere Hohn. Denn von der Sonne, der lebensspendenden Gottheit alter und dem Fortschrittssymbol moderner Kulturen, wird das armselige Team der Sonnensucher in den kalten, düsteren Gängen des Hochhauses mitnichten beschienen. Wenn der Protokollführer Bitter alias Lemon trotzdem wiederholt den Satz Die Sonne scheint uns in seine Kladde einträgt, dann entspricht das den Demutsbeweisen, mit denen Untertanen vor ihren Herrschern, Führern und Diktatoren in die Knie zu gehen pflegen. Alle Mitglieder des Teams stehen von vornherein in Abhängigkeit vom großen Chef und Patriarchen Gabor Cziffra. Es bleibt ihnen gar nichts übrig, als selbst den absurdesten Auftrag anzunehmen. Und der Autor veranschaulicht ihre peinliche Notlage bis ins Körperliche hinein.
Er wusste, das signalisierte mir eine einzige zarte Andeutung, um die misslichen Umstände, unter denen ich mich mehr schlecht als recht durchschlug. Ja, Gabor Cziffras Offerte war so genau auf meine Zwanglage zugeschnitten, daß er mir auch kurz und bündig hätte kommen können. Selbst Grobheit und verletzender Spott hätten mich nicht dazu gebracht, sein lukratives Angebot auszuschlagen. Jedoch schienen das Rohe und das Gemeine nicht Sache des alten Herrn zu sein. Also überließ ich mich dem Singsang seiner Telefonstimme, und weil die Erläuterungen meines zukünftigen Chefs kein Ende nehemen wollten und weil mein Harndrang schon vor dem Anruf groß gewesen war, widerstand ich nur mühsam der Versuchung [...] in eine der leeren Eineinhalb-Liter-Bitter-Lemon-Flaschen zu urinieren, von denen sich immer mindestens vier oder fünf auf und vor meinem Nachtkästchen angesammelt haben.
Es gehört zu den interessantesten Merkwürdigkeiten in Kleins Texten, dass er der Gesellschaft mündiger Bürger, für die wir uns alle halten, ausgerechnet derartige Formen des Untertanentums und der Unfreiheit entgegenhält. Wobei es sich natürlich um modernisierte - um nicht zu sagen: postmodernisierte - Untertanen handelt. Bei aller Vieldeutigkeit, mit der dieser Autor sein absichtsvolles Spiel treibt, lässt sich doch behaupten: Sein zentrales Thema ist die Wiederkehr archaischer, antiquierter, reaktionärer Verhältnisse von Macht und Unterwerfung unter den Bedingungen des deregulierten Kapitalismus. Die heruntergekommenen Stadtlandschaften, in denen sich seine Figuren durchschlagen, sind reinste anti-utopische Social Fiction über den Verfall und die Verelendung des öffentlichen Raumes. Seine Figuren sind notleidend, sei es durch den Zusammenbruch ganzer Systeme oder durch Formen umfassender ökonomischer Rezession. Und auf der anderen Seite stehen die obrigkeitlichen Chefs und Machthaber, die ihre Untergebenen nach den neuesten Erkenntnissen der Business-Trainer bewirtschaften: Sie erheben nicht nur Anspruch auf die Arbeitskraft, sondern auf die gesamten sozialen und psychischen Ressourcen des flexibilisierten Menschen.
Klein ist Jahrgang 1953. Er kennt die emanzipatorischen Ideale die sich nach ’68 ausbreiteten genau und er versteht es vorzüglich, sie kaltlächelnd und mit größter Selbstverständlichkeit auf dem von ihm erzählerisch heraufbeschworenen Boden pervertierter Verhältnisse zerschellen zu lassen.
Kleins Welten sind Tretmühlen, bevölkert von untertänigen Erfolgssklaven im Dienste obskurer Systeme. Herr Cziffra, in dessen Namen phonetisch die Chiffre anklingt, ist der Exponent einer verschleierten, gleichsam chiffrierten Machtausübung, die als kapitale Verfügungsmacht immens ist und dennoch in so bieder-diskretem Gewand auftritt wie ein Aufsichtsratsvorsitzender. Wie andere Arbeitgeber auch, überwacht er sein Personal. Seine Abhörzentrale wird mit dem anheimelnden Namen "Kümmerkasten" bezeichnet.
Mit hundert starren Mikrophonen und einer Wandelwanze horcht Gabor Cziffra hinüber in die zehn Etagen.
Jetzt ist es endlich Nacht geworden. Unverfälschte Nacht, mit einer Dunkelheit, in die sich auch die jugendlich scharfen Linsen meiner Mannschaft fügen müssen. Ohne Lampe tapsen mir zwei meiner Knäblein durch die Fundamente. Kräftig platschend lässt Vita keine Sickerpfütze aus, während Kamerad Light sogar im Finstern versteht, vorausblickend zu wirken.
Von seinem Kümmerkasten aus kümmert sich "Onkelchen Gabor", wie er sich nennt, um seine Team-Mitglieder und verfolgt als Regisseur und Beobachter das irrwitzige Spiel, das er mit ihnen angezettelt hat. Entfernte Ähnlichkeiten mit Big Brother sind nicht ausgeschlossen, denn mit aktuellen und historischen Anspielungen ist bei Georg Klein immer zu rechnen. Neben zahlreichen Bezugnahmen auf das Dritte Reich finden sich etliche mitunter sehr amüsante Seitenhiebe auf allerneueste Erscheinungen des öffentlichen Lebens.
Die Amerikanisierung der Populärkultur wird glossiert. Die Reform der Bundesanstalt für Arbeit erhält die böse Würdigung als "Umwälzanlage der Aussichtslosigkeit". Die Krise der Geisteswissenschaften zeigt sich am Beispiel des Kunsthistorikers Light, der sich als Firmengeschichtsschreiber verdingen muss. Der Fall des ehemaligen Pornodarstellers Vita illustriert, wie angesichts der allgegenwärtigen Deregulierung von Arbeitsmarkt und Moral auch die Sex-Arbeit neue Akzeptanz erfährt. Sogar die Überalterung der Gesellschaft wird thematisiert, wenn anonyme Morddrohungen gegen "faltige Sackgesichter" und "Runzelparasiten" die Runde machen.
Was es mit der gesuchten Sonne auf sich hat, bleibt bis zum Schluss mehrdeutig, doch eines der in Frage kommenden Objekte hat unverkennbare Ähnlichkeiten mit der keltischen "Himmelsscheibe von Nebra", deren Fund unlängst Aufsehen erregte.
Überhaupt die Mehrdeutigkeit! Georg Klein ist ein Meister darin, Themen, Motive, Zitate oder Fakten aufzugreifen und verwandelt in seinen eigenen Erzählkontext einzubauen, mal verfremdend, mal mystifizierend. Er schreibe, so sagte er einmal, über eine Zeit des Übergangs. Dieser Übergang ist in der Mehr-, ja Vieldeutigkeit seiner Fabeln Form geworden. Es ist geradezu atemberaubend, wie viel Erzählmaterial dabei ins Spiel kommt.
Etliche Neben- und Hintergrundfiguren bereichern die Szene mit ihren prägnanten Geschichten. Dazu gehören Frau Mutschereit, die Vermieterin des bedürftigen Bitter alias Lemon oder Arno, der letzte Überlebende der deutschen U-Boot-Flotte, außerdem der Apotheker Heinlein, bei dem nicht ausgeschlossen ist, daß er Kriegsverbrechen beging. Und es treten auf der von Cziffra geförderte Anwalt Boxfeld sowie der Heimatpfleger der Stadt, der den "Steifen Schnösel" der Nachwelt erhalten möchte. Ganz zu schweigen von einem geheimnisvollen Mörder, der mit archaischer Brutalität unter der Kriegsgeneration eine späte und blutige Entnazifizierung betreibt.
Arno ist nun ein knappes Jahr hinüber. Er war das erste offizielle Opfer jenes Keulenmanns, der unserer Polizei noch immer Rätsel aufgibt. Bis jetzt vermag sie nicht einmal zu beweisen, daß es sich um einen männlichen Täter handelt. Allein die Wucht des schädelbrechenden Schlags und die Brutalität, mit der der Unbekannte nach dem tödlichen zu weiteren Hieben ausholt, lassen Untersuchungsbehörden wie Medien annehmen, der Mörder sei ein Mann.
Kleins Figuren bewegen sich in einer kalten, durch kafkaeske Obrigkeiten organisierten Welt mit harten Regeln und Gesetzen, denen keiner entkommt. Der Autor selbst jedoch beherrscht es vorzüglich seinen Fabeln mit atemberaubender Einfallskraft immer noch einen weiteren Dreh von Bedeutung und Ausdeutbarkeit hinzuzufügen. Im Sinne der Alptraumlogik, die seinem Erzählen eignet, ist das ein effizientes Steigerungsmittel.
Gelegentlich allerdings geraten sich im metaphorisch-parabolischen, zuweilen surrealen Gedränge der in schneller Folge wechselnden Szenen die Bilder und Einfälle gegenseitig in die Quere. Kleins Romane besitzen im Detail mehr Anschaulichkeit als insgesamt. Sie beginnen mit fesselnden Konstellationen, doch ihre Durchführung auf der Handlungsebene zerfasert zum Ende hin sichtlich.
Es ist ja wahrlich eine phantastische Geschichte, wenn ein avantgardistischer Kinopalast der zwanziger Jahre durch Arisierung in die Hände eines kulturpolitischen Nazi-Scharlatans gelangt und schließlich auf demselben Grundriss ein Wirtschaftswunderbau entsteht, der nun als ausgestorbenes Relikt des bundesrepublikanischen Wiederaufbaus zum anrüchigen Schauplatz neo-kapitalistischer Big-Brother-Spiele wird, bei denen zugleich noch das Thema der Vergangenheitsbewältigung breiten Raum erhält. Da kann es schon passieren, daß sich die aufeinandergestapelten Bedeutungsebenen gegenseitig erdrücken. Dadurch entgleitet dem gewiß meisterlichen Erzählaufwand seine Aussagekraft manchmal ins Ungewisse.
Klein ist ein Manierist sondergleichen und seine Handlungskonstruktion betreibt er offenbar eisern nach konzeptuellen Kriterien. Er mag nicht aufhören, bevor er nicht das Letzte herausgeholt und alle offenen Ränder zugeschrieben hat. Da dieser hochbewußte Autor sich aber wohl auch darüber im Klaren ist, gewährt er wenigstens einer seiner Figuren den Ausbruch aus der hermetischen Fabel.
Kinderchen, Kinderchen. Was mussten meine frisch geputzten Augen eben sehen: Light sprengte den Zaun und hüpfte auf seinen besternten Gummilatschen nach draußen. Glücklich, wer so, durch eine Lücke der Verhältnisse, in die Zukunft springt. Er trug die Sonne und alle Planeten um den Hals und hatte doch nichts Besseres zu tun, als unserem jungen Heimatpfleger einen Schrecken einzujagen. Die Keule hielt er ihm vor die Nase, den Schraubenzieher drückte er ihm an die Kehle und fauchte ihm ins Gesicht: "Du weißt von nichts! Sonst bist du tot!"
Doch zurück zu den Qualitäten des Romans, die weit schwerer wiegen als die Zumutungen, durch welche die Lektüre gegen Ende zur philologischen Herausforderung tendiert. Georg Kleins Roman Die Sonne scheint uns sollte man keinesfalls verpassen. Was dieser Autor wagt, ist kühn, hochintelligent und von sonderbarstem Reiz. Und immerhin kommt zum Schluss ganz unkompliziert heraus, wie es mit dem Hochhaus der alten Bundesrepublik weiter geht: Der "Steife Schnösel" wird abgerissen und der Kinopalast aus den Zwanziger Jahren erlebt seine Wiederherstellung im Zuge der Gedächtnispolitik.
Georg Klein
Die Sonne scheint uns
Rowohlt Verlag, 219 S., EUR 17,90